KAPITEL 61

Langdon fliegt nach Genf?

Dr. Elizabeth Sinskey kämpfte gegen die zunehmende Übelkeit an, während sie auf dem Rücksitz des Vans durchgeschaukelt wurde. Sie verließen soeben Florenz und rasten in Richtung des Privatflughafens draußen vor der Stadt.

Genf ergibt einfach keinen Sinn, dachte Sinskey immer wieder.

In Genf befand sich das Hauptquartier der WHO – aber was wollte Langdon dort? Sucht er etwa nach mir? Das war unsinnig, zumal Langdon wusste, wo Sinskey sich befand, nämlich in Florenz.

Dann kam ihr ein neuer Gedanke.

Mein Gott … Hat Zobrist sich etwa Genf als Ziel ausgesucht?

Zobrist hatte einen starken Hang zu Symbolen gehabt. Ausgerechnet das Hauptquartier der WHO zu einem Ground Zero zu machen zeugte von einer makabren Eleganz, vor allem eingedenk seines jahrelangen Kriegs mit Sinskey. Andererseits war Genf eine ausgesprochen schlechte Wahl, wenn Zobrist darauf aus war, sein Pathogen möglichst schnell zu verbreiten. Verglichen mit anderen Metropolen war Genf geografisch isoliert und um diese Jahreszeit auch recht kalt. Die günstigsten Bedingungen für Epidemien waren eine hohe Bevölkerungsdichte und ein warmes, feuchtes Klima. Genf lag jedoch dreihundertfünfundsiebzig Meter über dem Meeresspiegel und war umgeben von Bergen. Nicht gerade der ideale Ort, um ein wie auch immer geartetes Pathogen auf die Welt loszulassen. Egal, wie sehr Zobrist mich verachtet.

Also blieb die Frage bestehen: Warum wollte Langdon dorthin? Das bizarre Reiseziel war ein weiteres Symptom des erratischen Verhaltens, in das der amerikanische Professor seit letzter Nacht zunehmend verfallen war. Sosehr Sinskey sich auch bemühte, ihr wollte einfach keine Erklärung dafür einfallen.

Auf wessen Seite steht er eigentlich?

Sinskey kannte Langdon zwar erst seit wenigen Tagen, doch verfügte sie über eine gesunde Menschenkenntnis und weigerte sich daher zu glauben, dass man einen Mann wie ihn mit Geld verführen konnte. Und doch hat er gestern Abend den Kontakt zu uns abgebrochen. Jetzt sah es so aus, als würde er mit dem Gegner gemeinsame Sache machen. Haben Zobrists Anhänger ihn von dem irrsinnigen Vorhaben überzeugt?

Bei dem Gedanken lief Sinskey ein Schauer über den Rücken.

Nein, versicherte sie sich. Ich kenne seinen Ruf. Auf so etwas würde er sich nie einlassen.

Vor vier Nächten hatte Sinskey Robert Langdon zum ersten Mal im Laderaum einer C-130 getroffen, die der WHO als mobile Einsatzzentrale diente.

Um kurz nach sieben war das Flugzeug in Hanscom Field gelandet, keine vierundzwanzig Kilometer von Cambridge, Massachusetts, entfernt. Sinskey war nicht sicher gewesen, wie das Treffen mit dem gefeierten Wissenschaftler verlaufen würde, den sie telefonisch kontaktiert hatte. Doch sie war angenehm überrascht gewesen, als er selbstbewusst in das Flugzeug gestiegen war und sie mit einem freundlichen Lächeln begrüßt hatte.

»Dr. Sinskey, nehme ich an?« Langdon schüttelte ihr fest die Hand.

»Professor, es ist mir einen Ehre, Sie kennenzulernen.«

»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite.«

Langdon war ein großer, gut aussehender Mann, und seine Stimme klang angenehm tief. Seine Kleidung schien dieselbe zu sein, die er einige Stunden zuvor im Vorlesungssaal getragen hatte: Tweedjacke, Khakihose und Korduan-Schuhe – wenig verwunderlich, wenn man bedachte, dass man den Mann ohne Vorwarnung vom Campus geholt hatte. Langdon sah wesentlich jünger und durchtrainierter aus, als Sinskey ihn sich vorgestellt hatte … was sie wiederum an ihr eigenes Alter erinnerte. Ich könnte fast seine Mutter sein.

