KAPITEL 77

Das sanfte Plätschern der Wellen weckte Langdon. Es roch nach Desinfektionsmittel und Meer, und Langdon hatte das Gefühl, als schwankte die Welt unter ihm.

Wo bin ich?

Noch vor wenigen Augenblicken, so schien es, hatte er in Todesangst gegen die starken Hände angekämpft, die ihn aus dem Lichtschacht in die Krypta gezogen hatten. Doch jetzt spürte er seltsamerweise nicht mehr den kalten Boden des Markusdoms unter sich … sondern eine weiche Matratze.

Langdon öffnete die Augen und sah sich um. Er befand sich in einem kleinen, steril wirkenden Raum mit einem einzelnen runden Fenster. Und noch immer schaukelte alles.

Ich bin auf einem Schiff?

Das Letzte, woran Langdon sich erinnerte, war ein athletisch gebauter Soldat in schwarzer Uniform, der ihn zu Boden gedrückt und wütend angezischt hatte: »Jetzt halten Sie endlich still!« Ein zweiter Soldat war hinzugeeilt. Als die beiden Langdon zum Schweigen bringen wollten, schrie er verzweifelt um Hilfe.

»Wir müssen ihn hier rausschaffen«, sagte der muskulöse Kerl.

Sein Partner nickte widerwillig. »Tun Sie’s.«

Dann spürte Langdon, wie eine Hand nach seiner Halsschlagader tastete und fest zudrückte. Kurz darauf verschwamm Langdons Blick, und er merkte, wie er allmählich das Bewusstsein verlor, als seinem Gehirn der Sauerstoff ausging.

Die bringen mich um, dachte er. Ausgerechnet hier neben dem Grab des heiligen Markus.

Und dann wurde ihm schwarz vor Augen … oder auch nicht. Es war mehr ein Grau in Grau gewesen, durchsetzt mit gedämpften Geräuschen und undeutlichen Schatten.

Langdon hatte kein Zeitgefühl mehr. Allmählich klärte sich sein Blick wieder. Soweit er sagen konnte, befand er sich in einer Art Krankenstation. Die sterile Umgebung und der Geruch nach Isopropylalkohol vermittelten ihm ein seltsames Gefühl von Déjà-vu. Es war, als habe sich der Kreis geschlossen. Genau wie in der Nacht zuvor war er in einem fremden Krankenhausbett erwacht und konnte sich nicht mehr an alles erinnern.

Sein erster Gedanke galt Sienna. War sie in Sicherheit? Langdon sah noch immer ihre braunen Augen vor sich. Ihr Blick war voller Schuldgefühle und Angst gewesen. Langdon betete, dass sie wohlbehalten aus Venedig hatte fliehen können.

Wir sind im falschen Land, hatte Langdon zu ihr gesagt, nachdem ihm eingefallen war, wo sich Dandolos Grab befand. Das geheimnisvolle Mouseion der Heiligen Weisheit lag nicht in Venedig, sondern eine halbe Welt entfernt. Genau wie Dantes Text gewarnt hatte, war die Bedeutung des kryptischen Gedichtes unter einem »Schleier« verborgen gewesen.

Langdon hätte Sienna alles gleich nach ihrer Flucht aus der Krypta erklärt, doch dann war es anders gekommen.

Sie ist in dem Glauben weggerannt, dass ich versagt habe.

Langdon zog sich der Magen zusammen.

Und das Pathogen ist immer noch da draußen …

Langdon hörte laute Schritte vor der Krankenstation. Als er sich umdrehte, kam ein Mann in Schwarz herein. Es war der Soldat, der ihn in der Krypta zu Boden gedrückt hatte. Seine Augen waren eiskalt. Langdon wollte instinktiv zurückweichen, doch er konnte nirgendwo hin. Diese Typen können mit mir machen, was sie wollen.

Er legte so viel Trotz wie möglich in seine Stimme. »Wo bin ich?«

»An Bord eines Schiffs vor Venedig.«

Der Professor betrachtete das grüne Abzeichen auf der Uniform des Mannes. Es zeigte einen Globus, der von den Buchstaben ECDC umringt war. Langdon kannte weder das Symbol noch das Akronym.

