KAPITEL 90

Es regnete in Strömen, als Dr. Elizabeth Sinskey mit Langdon, Brüder und ihrem verwirrten Führer Mirsat aus der Hagia Sophia stürmte.

Folgt ihm tief in den Versunk’nen Palast, dachte Sinskey.

Um zur antiken Zisterne der Stadt zu gelangen, dem Yerebatan Sarayi, mussten sie zur Blauen Moschee zurück und dann ein Stück nach Norden.

Mirsat ging voraus.

Notgedrungen hatte Sinskey ihn darüber aufgeklärt, wer sie waren und dass sie dringend in den Versunkenen Palast mussten, um eine Katastrophe zu verhindern.

»Hier entlang!«, rief Mirsat und führte sie durch den dunklen Park. Die gewaltige Hagia Sophia lag nun hinter ihnen, und vor ihnen funkelten die Märchentürme der Blauen Moschee.

Agent Brüder rannte neben Sinskey her und brüllte in sein Telefon. Er brachte das SRS-Team auf den neuesten Stand und befahl seinen Männern, sich mit ihnen am Eingang zur Zisterne zu treffen. »Zobrist hat es wahrscheinlich auf die Wasserversorgung der Stadt abgesehen«, fuhr Brüder fort. »Ich brauche einen Plan sämtlicher Zu- und Abflüsse der Zisterne. Wir müssen sie vollständig isolieren. Wir errichten physische und chemische Barrieren sowie Vakuum …«

»Moment«, rief Mirsat. »Ich glaube, Sie haben mich missverstanden. Die Zisterne ist nicht die Hauptwasserversorgung der Stadt. Nicht mehr.«

Brüder nahm das Handy vom Ohr und funkelte ihn an. »Was?«

»Früher hat die Stadt ihr Wasser aus der Zisterne bezogen«, stellte Mirsat klar. »Heute nicht mehr. Wir sind schon ein wenig moderner geworden.«

Brüder blieb unter einem Baum stehen, und die anderen taten es ihm nach.

»Mirsat«, sagte Sinskey. »Sind Sie wirklich sicher, dass niemand mehr das Wasser aus der Zisterne trinkt?«

»Natürlich«, antwortete Mirsat. »Das Wasser ist einfach da … vermutlich versickert es in der Erde.«

Sinskey, Langdon und Brüder wechselten verunsicherte Blicke. Die Direktorin der WHO wusste nicht, ob sie erleichtert oder besorgt sein sollte. Wenn niemand in Kontakt mit dem Wasser kommt, warum wollte Zobrist es dann kontaminieren?

»Als wir vor Jahrzehnten unsere Wasserversorgung modernisiert haben«, erklärte Mirsat, »wurde die Zisterne nicht länger gebraucht.« Er zuckte mit den Schultern. »Heutzutage dient sie nur noch als Touristenattraktion.«

Eine Touristenattraktion? Sinskey fuhr zu Mirsat herum. »Moment mal … man kann dort runter? In die Zisterne?«

»Natürlich«, bestätigte Mirsat. »Sie hat mehrere tausend Besucher pro Tag. Die Kaverne ist atemberaubend. Laufstege führen über das Wasser, und es gibt sogar ein kleines Café. Sie wird allerdings nur zum Teil belüftet, deshalb ist es da unten stickig und feucht. Trotzdem ist sie sehr beliebt.«

Sinskey sah Brüder an. Offenbar hatten sie das gleiche Bild vor Augen: eine dunkle, feuchte Kaverne voll mit abgestandenem Wasser, in dem ein Krankheitserreger gedieh. Und als wäre das noch nicht Alptraum genug, liefen den ganzen Tag lang Touristen auf Stegen über dieses Wasser.

»Er hat ein Bio-Aerosol erschaffen«, sagte Brüder.

Sinskey nickte und ließ die Schultern hängen.

»Und das heißt?«, verlangte Langdon zu wissen.

»Das heißt«, erwiderte Brüder, »dass es durch die Luft übertragen werden kann.«

Langdon schwieg, und Sinskey wurde bewusst, dass er erst jetzt das potenzielle Ausmaß der Krise begriff.

Sinskey hatte die ganze Zeit über mit einem Pathogen gerechnet, das sich auch durch die Luft verbreiten konnte. Als sie gehört hatte, dass die Zisterne die Stadt mit Wasser versorgte, war in ihr für einen kurzen Moment die Hoffnung aufgekeimt, das Pathogen könnte womöglich ans Wasser gebunden sein. Im Wasser lebende Bakterien waren zwar robust und wetterresistent, aber sie verbreiteten sich auch nur langsam …

… im Gegensatz zu Pathogenen, die durch die Luft übertragen wurden.

Die verbreiten sich schnell.

Sehr schnell.

»Wenn wirklich die Luft der Übertragungsweg ist«, sagte Brüder, »dann handelt es sich vermutlich um ein Virus.«

Ja, ein Virus, stimmte Sinskey ihm in Gedanken zu. Einen effizienteren Erregertypus hätte Zobrist sich nicht aussuchen können.