Sie lächelte ihn müde an. »Danke, dass Sie gekommen sind, Professor.«

Langdon deutete auf den humorlosen Angestellten, der ihn zum Flugzeug gebracht hatte. »Ihr Freund hier hat mir nicht viel Zeit zum Nachdenken gelassen.«

»Gut. Dafür bezahle ich ihn.«

»Nettes Amulett«, bemerkte Langdon und betrachtete ihre Halskette. »Lapislazuli?«

Sinskey nickte und sah auf den blauen Stein, der die Form einer Schlange hatte, die sich um einen Stab wand. »Das alte Symbol der Medizin. Sie wissen sicherlich, dass man es ›Caudecus‹ nennt.«

Langdon hob den Kopf, als wollte er widersprechen.

Sinskey wartete. Ja?

Offensichtlich hatte er es sich anders überlegt, denn er lächelte höflich und wechselte das Thema. »Und? Warum bin ich hier?«

Elizabeth deutete auf einen Konferenzbereich mit einem Tisch aus rostfreiem Stahl. »Bitte setzen Sie sich. Ich möchte, dass Sie sich etwas ansehen.«

Langdon schritt zu dem Tisch. Elizabeth konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Geheimtreffen den Professor keineswegs beunruhigte, sondern faszinierte.

Dieser Mann fühlt sich wohl in seiner Haut. Das nenne ich Selbstvertrauen.

Sinskey fragte sich, ob er noch genauso entspannt aussehen würde, wenn er den Grund für das Treffen erfuhr.

Sinskey wartete, bis Langdon Platz genommen hatte; dann zeigte sie ihm ohne weitere Vorrede das Objekt, das sie und ihr Team vor kaum zwölf Stunden aus einem Bankschließfach in Florenz geborgen hatten.

Langdon musterte den kleinen geschnitzten Zylinder und erklärte Sinskey, was sie bereits wusste: Es handelte sich um ein antikes Rollsiegel, ein kleines Gerät, mit dem man Bilder oder Schriftzeichen auf Lehmgefäße aufbringen konnte, bevor sie gebrannt wurden. Dieses spezielle Rollsiegel war verziert mit dem Bild eines grausigen dreiköpfigen Teufels sowie dem Wort saligia.

»Saligia«, erklärte Langdon. »Der Vatikan hat dieses Wort erfunden. Es steht für die …«

»Ich weiß. Die Sieben Todsünden«, unterbrach Sinskey ihn. »Das haben wir bereits nachgeschlagen.«

»Gut.« Langdon klang verblüfft. »Gibt es einen besonderen Grund, warum ich mir das ansehen soll?«

»Ja, den gibt es.« Sinskey nahm den Zylinder wieder an sich und schüttelte ihn kräftig, sodass die Erregerkugel auf und ab flog.

Das schien Langdon noch mehr zu verwirren. Ehe er etwas sagen konnte, glühte das eine Ende des Zylinders rot auf, und Sinskey richtete ihn auf eine glatte Metallfläche an der Kabinenwand.

Langdon stieß einen leisen Pfiff aus und trat näher an das projizierte Bild heran.

»Das ist Botticellis Mappa dell’Inferno«, erklärte er. »Die Karte der Hölle. Das Gemälde beruht auf Dantes Inferno. Aber ich nehme an, auch das wissen Sie bereits.«

Elizabeth nickte. Sie und ihr Team hatten das Gemälde durch eine Internet-Recherche rasch identifiziert. Dass es von Botticelli stammte, hatte Sinskey überrascht. Schließlich war dieser Maler vor allem für seine hellen, idealisierenden Meisterwerke Geburt der Venus und Frühling bekannt. Sinskey liebte diese beiden Werke, obwohl sie die Fruchtbarkeit und die Schöpfung des Lebens zelebrierten – ein Thema, das für sie aufgrund ihrer eigenen Unfruchtbarkeit stets einen schalen Beigeschmack hatte. Dass sie keine Kinder gebären konnte, war der einzige signifikante Makel in ihrem ansonsten sehr produktiven Leben.