»Wir brauchen Informationen«, fuhr der Soldat fort, »und wir haben nicht viel Zeit.«

»Warum sollte ich mit Ihnen reden? Sie hätten mich fast umgebracht!«

»Wo denken Sie hin? Das war eine Judotechnik namens Shime-waza. Wir hatten nicht vor, Ihnen Schaden zuzufügen.«

»Sie haben heute Morgen auf mich geschossen!«, erklärte Langdon wütend. Er erinnerte sich noch genau an den Querschläger, der von Siennas Trike abgeprallt war. »Ihre Kugel hat mich nur knapp verfehlt.«

Der Mann kniff die Augen zusammen. »Wenn ich Sie hätte treffen wollen, dann hätte ich Sie getroffen. Ich habe nur einen Schuss auf das Hinterrad Ihres Trikes abgefeuert, um Ihre Flucht zu verhindern. Mein Befehl lautete, Kontakt zu Ihnen herzustellen und herauszufinden, warum zum Teufel Sie sich so seltsam verhalten.«

Bevor Langdon diese Worte verarbeiten konnte, kamen zwei weitere Soldaten herein und näherten sich seinem Bett.

Zwischen ihnen ging eine Frau.

Eine Erscheinung.

Ätherisch, wie von einer anderen Welt.

Langdon erkannte sie sofort: die Frau aus seinen Visionen. Sie war wunderschön, hatte langes silbernes Haar und trug ein blaues Amulett aus Lapislazuli. Doch weil sie ihm das letzte Mal vor einer grausigen Landschaft sterbender Leiber erschienen war, dauerte es einen Moment, bis er begriff, dass sie ihm diesmal in Fleisch und Blut gegenüberstand.

Die Frau lächelte müde, als sie sein Bett erreichte. »Professor Langdon. Ich bin erleichtert, dass es Ihnen gutgeht.« Sie setzte sich und kontrollierte seinen Puls. »Man hat mir erzählt, Sie würden unter einer Amnesie leiden. Erinnern Sie sich an mich?«

Langdon musterte die Frau. »Ich … Ich hatte eine Vision von Ihnen. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, Sie schon einmal persönlich gesehen zu haben.«

Die Frau blickte ihn mitfühlend an. »Mein Name ist Elizabeth Sinskey. Ich bin die Leiterin der WHO. Wir haben Sie konsultiert, damit Sie uns bei der Suche nach …«

»Einem Pathogen«, unterbrach Langdon sie. »Ich sollte Ihnen bei der Suche nach einem Pathogen helfen, das Bertrand Zobrist erschaffen hat.«

Sinskey nickte zufrieden. »Dann erinnern Sie sich also?«

»Nein. Ich bin in einem Krankenhausbett aufgewacht, hatte ein Rollsiegel bei mir, in dem ein kleiner Projektor steckte. Ich hatte Halluzinationen – oder Visionen –, in denen Sie mir befahlen: ›Suche und finde‹. Das habe ich dann auch getan … bis diese Kerle da versucht haben, mich umzubringen.« Langdon zeigte auf die uniformierten Männer.

Der muskulöse Soldat setzte zu einer Entgegnung an, doch Elizabeth Sinskey bedeutete ihm zu schweigen.

»Professor«, sagte sie in geduldigem Ton, »Sie sind zweifellos sehr verwirrt. Ich bin diejenige, die Sie in die Angelegenheit hineingezogen hat, und es tut mir unendlich leid, was Ihnen widerfahren ist. Aber jetzt sind Sie ja Gott sei Dank in Sicherheit.«

»In Sicherheit?«, erwiderte Langdon. »Ich bin gefangen auf einem Schiff!« Und Sie auch!

