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Zweiter Monat des Sommers – 10. Tag

 

Imhotep saß zusammengesunken da. Er sah viel älter aus, ein gebrochener, betagter Mann. Sein Antlitz trug einen bemitleidenswert verwirrten Ausdruck.

Henet brachte ihm Speisen und redete ihm gütlich zu, etwas zu essen.

»Ja, ja, Imhotep, du musst dir deine Kraft erhalten.«

»Wozu? Was ist Kraft? Ipy war kräftig in seiner Jugend und Schönheit, und jetzt liegt er im Laugenbad… mein Sohn, mein innigst geliebter Sohn… der letzte meiner Söhne.«

»Nein, nein, du hast ja noch deinen guten Yahmose.«

»Wie lange noch? Nein, auch er ist verdammt. Wir sind alle verdammt. Was für ein Übel ist über uns gekommen? Wie hätte ich wissen sollen, dass solche Dinge geschehen würden, als ich mir wieder ein Weib nahm? Das ist recht und billig, ist nach den menschlichen und göttlichen Gesetzen erlaubt. Warum musste uns trotzdem all dies widerfahren? Oder ist es Ashayet, die sich an mir rächt? Verzeiht sie mir etwa nicht? Auf meine Bittschrift hat sie entschieden nicht geantwortet. Das Böse setzt sich fort.«

»Nein, nein, sag das nicht, Imhotep. Es ist erst kurze Zeit vergangen, seit du die Schale in der Opferkammer niedergesetzt hast. Wenn man bedenkt, wie lange es dauert, bis das Gesetz sich in dieser Welt auswirkt… Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit, in dieser Welt wie in der nächsten, und was lange währt, wird endlich gut.«

Imhotep schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Du darfst auch nicht vergessen, dass Ipy nicht Ashayets Sohn war«, fuhr Henet fort, »er wurde dir von deiner Schwester und Gattin Ankh geschenkt. Warum sollte Ashayet sich also seiner annehmen? Mit Yahmose wird es anders sein – er wird genesen, weil Ashayet dafür sorgen wird.«

»Ich muss zugeben, dass deine Worte mich trösten, Henet. Was du sagst, hat Sinn. Wahrhaftig, Yahmose erholt sich mit jedem Tag. Er ist ein guter, treuer Sohn, aber wehe über meinen Ipy! So klug, so schön!« Imhotep stöhnte.

»Ach! Ach!«, klagte Henet mitfühlend.

»Dieses verfluchte Weib mit seiner Schönheit! Hätten meine Augen sie doch nie erblickt!«

»Ja, wirklich, teurer Herr. Eine Tochter Seths, fürwahr. Eine Meisterin der bösen Magie, daran ist nicht zu zweifeln.«

Ein Stock stieß auf den Boden, und Esa kam in die Halle gehumpelt. Sie schnaubte verächtlich.

»Besitzt denn niemand in diesem Haus Vernunft? Hast du nichts anderes zu tun, als eine unglückliche Frau zu schmähen, die sich zu Lebzeiten gegen das dumme Betragen der dummen Weiber deiner dummen Söhne wehrte und etwas Bosheit entwickelte?«

»Etwas Bosheit nennst du das, Esa? Wenn mir zwei Söhne gestorben sind und der dritte dahinsiecht! Oh, dass meine Mutter so zu mir spricht!«

»Das scheint notwendig zu sein, da du die Tatsachen nicht erkennst. Lass endlich ab von diesem dummen Aberglauben, dass der Geist eines toten Weibes all dieses Übel bewirkt. Es war die Hand eines Lebenden, die Ipys Kopf unter Wasser drückte, so dass er ertrank, und die Hand eines Lebenden hat den Wein vergiftet, den Yahmose und Sobek getrunken haben. Du hast einen Feind, Imhotep, ja, einen Feind hier im Hause. Soviel ist klar, denn seit Renisenb auf Horis Rat die Zubereitung von Yahmoses Speisen überwacht und sie ihm selber bringt, seither, wohlgemerkt, erholt Yahmose sich und wird mit jedem Tag gesünder. Sei kein Tor mehr, Imhotep, hör auf, zu klagen und dir die Haare zu raufen, hör auf mit dem nutzlosen Gejammer, in dem Henet dich auch noch unterstützt…«

