KAPITEL 59

Es ist sinnlos, so zu tun, als wäre ich nicht hier.

Langdon bedeutete Sienna, in Deckung zu bleiben – mit der Maske, die wieder sicher im Ziploc-Beutel verstaut war.

Dann erhob er sich langsam und stand da wie ein Priester hinter dem Altar des Baptisteriums. Die Herde davor war winzig – nur ein einzelner Mann. Der Fremde hatte hellbraunes Haar, trug eine auffällige Brille und litt unter einem schlimmen Ausschlag im Gesicht und am Hals und hatte verquollene Augen. Nervös kratzte er sich die juckenden Stellen, während er Langdon irritiert und verärgert zugleich anstarrte.

»Würden Sie mir bitte sagen, was zum Teufel das alles zu bedeuten hat, Robert?«, forderte er, stieg über das Absperrseil und ging auf Langdon zu. Er sprach mit amerikanischem Akzent.

»Sicher«, antwortete Langdon höflich. »Aber verraten Sie mir doch bitte zuerst, wer Sie sind.«

Der Mann blieb stehen und hob ungläubig die Augenbrauen. »Was?«

Die Augen des Mannes kamen Langdon vage vertraut vor … genau wie die Stimme … Ich habe ihn schon mal gesehen … irgendwo, irgendwann. Ruhig wiederholte Langdon: »Bitte sagen Sie mir, wer Sie sind und woher ich Sie kenne.«

Der Mann warf ungläubig die Hände hoch. »Dr. Jonathan Ferris? World Health Organization? Ich bin derjenige, der nach Cambridge geflogen ist und Sie abgeholt hat?«

Langdon versuchte, sich zu erinnern.

»Warum zum Teufel haben Sie sich nicht mehr gemeldet?«, verlangte der Mann zu wissen. Er kratzte sich noch immer im Gesicht. »Wer ist diese Frau, mit der ich Sie hier habe reingehen sehen? Arbeiten Sie jetzt für die andere Seite?«

Sienna erhob sich neben Langdon und ergriff sofort die Initiative. »Dr. Ferris? Ich bin Dr. Sienna Brooks. Ich arbeite hier in Florenz. Professor Langdon wurde letzte Nacht durch einen Streifschuss am Kopf verletzt. Er leidet seitdem unter Amnesie. Er weiß weder, wer Sie sind, noch was in den letzten zwei Tagen passiert ist. Ich bin hier, weil ich ihm helfen möchte.«

Während Siennas Worte in dem leeren Baptisterium widerhallten, neigte der Mann verwirrt den Kopf zur Seite, als hätte er die Bedeutung ihrer Worte nicht verstanden. Dann riss er die Augen auf, wich einen Schritt zurück und stützte sich auf einem der Absperrpfosten ab.

»Oh … o mein Gott!«, stammelte er. »Das erklärt alles.«

Langdon sah, wie der Ärger aus dem Gesicht des Mannes wich.

»Robert«, sagte der Neuankömmling mit heiserer Stimme. »Wir dachten für einen Moment, Sie …« Er schüttelte den Kopf, als hätte er noch immer Mühe, das Gehörte zu verarbeiten. »Wir dachten, Sie hätten die Seite gewechselt … dass Sie vielleicht bestochen wurden … oder unter Druck gesetzt … Wir hatten ja keine Ahnung!«

»Ich bin die einzige Person, mit der er seither gesprochen hat«, erklärte Sienna. »Er weiß nur, dass er letzte Nacht in meinem Krankenhaus aufgewacht ist und dass jemand versucht hat, ihn umzubringen. Er hatte schlimme Halluzinationen: Leichen, Pestopfer und eine Frau mit silbernem Haar und Schlangenamulett, die ihm gesagt hat …«

»Elizabeth!«, platzte der Mann heraus. »Das ist Elizabeth Sinskey! Robert, Dr. Sinskey ist diejenige, die Sie gebeten hat, uns zu helfen!«

»Na, wenn das so ist, dann wissen Sie hoffentlich auch, dass sie in Schwierigkeiten steckt«, sagte Sienna. »Wir haben sie auf dem Rücksitz eines Vans mit Soldaten gesehen. Sie sah aus wie eine Gefangene, die man unter Drogen gesetzt hat.«

Der Mann nickte langsam und schloss die Augen. Seine Lider waren rot und geschwollen.

