KAPITEL 7

Langdon streifte sein blutiges Krankenhausnachthemd ab und wickelte sich ein Handtuch um die Hüften. Nachdem er sich Wasser ins Gesicht gespritzt und den Unterarm gesäubert hatte, betastete er vorsichtig die Stiche an seinem Hinterkopf. Die Narbe schmerzte, doch wenigstens war sie kaum noch zu sehen, wenn er die Haare über die Stelle strich. Die Koffeinkapseln zeigten schon Wirkung, und endlich begann sich der Nebel in seinem Kopf zu lichten.

Denk nach, Robert, versuch dich zu erinnern!

Das kleine fensterlose Badezimmer entfachte plötzlich seine Klaustrophobie, und Langdon trat hinaus und durchquerte die Diele bis zu der halb offenen Tür, durch die natürliches Licht fiel. Der Raum dahinter war ein improvisiertes Arbeitszimmer mit einem billigen Schreibtisch, einem abgewetzten Drehstuhl, einem Haufen Büchern auf dem Fußboden und – Gott sei Dank! – einem Fenster, auf das Langdon gleich zuging.

In der Ferne stieg soeben die toskanische Sonne über die höchsten Spitzen der erwachenden Stadt – den Campanile, die Badia, den Bargello. Langdon drückte die Stirn an das kühle Glas. Die Märzluft war frisch und kalt und betonte das volle Spektrum des Sonnenlichts, das hinter den Hügeln hervorkam.

Malerlicht nennen sie es.

Im Herzen der Silhouette erhob sich eine monumentale Kuppel aus roten Ziegeln, deren Zenith verziert war mit einer vergoldeten Kupferkugel. Sie erstrahlte im Morgenlicht wie ein Leuchtfeuer. Il Duomo. Brunelleschi hatte mit der Konstruktion der gewaltigen Basilika-Kuppel Architekturgeschichte geschrieben, und die hundertfünfzehn Meter hohe Kuppel stand noch heute, fünfhundert Jahre später, wie ein unerschütterlicher Gigant auf der Piazza del Duomo.

Was um alles in der Welt mache ich in Florenz?

Langdon war ein Aficionado italienischer Kunst, und Florenz war eines seiner Lieblingsziele in Europa. Dies war die Stadt, in deren Straßen Michelangelo als Kind gespielt und in deren Werkstätten die italienische Renaissance begonnen hatte. Die Stadt, deren Galerien Millionen Reisende anlockten, um Botticellis Geburt der Venus zu bewundern, Leonardos Verkündigung Mariae oder den Stolz der ganzen Stadt: Il Davide.

Langdon war fasziniert von Michelangelos David, seit er ihn als Teenager zum ersten Mal gesehen hatte, beim Betreten der Accademia di Belle Arti. Damals war er langsam durch die Phalanx der unvollendeten Prigioni gegangen … und hatte gespürt, wie sein Blick mit unausweichlicher Macht nach oben wanderte auf das über fünf Meter hohe Meisterwerk. Die schiere Größe und die Definition der Muskulatur verschlugen den meisten Besuchern beim ersten Mal die Sprache, doch Langdon war am meisten beeindruckt gewesen von der genialen Pose des David. Michelangelo hatte die klassische Tradition des contraposto verwendet, um die Illusion zu erzeugen, dass sich David nach rechts lehnte und sein linkes Bein nahezu kein Gewicht trug, obwohl es in Wahrheit mehrere Tonnen Marmor stützte.

Der David hatte in Langdon zum ersten Mal die Wertschätzung für wahre Bildhauerkunst erweckt. Er fragte sich, ob er das Meisterwerk im Verlauf der letzten Tage besucht hatte, doch nach wie vor konnte er nur eine Erinnerung heraufbeschwören: sein Erwachen im Krankenhaus und die Geschehnisse, die dazu geführt hatten, dass der unschuldige Arzt vor seinen Augen niedergeschossen worden war. Very sorry. Very sorry.

Die Schuldgefühle waren so stark, dass ihm beinahe übel wurde. Was habe ich getan?

