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Vierter Monat der Überschwemmung – 5. Tag

 

Imhotep seufzte befriedigt, nachdem er seine zeremoniellen Pflichten als Totenpriester beendet hatte. Das Ritual war bis in die kleinste Einzelheit befolgt worden, denn Imhotep war ein in jeder Beziehung höchst gewissenhafter Mensch. Er hatte die Trankopfer ausgegossen, Weihrauch verbrannt und die üblichen Gaben an Nahrung und Getränken dargebracht.

Jetzt wurde er in der anstoßenden Felsenkammer, wo Hori seiner harrte, wieder der Landbesitzer und Geschäftsmann. Die beiden Männer sprachen über die herrschenden Preise und die Gewinne, die sich aus Getreide, Vieh und Holz erzielen ließen.

Nach einer halben Stunde nickte Imhotep zufrieden.

»Du hast einen sehr guten Kopf für Geschäfte, Hori.«

Hori lächelte.

»Seit vielen Jahren bin ich ja auch dein Verwalter.«

»Und ein sehr treuer dazu. Jetzt muss ich etwas anderes mit dir besprechen. Es betrifft Ipy. Er beklagt sich, dass er eine untergeordnete Stellung hat.«

»Er ist noch sehr jung.«

»Aber er zeigt große Geschicklichkeit. Er findet, dass seine Brüder nicht immer anständig zu ihm sind. Sobek ist rau und anmaßend, und Yahmose reizt ihn mit seiner Vorsicht und Bedachtsamkeit. Ipy ist stolz. Er nimmt nicht gern Befehle entgegen. Außerdem ist er der Meinung, dass nur ich, sein Vater, ihm zu befehlen habe.«

»Darf ich offen sein, Imhotep?«

»Gewiss, mein guter Hori.«

»Während deiner Abwesenheit sollte jemand die Leitung der Geschäfte in Händen haben.«

»Ich vertraue dir und Yahmose.«

»Ja, wir handeln für dich, aber das genügt nicht. Warum ernennst du nicht einen deiner Söhne zu deinem Teilhaber, so dass er gesetzlich zu Entscheidungen berechtigt ist?«

Stirnrunzelnd schritt Imhotep auf und ab.

»Welchen meiner Söhne soll ich ernennen? Sobek ist eine Herrschernatur, aber er ist wild und eigensinnig – ich könnte ihm nicht vertrauen. Es fehlt ihm die gute Gesinnung.«

»Ich dachte an Yahmose«, entgegnete Hori. »Er ist dein ältester Sohn. Er ist sanft von Gemüt. Er ist dir ergeben.«

»Ja, er hat eine gute Gesinnung, aber er ist zu scheu, zu nachgiebig. Wenn Ipy etwas älter wäre…«

Hori fiel schnell ein: »Es ist gefährlich, einem zu jungen Menschen große Macht zu verleihen.«

»Wahr, wahr. Nun, Hori, ich will darüber nachdenken. Yahmose ist gewiss ein guter, folgsamer Sohn…«

Hori beharrte sanft, aber drängend: »Es wäre, glaube ich, klug gehandelt. Denn es ist auch gefährlich, einem Menschen die Macht zu spät zu verleihen.«

Imhotep seufzte.

»Es ist eine schwere Aufgabe, über eine Familie zu herrschen. Vor allem die Frauen lassen sich nicht leicht lenken. Aber ich habe ihnen nachdrücklich erklärt, dass sie Nofret in gebührender Weise behandeln müssen. Ich glaube…«

Er brach ab. Ein Sklave keuchte den schmalen Pfad herauf.

»Was gibt’s?«

»Herr, ein Boot ist gekommen. Ein Schreiber, der sich Kameni nennt, bringt Botschaft aus Memphis.«

»Noch mehr Unannehmlichkeiten!«, rief Imhotep. »So gewiss Re über den Himmel fährt, so gewiss bedeutet dies noch mehr Ärger! Wenn ich die Dinge nicht selbst in der Hand habe, läuft alles verkehrt.«

Imhotep eilte davon.

Hori saß reglos da und schaute ihm nach; sein Gesicht trug einen sorgenvollen Ausdruck.