»Was ist mit Ihrem Gesicht?«, erkundigte sich Sienna unhöflich.

Er öffnete die Augen wieder. »Wie bitte?«

»Ihre Haut. Sie sieht entzündet aus. Sind Sie krank?«

Der Mann blickte sie erschrocken an. Sienna mochte vielleicht zu direkt gewesen sein, doch Langdon hatte sich diese Frage ebenfalls gestellt. Eingedenk der Andeutungen über Pest und Tod, mit denen er heute zu tun gehabt hatte, machte ihn der Anblick des blutigen Ausschlags nervös.

»Es geht mir gut«, antwortete der Mann. »Das war die verdammte Hotelseife. Ich bin allergisch gegen Soja, und die meisten parfümierten Seifen in Italien basieren darauf.«

Sienna seufzte erleichtert und entspannte sich ein wenig. »Zum Glück haben Sie die Seife nicht gegessen. Eine Hautreizung ist besser als ein anaphylaktischer Schock.«

Beide lachten verkrampft.

»Sagt Ihnen der Name Bertrand Zobrist etwas?«, wagte Sienna sich vor.

Der Mann erstarrte. Er sah aus, als habe er gerade den leibhaftigen dreiköpfigen Teufel gesehen.

»Wir glauben, dass wir eine Botschaft von ihm gefunden haben«, sagte Sienna. »Sie weist auf einen Ort in Venedig hin. Ergibt das einen Sinn für Sie?«

Jetzt funkelten die Augen des Mannes wild. »Himmel, ja! Absolut! Und worauf genau weist diese Botschaft hin?«

Sienna atmete tief durch. Sie war offenbar bereit, dem Fremden alles über das Spiralgedicht zu erzählen, das Langdon und sie eben erst gefunden hatten. Langdon legte ihr instinktiv die Hand auf den Arm. Der Mann schien zwar ein Verbündeter zu sein, doch nach den Ereignissen des heutigen Tages würde Langdon niemandem mehr so schnell trauen. Außerdem kam ihm die Krawatte dieses Dr. Ferris seltsam bekannt vor. Langdon glaubte, den Mann schon in der Dante-Kirche beim Gebet gesehen zu haben. Hat er uns verfolgt?

»Wie haben Sie uns hier gefunden?«, fragte Langdon.

Es schien den Mann noch immer zu verwirren, dass Langdon sich an nichts erinnern konnte. »Robert, Sie haben mich gestern Abend angerufen und mir erzählt, Sie hätten ein Treffen mit einem Museumsdirektor namens Ignazio Busoni arrangiert. Dann sind Sie verschwunden. Sie haben sich nicht mehr gemeldet. Als ich erfuhr, dass Busoni tot aufgefunden worden war, begann ich mir Sorgen zu machen. Ich suche schon den ganzen Morgen nach Ihnen. Ich sah die Polizei vor dem Palazzo Vecchio. Während ich herauszufinden versuchte, was dort los war, kamen Sie mit …« Er blickte zu Sienna. Offenbar hatte er sich ihren Namen nicht gemerkt.