»O Esa, wie du mich missverstehst!«

»In dem Henet dich so tatkräftig unterstützt, sage ich, entweder weil sie auch eine Törin ist oder aus irgendeinem anderen Grunde…«

»Möge Re dir deine Unfreundlichkeit gegen ein armes, einsames Weib verzeihen!«

Esa sprach weiter, wobei sie ihren Stock nachdrücklich schüttelte: »Nimm dich zusammen, Imhotep, und denke nach. Wir müssen handeln, mein Sohn, sonst gibt es noch mehr Tote.«

»Ein lebender Feind? Ein Feind in diesem Hause? Glaubst du das wirklich, Esa?«

»Natürlich glaube ich das, weil es die einzige Erklärung ist, die Sinn gibt.«

»Aber dann wären wir ja alle in Gefahr?«

»Wir sind auch in Gefahr. Nicht Zauberkräfte und Geisterhände bedrohen uns, sondern eine lebendige Hand, die Wein vergiftet und einen nachts aus dem Dorf heimkehrenden Knaben in den See stößt!«

Imhotep erwiderte gedankenvoll: »Um das zu tun, muss man sehr stark sein.«

»Nicht einmal. Ipy hatte im Dorf viel Bier getrunken. Er war in überschwänglicher, prahlerischer Stimmung. Vielleicht fühlte er sich auf den Füßen nicht sicher, und da er sich vor der Person, die ihn lockte, nicht fürchtete, beugte er sich freiwillig über das Wasser, um sein Gesicht im See zu kühlen. Dann wäre nicht mehr viel Kraft nötig gewesen.«

»Worauf willst du hinaus, Esa? Dass eine Frau es getan hat? Unmöglich! Ach, all das ist unmöglich! Es kann in diesem Haus kein solcher Feind sein, ohne dass ich es wüsste!«

»Es gibt eine Bosheit des Herzens, Imhotep, die sich äußerlich nicht zeigt.«

»Du meinst, dass einer der Diener oder Sklaven…«

»Kein Diener und kein Sklave, Imhotep.«

»Einer von uns? Oder sonst Hori oder Kameni? Aber Hori gehört zur Familie; er hat sich als treu und vertrauenswürdig erwiesen. Und Kameni… gewiss, er ist ein Fremder, aber er ist unseres Blutes und hat sich sehr diensteifrig gezeigt. Außerdem kam er erst heute Morgen zu mir und drängte mich, meine Einwilligung zu seiner Heirat mit Renisenb zu geben.«

»Oh, wirklich?« rief Esa gespannt. »Und was hast du gesagt?«

»Was hätte ich sagen können?«, gab Imhotep ärgerlich zurück. »Ich sagte natürlich, dass augenblicklich nicht die richtige Zeit sei, um von Heirat zu reden.«

»Und was meinte er dazu?«

»Er erklärte, seiner Meinung nach sei jetzt genau die richtige Zeit. Er meinte, Renisenb sei in diesem Hause nicht sicher.«

»Das frage ich mich nun auch«, versetzte Esa. »Hori und ich dachten, sie wäre hier sicher. Aber jetzt…«

»Kann man eine Hochzeit feiern, wenn Begräbniszeremonien stattfinden?«, fuhr Imhotep erregt fort. »Das schickt sich nicht.«

»Die Konvention spielt jetzt keine Rolle. Zumal die Einbalsamierer sich dauernd bei uns aufhalten. Opi und Montu haben gute Zeiten.«

»Sie haben ihre Forderungen um zehn Prozent erhöht!«, rief Imhotep, den diese Frage vorübergehend ablenkte.

»Sie sollten uns in Anbetracht der vielen Arbeit, die sie durch uns erhalten, einen Nachlass gewähren.« Esa lächelte grimmig über ihren Scherz.

Imhotep sah sie entsetzt an.