»Ich habe gehofft«, sagte Sinskey, »Sie könnten mir vielleicht die Symbolik in diesem Gemälde erklären.«

Zum ersten Mal an diesem Abend sah Langdon verärgert aus. »Deshalb haben Sie mich herbestellt? Ich dachte, das hier sei ein Notfall.«

»Bitte tun Sie mir einfach den Gefallen.«

Langdon seufzte geduldig. »Dr. Sinskey, wenn Sie etwas über ein bestimmtes Gemälde erfahren wollen, dann sollten Sie immer als Erstes das Museum kontaktieren, in dem es hängt. In diesem Fall wäre das die Biblioteca Apostolica im Vatikan. Im Vatikan gibt es einige ganz hervorragende Kunsthistoriker, die …«

»Der Vatikan hasst mich.«

Langdon sah sie überrascht an. »Sie auch? Ich dachte, ich wäre der Einzige.«

Sinskey lächelte traurig. »Die WHO vertritt einen klaren Standpunkt. Für die Weltgesundheit ist es zwingend erforderlich, Verhütungsmittel großflächig zu verbreiten – sowohl um sexuell übertragbare Krankheiten wie AIDS zurückzudrängen, als auch zur Bevölkerungskontrolle.«

»Und das sieht der Vatikan anders.«

»Allerdings. Er hat viel Kraft und Geld aufgewandt, um den Ländern der Dritten Welt einzuimpfen, dass Verhütung etwas Böses ist.«

»Ah, richtig.« Langdon lächelte wissend. »Wer wäre besser geeignet, der Welt vorzuschreiben, wie sie Sex haben soll, als ein Haufen zölibatärer alter Männer.«

Der Professor gefiel Sinskey mit jeder Sekunde mehr.

Sie schüttelte den Zylinder, um ihn wieder aufzuladen, und projizierte dann noch einmal das Bild an die Wand. »Professor, schauen Sie sich das mal genauer an.«

Langdon ging zu dem Bild und betrachtete es aufmerksam. Plötzlich erstarrte er. »Das ist ja seltsam. Es wurde manipuliert.«

Das hat nicht lange gedauert. »Ja, das stimmt. Und ich möchte, dass Sie mir sagen, was diese Änderungen zu bedeuten haben.«

Langdon schwieg. Er suchte das gesamte Bild ab, betrachtete eingehend die zehn Buchstaben, die das Wort Catrovacer bildeten … die Pestmaske … und die seltsame Signatur am Rand mit den ›Augen des Todes‹.

»Wer hat das gemacht?«, wollte er wissen. »Woher haben Sie das?«

»Je weniger Sie wissen, desto besser«, antwortete Sinskey. »Ich hoffe, dass Sie diese Änderungen analysieren und uns sagen können, was sie bedeuten.« Sie deutete auf einen Schreibtisch in der Ecke.

»Hier? Jetzt?«

Sinskey nickte. »Ich weiß, dass ich Sie damit überfalle, aber ich kann nicht genug betonen, wie wichtig das für uns ist.« Sie hielt kurz inne. »Es könnte um Leben und Tod gehen.«

Langdon blickte sie besorgt an. »Es kann eine Weile dauern, das hier zu enträtseln. Aber wenn es so wichtig für Sie ist …«

»Danke«, sagte Sinskey schnell, bevor er seine Meinung ändern konnte. »Müssen Sie jemanden informieren, dass Sie weg sind?«

Langdon schüttelte den Kopf und erklärte, dass er das Wochenende ohnehin allein und in Ruhe hatte verbringen wollen.

Perfekt. Sinskey gab ihm den kleinen Projektor, einen Stift und Papier sowie einen Laptop mit einer sicheren Satellitenverbindung. Langdon schien erstaunt über das eigenartige Interesse der WHO an einem modifizierten Gemälde von Botticelli, doch er machte sich pflichtergeben an die Arbeit.

Sinskey schätzte, dass es Stunden dauern würde, bis Langdon zu einem Ergebnis käme, und wandte sich anderen Dingen zu. Von Zeit zu Zeit hörte sie, wie Langdon den Projektor schüttelte und dann jedes Mal etwas auf seinen Notizblock kritzelte. Es waren noch keine zehn Minuten vergangen, als er plötzlich den Stift beiseitelegte. »Cerca trova!«, verkündete er.

Sinskey sah zu ihm hinüber. »Wie bitte?«

»Cerca trova. Suche, und du wirst finden.«

Sinskey sprang auf, setzte sich neben ihn und hörte fasziniert zu, während Langdon ihr erklärte, dass die verschiedenen Kreise von Dantes Hölle durcheinandergebracht worden seien und dass man die italienische Phrase cerca trova herausbekam, wenn man sie wieder richtig anordnete.

