KAPITEL 78

Langdon folgte dem braungebrannten Mann durch eine Reihe beängstigend enger Korridore unter Deck. Elizabeth Sinskey und die Soldaten marschierten im Gänsemarsch hinterher. Die Gruppe erreichte eine Treppe, und für einen kurzen Moment hoffte Langdon, sie würden wieder nach oben steigen, in Richtung Tageslicht, doch es ging noch tiefer in den Bauch des Schiffes.

Sie durchquerten ein Labyrinth hermetisch versiegelter gläserner Kabinen, einige davon mit transparenten, andere mit milchig-undurchsichtigen Wänden. In allen Kabinen saßen Leute vor Computerbildschirmen und tippten auf Tastaturen oder telefonierten. Manche sahen von ihrer Arbeit auf, als sie die Bewegung außerhalb der Kabine bemerkten, und schraken zusammen, als sie die fremden Gesichter in ihrem Hochsicherheitsbereich entdeckten. Der braungebrannte Mann nickte ihnen beruhigend zu und eilte weiter.

Wo sind wir hier?, fragte sich Langdon, als sie eine Art Hightech-Einsatzzentrale voller Monitore und Konsolen durchquerten.

Endlich öffnete ihr Gastgeber die Tür zu einem großen Konferenzraum, und alle traten ein. Während sie Platz nahmen, betätigte der Mann einen Knopf. Es zischte leise, die Glaswände wurden undurchsichtig, und die Geräusche von draußen erstarben.

Langdon war verblüfft – so etwas hatte er noch nie gesehen. »Wo sind wir?«

»Sie sind an Bord meines Schiffes, der Mendacium«, sagte der braungebrannte kleine Mann.

»Mendacium?«, fragte Langdon. »Der lateinische Name für Pseudologos?«

Der Mann schien beeindruckt. »Nicht viele Menschen wissen das.«

Kein besonders nobler Name, dachte Langdon. Mendacium war eine schattenhafte Gottheit, die über die Pseudologii herrschte, jene Dämonen, die auf Täuschung und Lüge spezialisiert waren.

Der Mann holte einen winzigen roten Memorystick hervor und steckte ihn in den Slot eines Abspielgeräts im hinteren Teil des Raums. Automatisch dimmte sich das Licht, und ein LCD-Bildschirm schaltete sich ein.

In der erwartungsvollen Stille hörte Langdon das sanfte Plätschern des Wassers draußen am Rumpf … zumindest glaubte er das, bis ihm klar wurde, dass das Geräusch aus den Lautsprechern kam. Das Bild erhellte sich langsam und zeigte schließlich eine nasse, in rötliches Licht getauchte Wand.

»Bertrand Zobrist hat dieses Video gedreht«, erklärte ihr Gastgeber. »Und er hat mich damit beauftragt, es morgen zu veröffentlichen.«

In stummem Unglauben sah Langdon sich das bizarre Video an … ein höhlenartiger Raum mit einer Art Lagune … schimmerndes Wasser, in das die Kamera eintauchte … eine Titantafel am schlickigen Grund, auf der eingraviert stand:

AN DIESEM ORT UND AN DIESEM TAG
WURDE DIE WELT FÜR IMMER VERÄNDERT.
Unterzeichnet war die Tafel mit:
BERTRAND ZOBRIST.

Das Datum war morgen.

Mein Gott! Langdon drehte sich in der Dunkelheit zu Sinskey um, doch die Direktorin starrte nur ausdruckslos zu Boden. Offensichtlich kannte sie den abstoßenden Film bereits und wollte ihn kein zweites Mal sehen.

Nun schwenkte die Kamera nach links und zeigte eine wabernde, transparente Blase, die aus Kunststoff zu bestehen schien und eine gelatinöse gelbbraune Flüssigkeit enthielt. Eine am Boden befestigte Schnur hinderte das empfindliche Gebilde daran, zur Oberfläche aufzusteigen.

Was zum …? Langdon studierte die wabernde Blase eingehend. Der unheimliche Inhalt schien träge zu verwirbeln … und wirkte beinahe, als würde er von innen heraus glühen.

Als Langdon begriff, was er da sah, stockte ihm der Atem. Zobrists Pathogen.