Die silberhaarige Frau nickte verständnisvoll. »Ich fürchte, aufgrund Ihrer Amnesie wird das Meiste von dem, was ich Ihnen jetzt erzähle, verwirrend für Sie sein. Aber wir haben nur wenig Zeit, und viele Menschen brauchen Ihre Hilfe.«

Sinskey zögerte, als überlegte sie, wie sie fortfahren solle. »Zuerst einmal müssen Sie wissen, dass Agent Brüder und sein Team Ihnen nie schaden wollten. Sie hatten lediglich den Befehl, den Kontakt wiederherzustellen, egal wie.«

»Wiederherzustellen? Ich weiß nicht …«

»Bitte, Professor, hören Sie mir einfach zu. Es wird sich alles aufklären. Versprochen.«

Langdon lehnte sich in die Kissen zurück. In seinem Kopf drehte sich alles, als Dr. Sinskey fortfuhr:

»Agent Brüder und seine Männer bilden ein SRS-Team. Die Abkürzung steht für ›Surveillance and Response Support‹. Sie arbeiten unter der Schirmherrschaft des European Centre for Disease Prevention and Control.«

Langdon betrachtete die ECDC-Abzeichen auf den Uniformen der Männer. Disease Prevention and Control?

»Brüders Team«, fuhr Dr. Sinskey fort, »ist darauf spezialisiert, Bedrohungen durch ansteckende Krankheiten aufzuspüren und zu eliminieren. Sie sind so eine Art Eingreiftruppe, die die Ausbreitung von Seuchen verhindern soll. Sie, Professor, waren meine größte Hoffnung, Zobrists Pathogen zu finden. Als Sie verschwunden sind, habe ich das SRS-Team beauftragt, Sie zu finden … Ich habe Sie nämlich nach Florenz bestellt, Professor Langdon, damit Sie mir helfen.«

Langdon war verwirrt. »Diese Leute arbeiten für Sie

Sinskey nickte. »Ich habe sie vom ECDC ausgeliehen. Vergangene Nacht, als Sie verschwunden sind und sich nicht mehr gemeldet haben, dachten wir, Ihnen sei etwas zugestoßen. Erst als unsere Techniker heute Morgen gesehen haben, dass Sie Ihre E-Mails abrufen, wussten wir, dass Sie noch leben. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir uns Ihr seltsames Verhalten nur damit erklären, dass Sie die Seiten gewechselt hatten … Wir nahmen an, irgendjemand hätte Ihnen eine größere Summe geboten, wenn Sie für ihn arbeiten statt für uns.«

Langdon schüttelte den Kopf. »Das ist absurd!«

»Es kam uns auch sehr unwahrscheinlich vor, aber es war die einzige logische Erklärung … und weil so viel auf dem Spiel steht, durften wir kein Risiko eingehen. Natürlich sind wir nie auf den Gedanken gekommen, dass Sie an einer Amnesie leiden könnten. Als unsere Techniker die Aktivierung Ihres E-Mail-Accounts bemerkt haben, mussten wir lediglich die IP-Adresse zu der Wohnung in Florenz zurückverfolgen. Aber dann sind Sie mit dieser Frau geflohen, was unseren Verdacht weiter erhärtet hat, dass Sie für jemand anderen arbeiten.«

»Sie sind direkt an uns vorbeigerast!« Langdon schluckte. »Ich habe Sie hinten in einem schwarzen Van gesehen, zwischen Soldaten. Ich dachte, Sie wären eine Gefangene. Sie wirkten wie im Delirium. Als hätte man Sie unter Drogen gesetzt.«

»Sie haben uns gesehen?« Dr. Sinskey war verblüfft. »Wie auch immer, Sie haben Recht … Ich habe tatsächlich starke Medikamente verabreicht bekommen.« Sie stockte kurz. »Aber die hatte ich mir selbst verordnet.«

Langdon war völlig verwirrt. Sie hat denen befohlen, ihr Medikamente zu geben?