Wie er am Fenster stand, nahm er aus den Augenwinkeln einen Laptop-Computer auf dem Schreibtisch wahr. Was immer Langdon in der vergangenen Nacht zugestoßen sein mochte, es stand mit ziemlicher Sicherheit in den Nachrichten.

Wenn ich ins Internet kann, finde ich vielleicht die Antwort.

Langdon drehte sich zur Tür. »Sienna?«, rief er.

Keine Antwort. Sie war in der Wohnung ihres Nachbarn und suchte nach passenden Kleidungsstücken für ihn.

Er zweifelte nicht daran, dass Sienna Verständnis für sein Eindringen in ihre Privatsphäre haben würde, und klappte den Laptop auf. Die Maschine fuhr hoch.

Der Startbildschirm erhellte sich – blaue Wolken, ein Standardhintergrund. Langdon ging auf die Seite von Google Italia und tippte seinen Namen in das Suchfeld: Robert Langdon.

Wenn meine Studenten mich jetzt sehen könnten, dachte er, als er auf den Such-Button klickte. Er schimpfte ständig darüber, dass sie nach sich selbst googelten – eine bizarre neue Freizeitbeschäftigung und ein Symptom der krankhaften Sucht nach persönlichem Ruhm, der die gesamte amerikanische Jugend heimzusuchen drohte.

Die Seite mit den Ergebnissen erschien – Hunderte von Treffern, die sich auf Langdon bezogen, seine Bücher, seine Vorträge. Nicht das, wonach ich suche.

Langdon grenzte die Suche ein, indem er Nachrichten auswählte.

Eine neue Seite erschien. Nachrichten mit »Robert Langdon« im Resultat.

Signierstunden: Robert Langdon liest in …

Graduiertenansprache von Robert Langdon …

Robert Langdon publiziert Symbol-Primer für …

Die Liste war mehrere Seiten lang, und doch sah Langdon nichts Neues – jedenfalls nichts, was seine missliche Lage erklärte. Was ist gestern Nacht passiert? Langdon suchte weiter, rief die Webseite von The Florentine auf, die englischsprachige Ausgabe der in Florenz erscheinenden Zeitung. Er überflog die Schlagzeilen, neuesten Meldungen und den Polizeibericht, las einige Artikel über einen Wohnungsbrand, einen Unterschlagungsskandal in Regierungskreisen und verschiedene kleinere Straftaten.

Überhaupt nichts?

Er stockte bei einer Eilmeldung über einen Vertreter der Stadt, der in der vergangenen Nacht auf dem Platz vor der Kathedrale an einem Herzanfall gestorben war. Der Name des Mannes wurde noch nicht genannt, doch gab es bislang keinen Hinweis auf eine Straftat.

Schließlich, weil er nicht wusste, was er sonst noch machen sollte, loggte Langdon sich in seinen E-Mail-Account bei Harvard ein, um seine Nachrichten durchzugehen. Vielleicht fand sich dort eine Antwort. Vergeblich – nichts außer der üblichen Flut von Mails seiner Kollegen, Studenten und Freunde, viele davon Erinnerungen an Termine in der kommenden Woche.

Es ist, als hätte niemand bemerkt, dass ich weg bin.

Mit wachsender Unsicherheit fuhr Langdon den Computer herunter und klappte den Deckel zu. Er stand im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als etwas seine Aufmerksamkeit weckte. Am Rand von Siennas Schreibtisch, auf einem Stapel alter medizinischer Journale und Fachzeitschriften, stand ein Polaroid-Foto. Der Schnappschuss zeigte Sienna Brooks und ihren bärtigen Arztkollegen, die nebeneinander im Flur eines Krankenhauses standen und lachten.

Dr. Marconi, dachte Langdon, gequält von Schuldgefühlen, als er das Foto aufnahm und betrachtete.

Als er es auf den Stapel Zeitschriften zurückstellen wollte, bemerkte er das vergilbte Faltblatt obenauf – ein abgegriffenes Theaterprogramm vom London Globe Theatre. Offensichtlich handelte es sich um eine Produktion von Shakespeares Mittsommernachtstraum … von vor fast fünfundzwanzig Jahren.

Auf dem Deckblatt stand mit Textmarker eine handschriftliche Nachricht. Schatz, vergiss nie, dass du ein Wunder bist.