»Wie kannst du das nur als Spaß auffassen!«

»Das ganze Leben ist ein Spaß, Imhotep, und der Tod lacht zuletzt. Wird nicht bei jedem Fest gerufen: Eßt, trinkt und seid fröhlich, denn morgen werdet ihr sterben? Nun, das trifft auf uns zu; die Frage ist nur, wer morgen sterben wird.«

»Was du sagst, ist fürchterlich – fürchterlich! Was soll ich nur tun?«

»Trau niemandem«, sagte Esa. »Das ist die Hauptsache.« Sie wiederholte nachdrücklich: »Trau niemandem.«

Henet begann zu schluchzen.

»Warum blickst du mich an? Mir darf man gewiss trauen, das habe ich in all diesen Jahren bewiesen. Hör nicht auf sie, Imhotep!«

»Aber, aber, meine gute Henet, natürlich vertraue ich dir. Dein treues, ergebenes Herz kenne ich gut.«

»Du kennst keinen Menschen«, fiel Esa ein. »Niemand kennt einen andern wirklich. Das eben ist unsere Gefahr.«

»Du hast mich beschuldigt«, jammerte Henet.

»Ich beschuldige niemanden. Ich weiß nichts, und ich kann nichts beweisen – ich kann nur verdächtigen.«

Imhotep hob den Kopf.

»Wen verdächtigst du?«

Esa antwortete langsam: »Drei Menschen habe ich verdächtigt. Ich will ehrlich sein. Zuerst richtete mein Verdacht sich gegen Ipy, aber Ipy ist tot – dieser Verdacht war also falsch. Dann habe ich eine andere Person verdächtigt, aber am Tag von Ipys Tod ist mir ein dritter Gedanke gekommen…«

Sie machte eine Pause. Dann fragte sie: »Sind Hori und Kameni im Haus?«

»Ja«, erwiderte Imhotep.

»Lass sie herkommen – ja, und auch Renisenb aus der Küche. Und Kait und Yahmose. Ich habe etwas zu sagen, das alle hören sollen.«

 

Esa betrachtete die versammelten Familienmitglieder – eines nach dem anderen. Sie begegnete Yahmoses ernstem und freundlichem Blick, Kamenis breitem Lächeln, der erschrockenen Frage in Renisenbs Augen, Kaits friedlichem Ausdruck, der nicht die geringste Neugier verriet, der ruhigen Undurchdringlichkeit auf Horis nachdenklichem Gesicht, Imhoteps gereizter Furcht, die sich in einem Zucken der Wangenmuskeln kundtat, und der gierigen Neugier, ja, dem boshaften Vergnügen in Henets Miene.

Sie dachte: Ihre Gesichter sagen nichts. Sie zeigen nur äußerliche Bewegung. Wenn ich mich aber nicht irre, muss es etwas Verräterisches geben.

Laut begann sie. »Ich habe euch allen etwas mitzuteilen, doch zuerst will ich nur zu Henet sprechen, hier vor euch allen.«

Henets Ausdruck änderte sich; Neugier und Vergnügen wichen einem jähen Schrecken. Ihre Stimme erhob sich in schrillem Einspruch.

»Du verdächtigst mich, Esa, ich weiß es! Du willst Anklage erheben gegen mich, und wie soll ich, ein schwaches Weib, mich verteidigen? Ich werde ungehört verurteilt werden!«

»Nicht ungehört«, entgegnete Esa spöttisch, und sie sah Hori lächeln.

Immer erregter fuhr Henet fort: »Ich habe nichts getan, ich bin unschuldig… Imhotep, mein teurer Herr, rette mich!«

Sie warf sich nieder und umklammerte Imhoteps Beine.

Imhotep murmelte verlegen, während er Henet den Kopf tätschelte: »Wirklich, Esa, das ist ungerecht.«

Esa schnitt ihm die Rede kurz ab: »Ich habe keine Anklage erhoben. Ohne Beweise klage ich niemanden an. Henet soll hier nur die Bedeutung von manchen Dingen erklären, die sie geäußert hat.«

»Ich habe nichts gesagt, gar nichts…«

»O doch, ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Du hast gesagt, du wüsstest etwas von Hori. Was ist es also?«

Hori machte ein leicht erstauntes Gesicht.

