KAPITEL 15

»L’inferno di Dante«, flüsterte Sienna ehrfurchtsvoll, als sie näher an das schaurige Bild der Unterwelt trat, das nun ihre nackte Küchenwand zierte.

Dantes Vision der Hölle, dachte Langdon. Live und in Farbe.

Überschwänglich gefeiert als eines der bedeutsamsten Werke der Weltliteratur, zählte Inferno zu einem der drei Bücher von Dantes Commedia, auch die Göttliche genannt: ein mehr als 14000 Zeilen umfassendes episches Werk, das Dantes brutalen Abstieg in die Unterwelt beschrieb, seine Reise durch das Fegefeuer und schließlich die Ankunft im Paradies. Von den drei Büchern der Commedia – Inferno, Purgatorio und Paradiso – war Inferno das mit Abstand denkwürdigste.

Geschrieben von Dante Alighieri in den ersten Jahren des vierzehnten Jahrhunderts, hatte Inferno das mittelalterliche Bild der Verdammnis buchstäblich neu definiert. Nie zuvor hatte das Konzept der Hölle die Massen auf eine so eindrückliche Weise gefesselt. Dantes Werk hatte das abstrakte Konzept der Hölle praktisch über Nacht in einer klaren, angsteinflößenden Vision zementiert – intuitiv, greifbar und unvergesslich. Es war kaum überraschend, dass die katholische Kirche in der Folge der Veröffentlichung von Dantes Werk einen enormen Zulauf von verängstigten Sündern erfahren hatte, die Dantes moderner Vision der Unterwelt entgehen wollten.

In der Darstellung von Botticelli war Dantes grausige Vision der Hölle als ein riesiger trichterförmiger Abgrund aus Leid und Folter dargestellt, der tief in die Erde führte, eine elende subterrane Landschaft aus Feuer, Schwefel, Exkrementen und Monstern, an deren unterem Ende Satan persönlich wartete. Der trichterförmige Abgrund bestand aus neun verschiedenen Ebenen, den Neun Kreisen der Hölle, in die Sünder je nach Schwere ihrer Verfehlungen verbannt wurden. Nahe der Oberfläche wurden die Wollüstigen von einem ewigen Sturm durcheinandergewirbelt: ein Symbol ihrer Unfähigkeit, ihr Verlangen zu kontrollieren. Etwas weiter unten wurden die Gefräßigen gezwungen, sich mit dem Gesicht nach unten in einen stinkenden Brei zu legen, die Münder gefüllt mit dem Produkt ihrer Exzesse. Noch tiefer waren die Häretiker in Särgen gefangen, verdammt im ewigen Feuer. Und so ging es weiter … schlimmer und schlimmer, je tiefer man hinunterstieg.

In den sieben Jahrhunderten seit ihrer Veröffentlichung hatte Dantes bleibende Vision der Hölle zahlreiche Lobpreisungen, Übersetzungen und Variationen erfahren, durch einige der größten kreativen Persönlichkeiten der Geschichte. Longfellow, Chaucer, Marx, Milton, Balzac, Borges und sogar mehrere Päpste hatten Stücke geschrieben, die auf Dantes Inferno basierten. Monteverdi, Liszt, Wagner, Tschaikowsky und Puccini hatten Kompositionen geschaffen, die auf Dantes Werk zurückgingen, genau wie eine von Langdons Lieblingskünstlerinnen der Gegenwart, Loreena McKennitt. Selbst in der modernen Welt der Videospiele und iPad-Apps gab es keinen Mangel an Produkten, die auf Dante verwiesen.

Langdon war stets bemüht, seinen Studenten die lebendige, reiche Symbolhaftigkeit von Dantes Vision zu vermitteln, und manchmal hielt er eine Vorlesung über die wiederkehrenden Bilder, die sich bei Dante und in den Werken fanden, die er im Lauf der Jahrhunderte inspiriert hatte.

»Robert!«, sagte Sienna und beugte sich näher zur Wand. »Sehen Sie!« Sie deutete auf eine Stelle über dem Boden der trichterförmigen Hölle.

Der Bildabschnitt, auf den sie zeigte, wurde »Malebolge« genannt. Er befand sich im achten und vorletzten Kreis der Hölle und war unterteilt in zehn Gruben des Bösen, von denen jede für eine spezielle Art von Betrug stand.

»Sehen Sie!«, wiederholte Sienna aufgeregt. »Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten so etwas in Ihren Halluzinationen gesehen?«

Langdon kniff die Augen zusammen, doch er entdeckte nichts. Der winzige Projektor verlor zusehends an Kraft, und das Bild verblasste. Rasch schüttelte Langdon das kleine Gerät, bis es wieder hell leuchtete. Dann stellte er es ein Stück weiter weg, auf den Tresen an der gegenüberliegenden Küchenwand, sodass die Projektion größer wurde.