Renisenb war ziellos am Ufer des Nils entlanggewandert. Mit einem Mal vernahm sie laute Rufe und sah Menschen zum Landungssteg rennen. Sie lief ebenfalls hin. In dem Boot, das soeben landete, stand ein junger Mann, und einen Augenblick lang, als sie ihn gegen den hellen Himmel gewahrte, setzte ihr Herz aus. Es ist Khay, dachte sie. Khay ist aus der Unterwelt zurückgekehrt.

Doch dann erkannte sie, dass ihre Einbildungskraft ihr einen Streich gespielt hatte. Dieser Mann war jünger als Khay, hatte leichte, anmutige Bewegungen und ein fröhliches Antlitz. Er komme von Imhoteps Besitz im Norden, erklärte er. Er sei Schreiber und heiße Kameni.

Ein Sklave wurde fortgeschickt, Imhotep zu holen, und Kameni wurde ins Haus geführt, wo man ihm Speise und Trank vorsetzte. Kurz darauf traf Imhotep ein, und es gab eine lange Unterredung zwischen den Männern.

Wie stets kamen die Neuigkeiten durch Henet ins Frauenquartier. Renisenb wunderte sich oft, wie Henet es fertig brachte, immer alles zu wissen.

Kameni war, wie sich herausstellte, ein junger Schreiber in Imhoteps Diensten, der Sohn eines seiner Vettern. Kameni hatte gewisse Betrügereien aufgedeckt, gefälschte Abrechnungen, wie es schien, und da die Angelegenheit sich beträchtlich verzweigte und einige Verwalter des Besitztums darin verstrickt waren, hatte er es für das beste gehalten, nach dem Süden zu reisen und persönlich Bericht zu erstatten.

Die Folge war, dass Imhotep eilige Reisevorbereitungen traf. Eigentlich hatte er noch zwei Monate bleiben wollen, aber je früher er an Ort und Stelle eintraf, umso besser.

Der ganze Haushalt wurde zusammengerufen, und unzählige Anweisungen wurden erteilt. Yahmose sollte dies und das tun. Sobek sollte über irgendetwas strengstes Stillschweigen bewahren. Renisenb kam diese ganze Betriebsamkeit sehr vertraut vor. Yahmose lauschte aufmerksam, Sobek finster. Hori zeigte sich wie gewöhnlich ruhig und tüchtig. Ipys Forderungen wurden mit mehr Schärfe als sonst zurückgewiesen.

»Du bist zu jung, um besondere Freiheiten zu haben. Gehorche Yahmose. Er kennt meine Wünsche und Befehle.« Imhotep legte seinem ältesten Sohn die Hand auf die Schulter. »Ich verlasse mich auf dich, Yahmose. Wenn ich zurückkehre, werden wir wieder über deine Teilhaberschaft sprechen.«

Yahmose errötete vor Freude.

Imhotep fuhr fort: »Sieh zu, dass während meiner Abwesenheit alles gut geht. Ich vertraue dir mein Weib an; es soll ihr alle gebührende Achtung entgegengebracht werden. An dir ist es, über die Frauen zu herrschen. Auch wünsche ich, dass Henet freundlich behandelt wird. Sie hat mir stets treu gedient, vergiss das nicht.«

»Alles soll geschehen, wie du es wünschst«, antwortete Yahmose. »Aber Henet richtet mit ihrer Zunge manchmal Unheil an.«

»Unsinn! Das tun alle Weiber, Henet nicht mehr als andere. Was Kameni betrifft, so wird er hier bleiben. Wir können noch einen Schreiber brauchen; er soll Hori helfen. Und was das Land betrifft, das wir dieser Yaii verpachtet haben…«

Imhotep erging sich in Einzelheiten.

Als schließlich alle Vorbereitungen getroffen waren, wurde Imhotep von plötzlichen Zweifeln ergriffen. Er zog Nofret beiseite und fragte besorgt: »Nofret, bist du’s zufrieden hier zu bleiben? Wäre es nicht doch besser, du kämst mit mir?«

Nofret schüttelte lächelnd den Kopf.

»Du wirst nicht lange fort sein.«

»Drei Monate, vielleicht vier.«

»Siehst du, das ist nicht lang. Ich bin gern hier.«

»Ich werde meine Söhne zur Verantwortung ziehen, wenn du die geringste. Klage vorzubringen hast!«

»Wem könnte ich wirklich Vertrauen schenken?« fragte Nofret langsam. »Es müsste jemand sein, der nicht zur Familie gehört.«

»Hori, der gute Hori ist in allem meine rechte Hand, und er hat Verstand.«

»Er und Yahmose sind wie Brüder«, entgegnete Nofret.