Suche, und du wirst finden?, wunderte sich Sinskey. Das hat mir dieser Irre geschickt? Es klang wie eine Herausforderung. Erneut hörte sie die Worte dieses Verrückten, mit denen er sich bei ihrem Treffen im New Yorker Council on Foreign Relations von ihr verabschiedet hatte. Mir scheint, unser Tanz hat begonnen.

»Sie sind kreidebleich.« Langdon musterte Sinskey nachdenklich. »Ich nehme an, Sie hatten sich eine andere Botschaft erhofft.«

Sinskey riss sich zusammen. »Eigentlich nicht, nein. Verraten Sie mir, Professor … soll mich dieses Bild womöglich dazu auffordern, nach etwas zu suchen?« Sie spielte unbewusst mit ihrem Amulett, während sie Langdon ansah.

»Ja. Cerca trova

»Und verrät es auch, wo ich mit der Suche beginnen soll?«

Langdon strich sich über das Kinn, während die anderen WHO-Mitarbeiter ihn neugierig ansahen. »Direkt nicht, nein … Allerdings habe ich eine ziemlich gute Vorstellung, wo Sie anfangen sollten.«

»Dann sagen Sie es mir«, forderte Sinskey energischer, als Langdon erwartet hätte.

»Was halten Sie von Florenz?«

Sinskey biss die Zähne zusammen, bemüht, sich keine Regung anmerken zu lassen. Ihre Mitarbeiter waren bei Weitem nicht so beherrscht und wechselten überraschte Blicke. Einer nahm ein Telefon zur Hand und wählte eine Nummer; ein anderer lief nach vorn und verschwand im Cockpit.

Langdon war verwirrt. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Oh ja, dachte Sinskey. »Wie kommen Sie auf Florenz?«

»Cerca trova«, antwortete Langdon und erzählte ihr von einer rätselhaften Entdeckung, die einige Jahre zuvor auf einem Fresko von Vasari im Palazzo Vecchio gemacht worden war.

Florenz also, dachte Sinskey. Sie hatte genug gehört. Offensichtlich war es kein Zufall gewesen, dass ihre Nemesis keine drei Straßen vom Palazzo Vecchio entfernt in den Tod gesprungen war.

»Professor«, sagte sie, »als ich Ihnen vorhin mein Amulett gezeigt und es einen Caudecus genannt habe, da haben Sie kurz innegehalten, als wollten Sie etwas sagen. Doch dann schienen Sie Ihre Meinung geändert zu haben. Was wollten Sie sagen?«

Langdon schüttelte den Kopf. »Nichts. Verzeihen Sie, es war dumm von mir. Manchmal übertreibt der Professor in mir ein wenig.«

Sinskey sah ihm in die Augen. »Ich frage Sie, weil ich wissen muss, ob ich Ihnen vertrauen kann. Was wollten Sie sagen?«

Langdon schluckte und räusperte sich. »Nicht, dass es von Bedeutung wäre, aber Sie haben gesagt, das Amulett sei ein Symbol für die Medizin. Das stimmt soweit auch. Aber es ist kein Caudecus, auch wenn das viele glauben. Ein Caudecus hat zwei Schlangen am Stab und Flügel an der Spitze. Ihr Amulett hat aber nur eine Schlange und keine Flügel, deswegen handelt es sich um einen …«

»Einen Äskulapstab.«

Langdon neigte überrascht den Kopf zur Seite. »Ja. Genau.«

»Ich weiß. Ich wollte mich vergewissern, dass Sie ehrlich zu mir sind.«

»Wie bitte?«

»Ich war neugierig, ob Sie mir die Wahrheit sagen würden, egal wie peinlich sie ist.«

»Klingt, als hätte ich versagt.«

»Sagen Sie ab jetzt bitte immer gleich, was Sie denken. Nur wenn wir völlig ehrlich zueinander sind, können wir in dieser Sache erfolgreich zusammenarbeiten.«

»Zusammenarbeiten? Bin ich denn nicht fertig hier?«

»Nein, Professor, Sie sind nicht fertig hier. Ich möchte, dass Sie mich nach Florenz begleiten, um mir bei der Suche nach etwas zu helfen.«

Langdon starrte sie ungläubig an. »Heute Nacht?«

»Ich fürchte ja. Ich muss Ihnen allerdings noch erklären, wie kritisch die Situation wirklich ist.«

Langdon schüttelte den Kopf. »Es ist egal, was Sie mir erklären. Ich will nicht nach Florenz fliegen.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Sinskey grimmig. »Aber leider läuft uns die Zeit davon.«