Wieder zeigte Sienna auf die Stelle im Achten Kreis der Hölle. »Sehen Sie! Sagten Sie nicht, Sie hätten ein Beinpaar gesehen, das umgekehrt aus dem Boden ragte und mit einem R bemalt war? Da ist es!«

Langdon hatte die zehnte Grube des Malebolge schon viele Male gesehen. Sie war vollgepackt mit Sündern, die mit dem Kopf voran bis zur Hüfte eingegraben waren und deren Beine aus dem Erdreich ragten. Doch in dieser Version trug ein Beinpaar seltsamerweise den Buchstaben R, mit Schlamm geschrieben, genau wie in Langdons Vision.

Mein Gott! Langdon sah genauer hin. »Dieses R findet sich garantiert nicht auf Botticellis Original!«

»Hier ist noch ein Buchstabe«, sagte Sienna und zeigte auf die Stelle.

Langdons Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger zu einer anderen Grube des Malebolge, wo der Buchstabe E auf der Brust eines falschen Propheten prangte, dem der Kopf umgedreht worden war.

Was um alles in der Welt …? Dieses Gemälde wurde ganz sicher manipuliert.

Langdon entdeckte nun weitere Buchstaben, überall in den zehn Gruben des Malebolge. Er sah ein C auf einem Verführer, der von Dämonen ausgepeitscht wurde … ein weiteres R bei einem Dieb, der von Schlangen gebissen wurde … ein A bei einem korrupten Politiker, der in einem Fass mit kochendem Teer steckte.

»Diese Buchstaben sind definitiv nicht Bestandteil von Botticellis Original«, sagte Langdon entschieden. »Das Bild wurde digital manipuliert.«

Er richtete den Blick auf die oberste Grube des Malebolge und begann, von oben nach unten zu buchstabieren, durch alle zehn Gruben hindurch.

C … A … T … R … O … V … A … C … E … R

»Catrovacer?«, sagte Langdon. »Ist das italienisch?«

Sienna schüttelte den Kopf. »Und auch nicht Latein. Ich kenne das Wort nicht.«

»Vielleicht eine Signatur?«

»Catrovacer?« Sie blickte zweifelnd drein. »Klingt nicht nach einem Namen, wenn Sie mich fragen. Aber sehen Sie, da.« Sie deutete auf eine der vielen Gestalten in der dritten Grube des Malebolge.

Als Langdon die Figur entdeckte, durchfuhr ihn ein Frösteln. Dort, unter der Menge von Sündern in der dritten Grube, befand sich ein ikonisches Bild des Mittelalters – ein Mann mit einem Umhang und einer Maske vor dem Gesicht – einer Maske mit langem, vogelartigem Schnabel und toten Augen.

Die Pestmaske.

»Gibt es in Botticellis Original einen Pestdoktor?«, fragte Sienna.

»Definitiv nicht. Diese Figur wurde nachträglich hinzugefügt.«

»Hat Botticelli sein Original signiert

Langdon erinnerte sich nicht, doch als er die untere rechte Ecke des Gemäldes musterte, wo man eine Signatur erwarten würde, erkannte er den Grund für Siennas Frage. Statt einer Signatur stand dort – kaum zu erkennen auf dem braunen Rand von La Mappa – eine Zeile Text in winzigen Druckbuchstaben: la verità è visibile solo attraverso gli occhi della morte.

Langdon sprach genug italienisch, um den Kern der Aussage zu verstehen. »Die Wahrheit offenbart sich nur durch die Augen des Todes.«

Sienna nickte. »Bizarr.«

Die beiden standen schweigend da, während das morbide Bild an der Wand allmählich wieder verblasste.

Dantes Inferno, dachte Langdon. Seit 1330 immer wieder Inspiration für unheilverkündende Kunstwerke.

Langdon widmete in seiner Vorlesung über Dante stets einen ganzen Abschnitt den zahlreichen Werken, die von Inferno inspiriert worden waren. Außer Botticellis gefeierter Mappa gab es noch Rodins zeitlose Skulptur der drei Schatten aus La Porte de l’Enfer, dem Höllentor; van der Straets Illustration des Phlegyas, der auf dem Styx durch die untergetauchten Leiber paddelt; William Blakes wollüstige Sünder, die in einem ewigen Sturm durcheinandergewirbelt werden; Bouguereaus eigenartig erotische Vision von Dante und Vergil, die zwei nackte, miteinander ringende Männer beobachten; Bayros gepeinigte Seelen, die sich in einem hagelartigen Sturm von glühenden Kugeln und Tropfen aus Feuer zusammenkauern; Salvador Dalís exzentrische Serien von Aquarellen und Holzschnitten; Dorés riesige Sammlung von Schwarz-Weiß-Radierungen mit Darstellungen vom Eingang des Hades bis hin zu dem geflügelten Satan selbst und viele, viele mehr.