»Dann Kameni. Er ist ebenfalls Schreiber. Ich werde ihm sagen, dass er sich dir zur Verfügung stellen soll. Wenn du dich über irgendetwas zu beklagen hast, wird er deine Worte niederschreiben und mir deine Beschwerde zustellen.«

Nofret nickte anerkennend.

»Das ist ein guter Gedanke. Kameni stammt aus dem Norden. Er kennt meinen Vater. Er wird sich nicht durch Familienrücksichten beeinflussen lassen.«

»Da ist auch noch Henet.«

»Ja, da ist Henet«, wiederholte Nofret nachdenklich. »Wie wäre es, wenn du in meiner Gegenwart jetzt mit ihr sprechen würdest?«

Es wurde nach Henet geschickt, die mit ihrem üblichen Eifer herbeieilte. Sie klagte laut über Imhoteps Abreise.

Imhotep fiel ihr schroff ins Wort: »Ja, ja, meine gute Henet, aber es muss sein. Ich kann selten ausruhen, ich muss unablässig für meine Familie tätig sein, obwohl sie mir wenig Dank dafür weiß. Ich habe ernsthaft mit dir zu reden. Weil ich mich auf deine Ergebenheit verlassen kann, vertraue ich dir Nofret an. Behüte sie gut – sie ist mir sehr teuer.«

»Wer dir teuer ist, Herr, der ist auch mir teuer«, versicherte Henet nachdrücklich. Sie wandte sich Nofret zu, die sie unter gesenkten Lidern hervor betrachtete. »Du bist allzu schön, Nofret, das ist das Schlimme. Darum sind die andern neidisch. Aber ich will für dich sorgen; ich werde dir alles hinterbringen, was sie tun und sagen. Verlass dich auf mich!«

Ein Lächeln umspielte Nofrets Lippen.

»Ich verstehe dich, Henet. Ich glaube, ich kann mich auf dich verlassen.«

Imhotep räusperte sich.

»Dann wäre also alles geregelt. Organisation war von jeher meine Stärke.«

Ein trockenes Lachen ertönte, und Imhotep fuhr mit einem Ruck herum. Seine Mutter stand in der Tür. Sie stützte sich auf einen Stock und sah ausgetrockneter und boshafter aus denn je.

»Was für einen wunderbaren Sohn ich doch habe!«, bemerkte sie.

»Ich darf mich nicht aufhalten… muss Hori noch Anweisungen geben…«

Ohne seine Mutter anzusehen, eilte Imhotep hinaus.

Esa machte Henet gebieterisch ein Zeichen, worauf diese folgsam aus dem Zimmer glitt.

Nofret hatte sich erhoben. Sie und Esa musterten sich.

»Mein Sohn lässt dich also hier zurück. Du würdest besser mit ihm gehen, Nofret.«

»Er wünscht, dass ich hier bleibe«, antwortete Nofret mit sanfter, unterwürfiger Stimme.

Esa lachte schrill.

»Es wäre besser, wenn du fortgingst! Und warum willst du nicht fort? Ich verstehe dich nicht. Was bietet sich dir hier? Du hast in den Städten gelebt, hast vielleicht viele Reisen gemacht. Warum wählst du die Langeweile unter Menschen, die – ich spreche offen – dich nicht lieben?«

»Du hast also etwas gegen mich?«

Esa schüttelte den Kopf.

»Nein, ich habe nichts gegen dich. Ich bin alt, und wenn ich auch keine guten Augen mehr habe, so kann ich doch noch Schönheit sehen und mich daran erfreuen. Du bist schön, Nofret, und dein Anblick erfreut meine alten Augen. Um deiner Schönheit willen wünsche ich dir Gutes. Deshalb warne ich dich. Zieh mit meinem Sohn in den Norden.«

Nofret wiederholte: »Er wünscht, dass ich hier bleibe.« In ihrem unterwürfigen Ton schwang jetzt unverkennbar Spott.

Esa erwiderte scharf: »Du willst hier bleiben. Was für einen Zweck verfolgst du damit? Nun gut, handle, wie du magst. Aber nimm dich in Acht. Sei nicht herausfordernd, und vertraue niemand.«

Unvermittelt drehte sie sich um und ging hinaus.

Nofret stand ganz still. Langsam verzogen sich ihre Lippen zu einem katzenhaften Lächeln.