KAPITEL 48

In der Dunkelheit des Dachbodens waren Langdon und Sienna durch einen sechs Meter breiten Abgrund voneinander getrennt. Zweieinhalb Meter tiefer lag die heruntergefallene Planke quer über dem Holzrahmen mit Vasaris Apotheose. Die schwere Taschenlampe beulte die schützende Stoffbahn mitsamt der darunterliegenden Leinwand ein wenig ein wie ein Stein auf einem Trampolin.

»Die Planke hinter Ihnen!«, flüsterte Langdon. »Können Sie sie zu sich ziehen und über den Zwischenraum legen?«

Sienna musterte die Planke. »Zu schwer. Das andere Ende würde herunterfallen.«

Langdon hatte es befürchtet; das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war eine dicke Holzbohle, die durch eine kostbare Vasari-Leinwand krachte.

»Ich habe eine Idee!«, sagte Sienna in diesem Moment und bewegte sich seitwärts über den Querträger auf die Mauer zu. Langdon folgte ihr vorsichtig auf seinem Träger. Je weiter sie sich vom Licht der Lampe entfernten, desto zaghafter wurden ihre Schritte. Als sie die Mauer erreicht hatten, waren sie nahezu vollständig von Dunkelheit umgeben.

»Dort unten«, flüsterte Sienna und deutete in das Schwarz unter sich. »Der Rand der Decke. Er muss an der Wand befestigt sein. Er müsste mich tragen.«

Bevor Langdon protestieren konnte, war Sienna von ihrem Träger geklettert. Sie benutzte eine Reihe von Stützbalken als Leiter und ließ sich hinab auf den Rand der Holzkassette. Der Rahmen knarrte einmal, doch er hielt. Dann tastete sich Sienna Zentimeter für Zentimeter an der Wand entlang in Langdons Richtung – wie über das Fenstersims eines Hochhauses. Der Rahmen knarrte erneut.

Dünnes Eis, dachte Langdon. Bleib dicht am Ufer.

Als Sienna die Mitte zwischen den beiden Trägern erreicht hatte, keimte neue Hoffnung in Langdon auf. Vielleicht konnten sie es doch noch rechtzeitig schaffen.

Dann knallte irgendwo in der Dunkelheit eine Tür, und er hörte, wie sich über den Laufsteg schnelle Schritte näherten. Der Lichtkegel einer Taschenlampe blitzte auf und schwenkte suchend über das Gebälk, während er von Sekunde zu Sekunde näher kam. Langdon spürte seine Hoffnung schwinden. Jemand kam über den Laufsteg in ihre Richtung und schnitt ihnen den Fluchtweg ab.

»Sienna, klettern Sie weiter!«, flüsterte er drängend. »Bleiben Sie an der Mauer, bis Sie die andere Seite erreicht haben. Dort gibt es einen Ausgang. Ich starte ein Ablenkungsmanöver.«

»Nein!«, widersprach Sienna drängend. »Robert, kommen Sie zurück!«

Doch Langdon hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Er balancierte über den Querträger zur Mitte des Gebälks, und Sienna blieb allein in der Dunkelheit zurück, zweieinhalb Meter tiefer als er. Zentimeterweise schob sie sich an der Wand entlang.

Als Langdon den Plankensteg in der Mitte des Dachs erreicht hatte, tauchte am Rand der Plattform eine Gestalt auf. Sie blieb vor dem Geländer stehen und richtete eine Taschenlampe auf Langdon.

Das Licht war schmerzhaft grell, und Langdon hob instinktiv die Arme, um sich zu ergeben. Er war völlig schutzlos, hoch über dem Saal der Fünfhundert auf einem schmalen Balken, geblendet von hellem Licht.

Er wartete auf den Knall eines Schusses oder einen barschen Befehl, doch nichts geschah. Einen Moment später schwang der Lichtkegel weg von seinem Gesicht und erforschte die Dunkelheit hinter ihm, auf der Suche nach etwas anderem … oder jemand anderem. Langdon konnte nun die Person erkennen, die ihren Fluchtweg blockierte: eine Frau, schlank und ganz in schwarzes Leder gekleidet. Er zweifelte keinen Moment daran, dass sich unter ihrer Baseballmütze eine Stachelfrisur verbarg.