»Halten Sie das Video an«, befahl Sinskey.

Der Provost gehorchte, und das Bild fror ein. Es zeigte die Flüssigkeit im Plastikbeutel, mit einer Schnur unter Wasser fixiert, schwerelos wie im All.

»Sie können sich sicher denken, was das ist«, sagte Sinskey. »Die Frage ist: Wann wird diese Flüssigkeit freigesetzt?« Sie ging zum Bildschirm und deutete auf eine winzige Markierung auf dem transparenten Beutel. »Unglücklicherweise verrät uns das hier, aus welchem Material der Beutel besteht. Können Sie das lesen?«

Langdons Puls raste. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Schrift auf dem Beutel zu entziffern. »Es scheint sich um ein Warenzeichen zu handeln. Solublon.«

»Das ist der weltgrößte Hersteller für wasserlösliche Kunststoffe«, verkündete Sinskey.

Langdon drehte sich der Magen um. »Wasserlöslich?«

Sinskey nickte ernst. »Wir haben Kontakt zum Hersteller aufgenommen, der uns aber nur sagen konnte, dass diese Art von Kunststoff in vielen Variationen hergestellt wird. Der Beutel kann sich in zehn Minuten auflösen oder in zehn Wochen … je nachdem. Die Geschwindigkeit hängt auch von der Zusammensetzung des Wassers sowie der Temperatur ab. Diese Faktoren hat Zobrist sicher mit einberechnet.« Sie stockte. »Wir glauben, dass dieser Beutel sich …«

»Morgen«, unterbrach der Provost sie. »Morgen ist das Datum, das Zobrist in meinem Kalender eingekreist hat. Es entspricht auch dem Datum auf der Tafel.«

Langdon hatte es die Sprache verschlagen.

»Zeigen Sie ihm den Rest«, forderte Sinskey den Provost auf.

Die Wiedergabe wurde fortgesetzt. Jetzt fuhr die Kamera über das Wasser, das rot zu glühen schien. Langdon zweifelte nicht daran, dass er den Ort aus dem Gedicht vor sich sah: die Lagune, in deren Wasser sich die Sterne nicht spiegeln.

Die Szene beschwor Bilder von Dantes Inferno herauf … der Fluss Cocytus, der durch die Höhlen der Unterwelt floss.

Wo auch immer diese Lagune lag, das Wasser war umgeben von steilen, moosbewachsenen Wänden, die von Menschenhand zu stammen schienen. Zudem hatte Langdon den Eindruck, dass die Kamera nur den kleinen Ausschnitt eines viel gewaltigeren Raums zeigte. Dieser Eindruck wurde durch die schwachen vertikalen Schatten an der Wand zusätzlich untermauert. Die Schatten waren breit, gleichförmig und immer im gleichen Abstand zueinander. Sie stammten von …

Säulen.

Die Decke dieser Höhle wurde von Säulen getragen …

… also sah er hier keine Höhle vor sich, sondern einen riesigen, von Menschen geschaffenen Raum.

Im Dunkel des Versunk’nen Palasts.

Bevor Langdon etwas sagen konnte, zog das Video wieder seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein Schatten erschien auf der Wand … eine humanoide Gestalt mit langer, krummer Nase.

Oh Gott …

Der Schatten begann zu sprechen. Seine Stimme klang gedämpft, und er redete in einem unheimlichen, poetischen Rhythmus:

»Ich bin eure Erlösung. Ich bin der Schatten.«

In den nächsten Minuten sah Langdon den angsteinflößendsten Film, der ihm je untergekommen war. Die Inszenierung und die Rede entsprangen zweifellos den Fieberfantasien eines wahnsinnigen Genies. Der Monolog des Bertrand Zobrist, vorgetragen in der Verkleidung eines Pestdoktors, strotzte vor Zitaten aus Dantes Inferno. Die Botschaft war klar und deutlich: Das Bevölkerungswachstum war außer Kontrolle geraten, und das Überleben der Menschheit stand auf dem Spiel.