Langdon nahm das Faltblatt zur Hand, und einige Zeitungsausschnitte fielen heraus und landeten auf dem Schreibtisch. Hastig schlug er das Faltblatt auf, um die Ausschnitte wieder hineinzulegen … und hielt überrascht inne.

Er starrte auf das Foto einer Kinderschauspielerin, die Shakespeares schelmischen Elfen Puck dargestellt hatte. Das Mädchen konnte nicht älter gewesen sein als fünf Jahre, und das blonde Haar war zu einem vertrauten Pferdeschwanz zurückgebunden.

Die Bildunterschrift lautete: Ein Star wird geboren.

Der dann folgende Text war die überschwängliche Biografie eines Wunderkinds – Sienna Brooks – mit einem IQ, der alle Maßstäbe sprengte. Sie hatte in einer einzigen Nacht den Text jeder einzelnen Rolle des Stückes auswendig gelernt und ihren Kollegen während der ersten Proben häufig souffliert. Unter den Hobbys der Fünfjährigen waren Violine, Schach, Biologie und Chemie. Das Kind eines wohlhabenden Ehepaars aus dem Londoner Vorort Blackheath war in wissenschaftlichen Kreisen bereits eine Berühmtheit. Mit vier Jahren hatte Sienna eine Schachpartie gegen einen Großmeister gewonnen, und sie las Bücher in drei Sprachen.

Mein Gott, dachte Langdon. Sienna. Das erklärt einiges.

Langdon erinnerte sich an einen der berühmtesten Absolventen von Harvard, ein Wunderkind namens Saul Kripke, das sich im Alter von sechs Jahren selbst Hebräisch beigebracht und mit zwölf sämtliche Werke von Descartes gelesen hatte. Erst vor Kurzem hatte Langdon von einem jungen Wunderknaben namens Moshe Kai Cavalin gelesen, der im Alter von elf Jahren den Collegeabschluss mit einem Einser-Durchschnitt geschafft, einen nationalen Titel in einer Kampfsportart gewonnen und mit vierzehn Jahren sein erstes Buch mit dem Titel We Can Do geschrieben hatte.

Langdon nahm einen anderen Zeitungsausschnitt zur Hand, der Sienna im Alter von sieben Jahren zeigte: KINDGENIE ERREICHT IQ VON 208.

Langdon hatte nicht gewusst, dass die Skala zur Messung der Intelligenz überhaupt so weit reichte. Dem Bericht zufolge war Sienna Brooks eine virtuose Violinistin, lernte eine neue Sprache innerhalb eines Monats fließend und studierte autodidaktisch Anatomie und Physiologie.

Er überflog einen weiteren Ausschnitt aus einem medizinischen Journal. DIE ZUKUNFT DES DENKENS – NICHT ALLE GEISTER SIND GLEICH.

Dieser Artikel zeigte ein Foto von Sienna, inzwischen vielleicht zehn Jahre alt und immer noch flachsblond, neben einem großen medizinischen Apparat. Der Artikel enthielt ein Interview mit einem Arzt, demzufolge PET-Scans von Siennas Großhirn ergeben hatten, dass es sich physisch von anderen Gehirnen unterschied. Siennas Gehirn war sowohl größer als auch effizienter und besaß die Fähigkeit, räumlich-visuelle Informationen auf eine Weise zu verarbeiten, die sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen konnten. Der Arzt schrieb Siennas physischen Vorteil einem ungewöhnlich schnellen Zellwachstum im Gehirn zu, ähnlich einer Krebsgeschwulst, nur dass in ihrem Fall das gutartige Gewebe wucherte statt der gefährlichen Krebszellen.

Langdon fand einen Ausschnitt aus einer Kleinstadtzeitung.

DER FLUCH DER BRILLANZ.

Diesmal war kein Foto dabei. Es war die Geschichte eines jungen Genies, Sienna Brooks, das auf normale Schulen zu gehen versucht hatte, jedoch wegen seiner Andersartigkeit von den übrigen Schülern schikaniert worden war. Der Artikel beschrieb die Einsamkeit, die derart begabte junge Menschen empfinden. Ihre sozialen Fähigkeiten können nicht annähernd mit den intellektuellen mithalten, was häufig dazu führt, dass sie von Gleichaltrigen ausgestoßen werden.