Vor Langdons geistigem Auge erschien der sterbende Dr. Marconi im Krankenhaus.

Sie hat mich gefunden. Sie ist hier, um ihren Auftrag zu beenden.

Langdon fühlte sich wie ein griechischer Freitaucher in einer Korallenhöhle; er war weit über den Punkt hinaus, an dem es ein Zurück gegeben hätte, und sah sich nun konfrontiert mit einer Wand aus massivem Fels.

Die Attentäterin richtete ihre Taschenlampe wieder auf Langdons Gesicht.

»Mr. Langdon«, flüsterte sie drohend. »Wo ist Ihre Freundin?«

Langdon erschauerte. Sie hat es auf uns beide abgesehen! Er ermahnte sich, keinesfalls in Siennas Richtung zu blicken. »Sie hat nichts mit der Sache zu tun. Ich bin derjenige, den Sie suchen.«

Langdon betete, dass Sienna in der Dunkelheit entlang der Mauer vorankam. Wenn es ihr gelang, die Plattform unbemerkt zu passieren, hatte sie vielleicht eine Chance. Dann könnte sie sich in gebührendem Abstand zu der Killerin bis zum Laufsteg schleichen, hochklettern und zum Ausgang gelangen.

Die Attentäterin hob ihre Lampe und leuchtete durch den leeren Dachboden hinter Langdon. In diesem Moment erhaschte Langdon einen Blick auf eine schemenhafte Gestalt in der Dunkelheit.

O Gott, nein!

Wie Langdon sich ausgemalt hatte, schlich Sienna seitlich von ihm über einen Querträger auf den Laufsteg zu. Allerdings zu einer Stelle, die höchstens zehn Meter von der Frau entfernt war!

Nein, Sienna! Das ist zu nah! Sie wird Sie hören!

Der Lichtstrahl kehrte zu Langdons Gesicht zurück.

»Hören Sie genau zu, Professor«, flüsterte die Attentäterin. »Wenn Sie am Leben bleiben wollen, schlage ich vor, Sie tun, was ich sage. Meine Mission wurde abgebrochen. Ich habe keinen Grund mehr, Ihnen Schaden zuzufügen. Wir sind von jetzt an auf der gleichen Seite. Ich weiß vielleicht, wie ich Ihnen helfen kann.«

Langdon hörte kaum zu. Seine Gedanken galten Sienna, die jetzt undeutlich zu sehen war, als sie geschickt hinter der Plattform über das Geländer stieg – viel zu nah bei der Attentäterin mit der Pistole.

Lauf!, dachte er inbrünstig. Mach, dass du von hier wegkommst!

Doch Sienna dachte zu Langdons Entsetzen gar nicht daran. Sie duckte sich in den Schatten und beobachtete schweigend die fremde Frau.

Vayentha starrte suchend in die Dunkelheit hinter Langdon. Wohin zum Teufel ist sie verschwunden? Haben sie sich getrennt?

Sie musste verhindern, dass das flüchtige Paar Brüder in die Hände fiel. Das ist meine einzige Hoffnung.

»Sienna?«, rief Vayentha mit kehliger Flüsterstimme. »Wenn Sie mich hören können, dann passen Sie gut auf. Die Männer unten werden nicht so zimperlich sein wie ich. Sie wollen bestimmt nicht von denen geschnappt werden. Ich kenne einen Fluchtweg. Ich kann Ihnen helfen. Vertrauen Sie mir.«

»Ihnen vertrauen?«, rief Langdon sarkastisch. Seine Stimme war so laut, dass jeder im Umkreis ihn hören musste. »Sie sind eine Mörderin!«

Sienna ist in der Nähe!, erkannte Vayentha. Langdon redet so laut, damit sie ihn hören kann … Er versucht sie zu warnen.

Sie unternahm einen letzten Versuch. »Sienna, die Situation ist kompliziert, aber ich kann Sie von hier wegbringen. Überlegen Sie, welche Optionen Ihnen bleiben. Sie sitzen in der Falle. Sie haben keine Wahl.«

»Doch, sie hat eine Wahl!«, rief Langdon laut. »Und sie ist clever genug, sich nicht auf Ihr Angebot einzulassen!«

»Alles hat sich geändert«, beharrte Vayentha. »Ich habe keinen Grund, Ihnen beiden zu schaden.«

»Sie haben Dr. Marconi ermordet! Ich nehme an, Sie haben auch mich niedergeschossen!«

In diesem Moment wurde Vayentha klar, dass Langdon ihr niemals glauben würde.