»Nichts zu tun«, intonierte die Stimme, »hieße, Dantes Hölle heraufzubeschwören … überfüllt, voller Hunger und von Sünde zerfressen. Also habe ich kühn das Zepter des Handelns in die Hand genommen. Einige werden entsetzt zurückschrecken, doch die Erlösung hat ihren Preis. Eines Tages wird die Welt erkennen, welch Schönheit meinem Opfer innewohnt.«

Plötzlich trat Zobrist selbst ins Bild und riss sich die Maske herunter. Langdon starrte in das ausgemergelte Gesicht und die wilden grünen Augen. Das war also das Gesicht des Mannes, der diese Krise verursacht hatte.

Zobrist fuhr mit einer Liebeserklärung fort – gerichtet an jemanden, den er den Quell seiner Inspiration nannte. »… in dem Wissen … dass ich die Zukunft in deine sanften Hände gelegt habe. Mein Werk ist getan, und jetzt ist die Stunde gekommen, da ich hervortreten muss aus enger Mundung … zum Wiedersehn der Sterne.«

Dann war das Video vorbei, und Langdon erkannte, dass die letzten Worte von Zobrists Monolog eine Reminiszenz an den Schluss von Dantes Inferno waren.

In der Dunkelheit des Konferenzraumes wurde Langdon bewusst, dass alle Ängste, unter denen er im Laufe des Tages gelitten hatte, plötzlich zu einer einzigen, furchterregenden Realität verschmolzen.

Bertrand Zobrist hatte ein Gesicht … und eine Stimme.

Die Lichter des Konferenzraums gingen an, und Langdon sah, dass alle erwartungsvoll zu ihm blickten.

Elizabeth Sinskeys Miene wirkte wie versteinert, als sie aufstand und nervös über ihr Amulett strich. »Professor, offensichtlich bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Die einzige gute Neuigkeit bis jetzt ist, dass noch keine Meldung über eine neue Krankheit oder den Ausbruch einer Seuche eingegangen ist. Also gehen wir davon aus, dass der Solublon-Beutel noch intakt ist. Aber wir wissen nicht, wo wir danach suchen sollen. Wir müssen die Bedrohung neutralisieren, solange der Kunststoff sich noch nicht aufgelöst hat, und das bedeutet: schnellstmöglich, am besten sofort.«

Agent Brüder stand auf und schaute Langdon in die Augen. »Wir nehmen an, dass Sie nach Venedig gekommen sind, weil Sie inzwischen wissen, wo Zobrist das Pathogen versteckt hat.«

Langdon ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Allen war die Angst deutlich anzusehen, und er wünschte, er könnte ihnen etwas Erfreulicheres mitteilen.

»Wir sind im falschen Land«, verkündete er. »Was wir suchen, ist knapp eintausendsechshundert Kilometer von hier entfernt.«

Die mächtigen Motoren der Mendacium ließen Langdons Innereien vibrieren, als sich die Yacht in weitem Bogen dem Flughafen von Venedig näherte. An Bord war Hektik ausgebrochen. Der Provost war davongeeilt und brüllte seiner Mannschaft Befehle zu. Elizabeth Sinskey hielt sich ihr Mobiltelefon ans Ohr und befahl soeben den Piloten der C-130, die Maschine sofort startklar zu machen. Und Agent Brüder saß an seinem Laptop und versuchte herauszufinden, ob die WHO zufälligerweise ein anderes Team in der Nähe des Zielortes hatte.

Eine halbe Welt entfernt.

Nun kam der Provost wieder in den Konferenzraum zurück und wandte sich an Agent Brüder: »Gibt es etwas Neues von den venezianischen Behörden?«

»Keine Spur. Die Suche läuft noch. Sienna Brooks ist wie vom Erdboden verschluckt.«

Sie suchen nach Sienna?, wunderte Langdon sich.

Sinskey beendete ihr Telefonat und schloss sich dem Gespräch an. »Kein Glück bei der Suche nach ihr?«

Der Provost schüttelte den Kopf. »Ich schlage vor, die WHO sanktioniert den Einsatz von Gewalt für die Festnahme von Sienna Brooks.«

Langdon sprang auf. »Wieso das? Sie hat mit alledem nichts zu tun!«

Der Provost blickte Langdon in die Augen. »Professor, es gibt ein paar Dinge, die ich Ihnen über Miss Brooks erzählen muss.«