Und jetzt schien es, als hätte Dantes poetische Vision der Hölle nicht nur die bedeutendsten Künstler der Geschichte beeinflusst, sondern noch ein weiteres Individuum. Eine gestörte Seele hatte Botticellis berühmtes Gemälde digital verändert, zehn Buchstaben sowie einen Pestdoktor hinzugefügt und das Ganze schließlich signiert mit einer ominösen Aussage über die Wahrheit und die Augen des Todes. Der unbekannte Künstler hatte das Bild auf einem Hightech-Projektor gespeichert und diesen dann in einem mit außergewöhnlichen Schnitzereien verzierten Knochen versteckt.

Langdon konnte sich nicht vorstellen, wer ein solches Werk geschaffen haben konnte, doch im Moment schien die Frage eher zweitrangig im Vergleich zu einer sehr viel drängenderen.

Warum zum Teufel trage ich dieses Ding bei mir?

Während Sienna und Langdon in der Küche über ihren nächsten Schritt nachdachten, näherte sich unten auf der Straße ein Wagen mit heulendem Motor. Reifen quietschten, dann wurden Türen zugeschlagen.

Erschrocken trat Sienna ans Fenster und sah nach draußen.

Ein schwarzer ziviler Van hatte vor dem Hotel gehalten. Ein Team von Männern in schwarzen Monturen stieg aus. Sie trugen runde grüne Abzeichen auf der linken Schulter und automatische Waffen in den Händen und bewegten sich mit militärischer Effizienz. Vier von ihnen rannten zum Eingang des Wohnhauses.

Sienna gefror das Blut in den Adern. »Robert!«, rief sie. »Ich weiß nicht, wer diese Leute sind, aber sie haben uns gefunden!«

Unten auf der Straße brüllte Agent Christoph Brüder seinen Männern Befehle zu, als sie das Gebäude stürmten. Er war ein athletisch gebauter Mann mit militärischem Hintergrund, einem Sinn für Pflichterfüllung und Respekt für die Kommandokette. Er kannte seine Mission und wusste, was auf dem Spiel stand.

Die Organisation, für die Brüder arbeitete, bestand aus zahlreichen Abteilungen. Brüders Einheit hieß Surveillance and Response Support – Überwachung und Einsatzunterstützung –, und sie wurde nur hinzugerufen, wenn die Situation einen kritischen Status erreichte.

Als Brüders Männer im Wohngebäude verschwanden, bezog er Posten vor der Eingangstür. Er nahm sein Kommunikationsgerät und kontaktierte die befehlshabende Stelle.

»Brüder hier«, meldete er. »Wir konnten Langdon mithilfe seiner IP-Adresse lokalisieren. Mein Team geht jetzt rein. Ich informiere Sie, wenn wir ihn haben.«

Hoch über Brüder, auf dem Dach des Hotels Pensione la Fiorentina, starrte Vayentha erschrocken und ungläubig auf die Agenten hinunter, die das Wohngebäude stürmten.

Was zum Teufel machen DIE hier?

Sie strich sich mit der Hand durch die gegelte Igelfrisur. Ihr verpatzter Auftrag vom Vorabend würde fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Das Gurren einer einzelnen Taube hatte ein wildes Chaos eingeläutet, und jetzt war alles außer Kontrolle. Was als einfache Mission begonnen hatte, war zu einem fortwährenden Alptraum geworden.

Wenn das SRS-Team hier ist, dann ist für mich alles gelaufen.

Sie holte ihr Sectra Tiger XS Telefon hervor und rief den Provost an.

»Sir!«, stammelte sie. »Das SRS-Team ist hier! Brüders Männer stürmen das Wohngebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite!«

Sie wartete auf eine Antwort, doch stattdessen ertönte lediglich eine Folge lauter Klicks, und dann sagte eine elektronische Stimme: »Nichtannahmeprotokoll aktiviert.«

Vayentha senkte das Telefon und starrte ungläubig auf das Display, das sich gerade ausschaltete.

Alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, als ihr klar wurde, was soeben passiert war. Das Konsortium hatte jeglichen Kontakt zu ihr abgebrochen.

Keine Verbindung mehr. Nichts.

Ich wurde fallengelassen.

Der Schock hielt nur einen Moment lang vor.

Dann kam die Angst.