Die Zeit zum Reden ist vorbei. Mit Worten lässt er sich nicht überzeugen.

Ohne noch einen Augenblick zu verschwenden, griff sie in ihre Lederjacke und zog die schallgedämpfte Pistole.

Sienna hatte reglos im Schatten gekauert, keine zehn Meter von der Frau entfernt, die Langdon gestellt hatte. Selbst in der Dunkelheit war ihre Silhouette unverkennbar. Und zu Siennas Entsetzen schwang sie die gleiche Waffe, die sie auch bei Marconi benutzt hatte.

Sie will schießen!, dachte Sienna, als sie die Körpersprache der Frau deutete.

Und tatsächlich, die Frau trat zwei Schritte auf Langdon zu und blieb vor dem niedrigen Geländer stehen, das die Aussichtsplattform über Vasaris Apotheose sicherte. Sie war jetzt so nah an Langdon, wie es ging. Sie hob die Pistole und zielte auf seine Brust.

»Es tut nur für einen Moment weh«, sagte sie. »Aber ich habe keine andere Wahl.«

Sienna reagierte instinktiv.

Die plötzliche Vibration der Bretter unter Vayenthas Füßen lenkte sie für einen Sekundenbruchteil ab. Noch während sie abdrückte, wandte sie den Kopf … und als sich der Schuss löste, wusste sie, dass sie Langdon verfehlt hatte.

Jemand kommt von hinten!

Schnell.

Vayentha fuhr herum und riss die Waffe hoch. Ein dunkler Schatten flog erschreckend schnell heran. Vayentha feuerte, doch der Angreifer duckte sich tief, stieß sich vom Boden ab und prallte mit voller Wucht gegen sie.

Vayentha wurde von den Beinen gerissen, krachte mit dem Steißbein gegen das niedrige Geländer der Plattform und kippte rücklings hinüber. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen, als sie versuchte, sich an irgendetwas festzuhalten. Es war zu spät.

Sie fiel durch die Dunkelheit und wappnete sich gegen den Aufprall auf der staubigen Decke zweieinhalb Meter tiefer. Eigenartigerweise war die Landung viel sanfter, als sie es für möglich gehalten hätte … als wäre sie in einem Sprungtuch gelandet, das nun unter ihrem Gewicht langsam nachgab.

Für einen kurzen Moment lag sie desorientiert auf dem Rücken und starrte nach oben. Sienna Brooks stand am Geländer und sah zu ihr herunter. Benommen öffnete Vayentha den Mund, um etwas zu sagen, doch in diesem Moment hörte sie unter sich das Geräusch reißenden Stoffs.

Das Tuch und die Leinwand, die ihr Gewicht getragen hatten, rissen auseinander.

Vayentha fiel erneut.

Diesmal fiel sie drei lange Sekunden. Während des Sturzes starrte sie nach oben auf eine Decke voller wunderschöner Gemälde. Das Bild direkt über ihr – ein riesiges rundes Bildnis von Herzog Cosimo I., umringt von kleinen Engeln auf einer himmlischen Wolke – zeigte genau in der Mitte einen langen, dunklen Riss.

Und dann versank Vayenthas Welt mit einem plötzlichen lauten Krachen im Nichts.

Von seinem Querträger oben im Gebälk spähte Langdon ungläubig durch Vasaris zerrissene Apotheose in den Saal darunter. Auf dem Steinboden lag die stachelhaarige Attentäterin in einer rasch größer werdenden Blutlache. Ihre Hand umklammerte noch immer die schallgedämpfte Pistole, mit der sie auf Langdon gefeuert hatte.

Langdon sah zu Sienna, die ebenfalls wie gebannt nach unten starrte. Ihr Gesicht verriet blankes Entsetzen. »Ich … ich wollte nicht …«

»Sie haben instinktiv reagiert«, flüsterte Langdon. »Diese Frau wollte mich erschießen

Von unten hallten die ersten alarmierten Rufe herauf.

Langdon kletterte auf den Steg, dann führte er Sienna behutsam vom Geländer weg. »Wir müssen von hier verschwinden.«