Ein derartiges Virus unter Wasser freizusetzen, wirkte ungewöhnlich, doch es gab viele Lebensformen, die zunächst im Wasser heranwuchsen und später in die Luft schlüpften: Moskitos, Legionellen, Mykotoxine, Rotalgen, ja sogar Menschen. Sinskey stellte sich vor, wie das Virus sich überall in der Zisterne ausbreitete … und dann im Inneren von Mikrotropfen in die Luft stieg.

Mit besorgter Miene sah Mirsat zu dem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Sinskey folgte seinem Blick zu dem kantigen, rot-weißen Ziegelgebäude, dessen Tür offenstand. Hinter der Tür schien eine Treppe nach unten zu führen. Gutgekleidete Leute warteten davor, während ein Türsteher bestimmte, wer wann die Treppe hinunterdurfte.

Ist das eine Art unterirdischer Tanzclub?

Sinskey las die goldenen Buchstaben auf dem Gebäude, und ein Gefühl der Beklemmung überkam sie. Wenn dieser Club nicht zufällig ›Zisterne‹ hieß und im Jahre 523 n. Chr. Eröffnung gefeiert hatte, dann wusste sie, warum Mirsat so besorgt dreinblickte.

»D… der Versunkene Palast«, stammelte Mirsat. »Es … es sieht so aus, als würde dort heute Abend ein Konzert stattfinden.«

Sinskey starrte ihn ungläubig an. »Ein Konzert in einer Zisterne?«

»Das ist eine sehr große Kaverne«, antwortete Mirsat. »Sie wird oft für kulturelle Veranstaltungen benutzt.«

Brüder hatte genug gehört. Er rannte los und schlängelte sich durch den Verkehr auf der Alemdar Caddesi. Sinskey und die anderen folgten ihm auf den Fersen.

Als sie den Eingang erreichten, war die Tür von einigen Konzertbesuchern blockiert, die auf den Einlass warteten: drei Frauen in Burkas, ein händchenhaltendes Touristenpärchen und ein Mann im Smoking. Sie alle standen dicht gedrängt in der Tür, um sich vor dem Regen zu schützen.

Von unten hörte Sinskey klassische Musik. Berlioz, dachte sie. Was auch immer dort gespielt wurde, auf den Straßen von Istanbul wirkte es fehl am Platz.

Trotz der Leute spürte Sinskey einen warmen Luftzug von der Treppe, der tief aus der Erde kam. Die Luft trug nicht nur die Musik herauf, sondern auch den unverkennbaren Geruch von Erde, Feuchtigkeit und Menschenmassen.

Sinskey überkam eine düstere Vorahnung.

Eine Touristengruppe kam fröhlich plaudernd die Treppe herauf. Als sie das Gebäude verließ, schickte der Türsteher die wartenden Konzertbesucher hinunter.

Brüder wollte ebenfalls hinein, doch der Mann hielt ihn mit einer freundlichen Geste zurück. »Einen Augenblick bitte, Sir. Die Zisterne hat ihre Besucherkapazität erreicht. Aber es dauert höchstens eine Minute, bis der nächste Besucher geht. Danke.«

Brüder hätte den Mann offensichtlich am liebsten aus dem Weg geräumt, doch Sinskey zog ihn beiseite.

»Warten Sie. Ihr Team ist auf dem Weg. Sie können die Zisterne nicht alleine durchsuchen.« Sie deutete auf die Tafel an der Wand, gleich neben der Tür. »Die Fläche ist riesig.«

Die Informationstafel zeigte einen unterirdischen Raum so groß wie eine Kathedrale, fast zwei Fußballfelder lang, mit einer Fläche von fast neuntausend Quadratmetern und einer von dreihundertsechsunddreißig Marmorsäulen gestützten Decke.

»Schauen Sie sich das an!«, rief Langdon, der wenige Schritte entfernt stand. »Das werden Sie nicht glauben.«

Sinskey drehte sich um. Langdon deutete auf ein Konzertplakat an der Wand.

Oh, mein Gott.

Die Direktorin der WHO hatte die Musik korrekt als ein Stück aus der Romantik identifiziert, doch es stammte nicht von Berlioz, sondern von einem anderen Komponisten: Franz Liszt.

An diesem Abend spielte das Staatliche Symphonieorchester von Istanbul tief unter der Erde eines von Franz Liszts berühmtesten Werken: die Dante-Symphonie, eine Komposition, die von Dantes Reise in die Hölle inspiriert worden war.

»Das wird hier eine Woche lang aufgeführt«, sagte Langdon und las das Kleingedruckte auf dem Plakat. »Der Eintritt ist frei. Ein anonymer Spender hat dafür bezahlt.«

Sinskey konnte sich denken, wer dieser anonyme Spender war. Offenbar hatte Zobrist seinen Hang zum Dramatischen an eine gnadenlos praktische Strategie geknüpft: Diese eine Woche mit kostenlosen Konzerten würde Tausende von zusätzlichen Touristen in die Zisterne locken. Sie würden das Pathogen einatmen und anschließend wieder in ihre Heimatländer reisen.