Dem Bericht zufolge war Sienna im Alter von acht Jahren von zu Hause weggelaufen und hatte das Kunststück vollbracht, zehn Tage lang unentdeckt zu bleiben. Man hatte sie in einem besseren Londoner Hotel gefunden, wo sie sich als Tochter eines Gasts ausgegeben, einen Schlüssel gestohlen und auf eine fremde Zimmernummer Essen bestellt hatte. Allem Anschein nach hatte sie die Woche damit verbracht, alle 1600 Seiten von Gray’s Anatomy zu lesen. Auf die Frage der Behörden, warum sie ärztliche Fachliteratur lese, hatte sie geantwortet, dass sie herausfinden wolle, was mit ihrem Gehirn nicht stimme.

Langdon fühlte mit dem kleinen Mädchen mit. Er konnte sich kaum vorstellen, wie einsam ein Kind sein musste, das so grundlegend anders war als andere Kinder. Er faltete die Ausschnitte wieder zusammen und hielt inne, um einen letzten Blick auf das Foto der fünfjährigen Sienna in der Rolle des Puck zu werfen. Wenn ich an die fast surreale erste Begegnung mit ihr heute Morgen denke, passt die Rolle des schelmischen Elfs irgendwie zu ihr. Langdon wünschte, er könnte wie die Darsteller im Stück einfach aufwachen und so tun, als wären seine jüngsten Erlebnisse nichts weiter als ein Traum.

Sorgfältig legte er alle Ausschnitte zurück in das Faltblatt und klappte es zu. Als er die Handschrift auf dem Deckblatt sah, überkam ihn eine unerwartete Melancholie. Schatz, vergiss nie, dass du ein Wunder bist.

Sein Blick wanderte nach unten zu dem vertrauten Symbol auf dem Deckblatt – dem gleichen frühgriechischen Piktogramm, das die meisten Theaterprogramme überall auf der Welt verzierte und zu einem Synonym für dramatisches Theater geworden war: Das Maskenpaar, le maschere.

Masken

Langdon betrachtete die ikonischen Gesichter von Komödie und Tragödie, die vom Papier zu ihm hochstarrten, und plötzlich hörte er ein merkwürdiges Summen – als würde langsam eine Saite in seinem Kopf straffgezogen. Ein schmerzender Stich durchfuhr seinen Schädel. Geisterhafte Bilder von einer Maske schwebten vor seinen Augen. Er ächzte, ließ sich in den Stuhl fallen, kniff die Augen fest zusammen hielt sich mit beiden Händen den Kopf.

In dieser Dunkelheit kehrten die bizarren Visionen machtvoll zurück … grell und lebendig.

Wieder sah er die silberhaarige Frau mit dem Amulett. Sie rief von der anderen Seite des blutroten Flusses nach ihm. Ihre verzweifelten Rufe waren in der stinkenden Luft klar und deutlich zu hören und übertönten die Schreie der Gefolterten und Sterbenden, die die Landschaft sich windend und zuckend übersäten, so weit das Auge reichte. Abermals sah Langdon das verzweifelt in der Luft zappelnde Beinpaar mit dem aufgemalten R, dessen zugehöriger Oberkörper im Erdreich steckte.

Suche und finde!, rief die Frau Langdon zu. Die Zeit drängt!

Wie zuvor spürte Langdon den überwältigenden Drang, ihr zu helfen … allen zu helfen. Wer bist du?, rief er über den schäumenden roten Fluss hinweg.

Wieder hob die Frau ihren Schleier, um dasselbe atemberaubend schöne Gesicht zu enthüllen, das Langdon schon kannte.

Ich bin das Leben, sagte sie.

Ohne Vorwarnung erschien im Himmel über ihr ein kolossales neues Bild – eine furchterregende Maske mit einer langen, schnabelartigen Nase und zwei glühenden grünen Augen, die Langdon ausdruckslos anstarrten.

Und ich … bin der Tod, dröhnte eine tiefe Stimme.