»Sie erinnern sich nicht daran«, sagte Sinskey, »aber als unsere C-130 in Florenz gelandet ist, kam es zu einem Druckabfall, und ich erlitt einen Anfall von paroxysmalem Lagerungsschwindel. Das ist eine Krankheit des Innenohrs. Ich leide seit längerem darunter. Diese Anfälle sind zwar nur von kurzer Dauer und ziehen keine ernsten Schäden nach sich, aber die Betroffenen leiden in einem Maße unter Schwindel und Übelkeit, dass sie kaum den Kopf heben können. Normalerweise hätte ich mich ins Bett gelegt, bis es vorbei ist, aber wir mussten uns der Zobrist-Krise stellen, und so habe ich mir selbst eine stündliche Injektion Metoclopramid verschrieben, um mich nicht ständig übergeben zu müssen. Das Medikament hat eine starke Nebenwirkung: Man wird unglaublich schläfrig. Wenigstens war ich so einigermaßen in der Lage, die Operation aus dem Van zu leiten. Das SRS-Team wollte mich in ein Krankenhaus bringen, aber ich habe befohlen, das nicht zu tun. Zuerst mussten wir Sie finden. Glücklicherweise ist das Schwindelgefühl während des Flugs nach Venedig abgeklungen.«

Langdon ließ sich in sein Bett sinken. Das alles verwirrte ihn immer mehr. Ich bin die ganze Zeit vor der WHO weggelaufen? Vor den Leuten, für die ich eigentlich arbeiten sollte?

»Aber jetzt müssen wir uns konzentrieren, Professor«, erklärte Sinskey, und ihre Stimme nahm einen drängenden Tonfall an. »Zobrists Pathogen … Haben Sie eine Ahnung, wo es sein könnte?« Sie sah Langdon erwartungsvoll an. »Wir haben kaum noch Zeit.«

Weit entfernt, wollte Langdon erwidern, doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Er blickte zu Brüder, dem Mann, der am Morgen auf ihn geschossen und ihn später fast erwürgt hatte. In den letzten Stunden hatte sich alles so rasant verändert, dass Langdon nicht mehr wusste, wem er noch vertrauen konnte und wem nicht.

Sinskey beugte sich vor und sah ihm in die Augen. »Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass das Pathogen sich hier in Venedig befindet. Ist das korrekt? Sagen Sie uns wo, und ich schicke ein Team an Land.«

Langdon zögerte.

»Professor!«, warf Brüder ungeduldig ein. »Sie wissen doch sicher etwas … Sagen Sie uns, wo es ist! Ist Ihnen nicht klar, worum es hier geht?«

»Agent Brüder!« Aufgebracht fuhr Sinskey zu dem Mann herum. »Das reicht!« Sie wandte sich wieder an Langdon. »Angesichts dessen, was Sie durchgemacht haben, ist es verständlich, dass Sie verwirrt sind und nicht wissen, wem Sie noch vertrauen können.« Wieder hielt sie kurz inne und schaute ihm tief in die Augen. »Aber uns läuft die Zeit davon, und ich bitte Sie, mir zu vertrauen.«

»Kann er aufstehen?«, ertönte eine Stimme, die Langdon noch nicht kannte. Ein kleiner gepflegter Mann mit sonnengebräunter Haut stand in der Tür und musterte ihn gelassen. Langdon entging das gefährliche Glitzern in seinen Augen nicht.

Sinskey bedeutete Langdon aufzustehen. »Professor, ich würde es vorziehen, nicht mit diesem Mann hier zu kooperieren, aber die Umstände lassen uns keine andere Wahl.«

Unsicher schwang Langdon die Beine über die Bettkante und erhob sich. Es dauerte einen Moment, bis er sicher stand.

»Folgen Sie mir«, sagte der Mann und drehte sich um. »Es gibt da etwas, das Sie sehen sollten.«

»Wer sind Sie?«, verlangte Langdon zu wissen.

Der Mann drehte sich um. »Namen sind unwichtig. Ich bin der Provost. Ich führe eine Organisation, die – so ungern ich das auch zugebe – einen Fehler begangen hat: Wir haben Bertrand Zobrist geholfen, seine Ziele zu erreichen. Und jetzt versuche ich, diesen Fehler zu korrigieren, bevor es zu spät ist.«

»Und was wollen Sie mir zeigen?«, fragte Langdon.

Der Mann sah ihm tief in die Augen. »Den Beweis dafür, dass wir alle auf derselben Seite stehen.«