»Sir?«, rief der Türsteher Brüder zu. »Wir haben wieder Platz für ein paar Gäste.«

Brüder drehte sich zu Sinskey um. »Informieren Sie die türkischen Behörden. Was auch immer wir da unten finden, wir werden Unterstützung brauchen. Wenn mein Team eintrifft, sollen sie mir über Funk ein Update geben. Ich gehe runter und sehe mich nach Hinweisen um.«

»Ohne Atemgerät?«, fragte Sinskey. »Sie wissen doch nicht, ob der Solublon-Beutel noch intakt ist.«

Brüder runzelte die Stirn und hielt die Hand in den warmen Luftzug, der aus dem Eingang kam. »Ich sage das nicht gern, aber wenn das Pathogen bereits freigesetzt ist, dann ist inzwischen ohnehin jeder in der Stadt infiziert.«

Dieser Gedanke war Sinskey ebenfalls gekommen. Sie hatte vor Langdon und Mirsat nur nicht darüber reden wollen.

»Außerdem«, fügte Brüder hinzu, »habe ich schon erlebt, wie die Massen reagieren, wenn mein Team in voller Schutzkleidung anrückt. Panik wäre die Folge.«

Sinskey beschloss, ihm nachzugeben. Er war der Spezialist.

»Wir müssen davon ausgehen«, fuhr Brüder fort, »dass wir noch nicht zu spät kommen, um den Beutel zu bergen.«

»Okay«, sagte Sinskey. »Dann mal runter mit Ihnen.«

»Es gibt noch ein Problem«, warf Langdon ein. »Was ist mit Sienna?«

»Was soll mir ihr sein?«, erwiderte Brüder.

»Was auch immer sie hier in Istanbul vorhat, sie ist verdammt sprachbegabt und kann vermutlich auch ein wenig Türkisch.«

»Und?«

»Sienna weiß, dass in dem Gedicht von einem ›Versunkenen Palast‹ die Rede ist«, erklärte Langdon. »Und auf Türkisch weist ›Versunkener Palast‹ genau hierhin.« Er deutete auf das Schild über der Tür, auf dem ›Yerebatan Sarayi‹ stand.

»Das stimmt«, pflichtete Sinskey ihm müde bei. »Sie hat den Bezug vielleicht direkt hergestellt und gar nicht erst den Umweg über die Hagia Sophia gemacht.«

Brüder blickte zur Tür und fluchte leise. »Okay, falls sie tatsächlich schon da unten ist, um den Solublon-Beutel zu zerstören, kann sie zumindest noch nicht lange hier sein. Das Areal ist riesig, und sie hat vermutlich keine Ahnung, wo sie suchen soll. Bei all diesen Menschen um sie herum kann sie ja auch nicht einfach so ins Wasser tauchen.«

»Sir?«, rief der Türsteher noch einmal. »Wollen Sie jetzt rein oder nicht?«

Brüder sah, dass sich auf der anderen Straßenseite eine weitere Gruppe Konzertbesucher näherte, nickte dem Türsteher zu und ging zur Treppe.

»Ich komme mit«, sagte Langdon und folgte ihm.

Brüder fuhr zu ihm herum. »Sie bleiben hier oben.«

Langdon dachte gar nicht daran. »Agent Brüder, einer der Gründe, warum wir jetzt in dieser Situation stecken, ist, dass Sienna Brooks mich den ganzen Tag lang an der Nase herumgeführt hat. Und wie Sie ganz richtig gesagt haben, sind wir vielleicht schon alle infiziert. Ich helfe Ihnen, ob Ihnen das gefällt oder nicht.«

Brüder starrte ihn kurz an und gab dann nach.

Langdon trat durch die Tür und folgte Brüder die Treppe hinunter. Der warme Luftzug aus den Tiefen der Zisterne wehte ihm entgegen. Die feuchte Brise trug die Melodie von Liszts Dante-Symphonie herauf sowie den vertrauten und zugleich unbeschreiblichen Geruch von Menschen, die dicht gedrängt in einem beengten Raum stehen.

Langdon überkam plötzlich das Gefühl, von einem geisterhaften Schleier umhüllt zu sein, als führe eine unsichtbare Hand aus der Erde und reiße ihm mit ihren langen Fingern die Haut auf.

Die Musik.

Der über hundert Stimmen starke symphonische Chor trug gerade eine bekannte Passage vor und betonte dabei jede einzelne Silbe von Dantes düsterem Text.

»Lasciate ogne speranza voi ch’entrate.«

Diese sechs Worte, die berühmteste Zeile in Dantes Werk, drangen die Stufen hinauf wie der bedrohliche Gestank des Todes.

Begleitet von den Bläsern intonierte der Chor die Warnung erneut. »Lasciate ogne speranza voi ch’entrate!«

Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.