»Sienna«, half sie ihm. »Sienna Brooks.«

»Tut mir leid … Jedenfalls kamen Sie in diesem Moment mit Sienna Brooks durch eine winzige Tür. Ich folgte Ihnen, um herauszufinden, was Sie dort zu suchen hatten.«

»Ich habe Sie in der Cerchi-Kirche gesehen. Sie haben gebetet, nicht wahr?«

»Ja! Ich konnte mir keinen Reim auf Ihr Verhalten machen. Als Sie die Kirche verlassen haben, sahen Sie aus, als hätten Sie einen Plan. Also bin ich Ihnen gefolgt. Und als ich gesehen habe, wie Sie ins Baptisterium geschlichen sind, habe ich beschlossen, Sie zur Rede zu stellen. Ich habe einen Wächter bestochen, um ein paar Minuten allein hineinzudürfen.«

»Sehr mutig von Ihnen«, bemerkte Langdon. »Vor allem, wenn Sie wirklich davon ausgegangen sind, ich hätte die Seite gewechselt.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Eine innere Stimme sagte mir, dass Sie so etwas nie tun würden. Professor Robert Langdon ein Verräter? Nein. Ich wusste, dass etwas anderes dahinterstecken musste. Aber Amnesie? Unglaublich. Darauf wäre ich nie gekommen.«

Der Mann kratzte sich nervös. »Hören Sie, ich habe nur fünf Minuten. Wir müssen hier raus. Jetzt sofort. Wenn ich Sie gefunden habe, dann schaffen das auch die Leute, die Sie töten wollen. Hier geht Vieles vor, das Sie nicht verstehen. Wir müssen nach Venedig. Sofort. Die Frage ist, wie wir Sie ungesehen aus Florenz bringen. Die Leute, die Dr. Sinskey in ihrer Gewalt haben … die, die auch hinter Ihnen her sind … diese Leute haben ihre Augen und Ohren überall.« Er deutete zur Tür.

Langdon rührte sich nicht. Er wollte endlich Antworten. »Wer sind die Soldaten in den schwarzen Monturen? Und warum versuchen sie, mich zu töten?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete der Mann. »Ich erzähle Ihnen alles unterwegs.«

Langdon runzelte die Stirn. Die Antwort gefiel ihm nicht. Er nahm Sienna beiseite und flüsterte: »Vertrauen Sie ihm? Was denken Sie?«

Sienna sah Langdon an, als hätte er den Verstand verloren. »Was ich denke? Ich denke, dass er für die World Health Organization arbeitet! Ich denke, dass er unsere beste Chance ist, endlich ein paar Antworten zu bekommen!«

»Was ist mit seinem Ausschlag?«

Sienna zuckte mit den Schultern. »Was er gesagt hat, stimmt: eine allergische Hautreaktion.«

»Und wenn es keine Allergie ist?«, flüsterte Langdon. »Was, wenn es etwas … anderes ist?«

»Etwas anderes?« Sienna sah ihn ungläubig an. »Robert, das sind keine Pestbeulen. Er ist Arzt, um Himmels willen. Wenn er eine hochansteckende Krankheit hätte und das wüsste, würde er sicher nicht leichtsinnig in einem Touristenzentrum herumlaufen, wo er Leute aus aller Welt anstecken könnte.«

»Und was, wenn er nicht weiß, dass er infiziert ist?«

Sienna schürzte die Lippen und dachte kurz nach. »Dann ist es für Sie und mich ohnehin zu spät … und auch für jeden anderen in der Gegend hier.«

»Wissen Sie, den Umgang mit Patienten sollten Sie lieber noch ein wenig üben.«

»Ich bin nur ehrlich.« Sienna reichte Langdon den Plastikbeutel mit der Totenmaske. »Sie können Ihren kleinen Freund ruhig selbst tragen.«

Als die beiden zu dem Mann zurückkehrten, beendete der soeben ein Telefongespräch. »Ich habe meinen Fahrer angerufen. Er wird uns vor dem …« Der Mann verstummte. Er starrte auf Langdons Hand und sah zum ersten Mal das tote Gesicht von Dante Alighieri.

»Himmel!«, keuchte er und wich unwillkürlich zurück. »Was zum Teufel ist das?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Langdon. »Ich erzähle Ihnen alles unterwegs.«