»Ja, Henet, lass uns hören, was du von mir weißt.«

Henet hockte sich auf den Boden und wischte sich die Augen. Sie sah finster und trotzig aus.

»Ich weiß nichts. Was sollte ich denn wissen?«

»Das möchten wir eben erfahren«, gab Hori zurück.

Henet zuckte die Schultern.

»Ich habe da nur so dahergeredet. Ich meinte gar nichts.«

Esa mischte sich wieder ein: »Du sagtest, dass wir alle dich verachten, dass du aber mehr wüsstest über die Dinge, die hier im Hause vor sich gehen, als viele glaubten. Und dann sagtest du, Hori hätte an dir vorbeigeschaut, als ob du überhaupt nicht vorhanden wärst, als ob er hinter dir etwas erblickt hätte.«

»So schaut er immer«, erwiderte Henet finster. »Ich könnte ein Insekt sein, so sieht er mich an.«

»Mir sind deine Worte im Gedächtnis geblieben«, fuhr Esa fort. »Und dann sprachst du von Satipy, ja, von Satipy und ihrer Klugheit, und du sagtest: Und wo ist Satipy jetzt?« Esa blickte ringsum. »Hat das einen Sinn für euch? Denkt an Satipy, die tot ist… und bedenkt, dass man einen Menschen ansehen soll, nicht etwas, das nicht da ist.«

Einen Augenblick herrschte tödliches Schweigen, dann stieß Henet einen jähen Entsetzensschrei aus. Zusammenhanglos rief sie: »Ich habe es nicht getan! Rette mich, Herr! Lass es nicht zu… Ich habe nichts gesagt, gar nichts!«

Imhoteps aufgespeicherter Zorn machte sich Luft: »Das ist unverzeihlich! Ich will nicht, dass dieses arme Weib beschuldigt und geängstigt wird. Was hast du gegen sie, Esa? Nach deinen eigenen Worten liegt nichts gegen sie vor.«

Yahmose stimmte wie üblich zu: »Mein Vater hat Recht. Wenn du wirklich eine Anklage gegen Henet vorzubringen hast, so nenne sie.«

»Ich klage sie nicht an«, sagte Esa langsam. Sie stützte sich auf ihren Stock. Ihre Gestalt schien zusammengesunken zu sein.

Yahmose wandte sich mit Würde an Henet: »Esa beschuldigt dich nicht, das Böse, das uns widerfahren ist, verursacht zu haben, aber wenn ich sie recht verstanden habe, glaubt sie, dass du etwas weißt, das du für dich behältst. Stimmt das, so sprich. Sprich hier vor uns allen. Was weißt du?«

Henet schüttelte den Kopf: »Nichts.«

»Nimm deine Worte in Acht, Henet. Wissen ist gefährlich.«

»Ich weiß nichts, ich schwöre es bei den Göttern.«

Henet zitterte. Ihre Stimme hatte nicht mehr den jammernden Ton, sondern klang ehrfurchtsvoll und aufrichtig.

Esa stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie sank noch mehr zusammen und murmelte: »Helft mir in mein Zimmer.«

Hori und Renisenb eilten zu ihr.

Esa sagte: »Nicht du, Renisenb. Hori soll mir helfen.«

Sie stützte sich auf ihn, während er sie hinausführte. Als sie zu ihm aufblickte, sah sie, dass seine Miene ernst war.

»Nun, Hori?«

»Du warst unklug, Esa, sehr unklug.«

»Ich musste es wissen.«

»Ja, aber du hast ein großes Wagnis auf dich genommen.«

»Ich verstehe. Du glaubst also dasselbe?«

»Schon seit einiger Zeit, aber ich habe keinen Beweis.«

»Es genügt, dass ich Bescheid weiß.«

»Nimm dich in Acht, Esa. Von jetzt an bist du in Gefahr.«

»Wir müssen schnell handeln.«

»Gewiss, doch was können wir tun? Wir sollten einen Beweis haben.«

»Ich weiß Bescheid. Wenn meine Augen auch nicht mehr gut sind, so haben sie doch gesehen, dass meine Worte einem bestimmten Menschen Eindruck gemacht haben.«