KAPITEL 10

»Setzen Sie sich«, sagte Sienna. »Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Als Langdon die Küche betrat, fühlte er sich bereits viel sicherer auf den Beinen. Er trug einen bemerkenswert gut sitzenden Brioni-Anzug von Siennas Nachbarn, und selbst die Halbschuhe waren bequem. Langdon nahm sich vor, zu italienischem Schuhwerk zu wechseln, sobald er wieder zu Hause wäre.

Falls ich je wieder nach Hause komme, dachte er.

Sienna wirkte wie verwandelt. Sie war ohnehin eine natürliche Schönheit, und nun betonten die eng sitzenden Jeans und der cremefarbene Pullover ihre geschmeidige Gestalt zusätzlich. Ihr Haar war noch immer zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Ohne den Arztkittel wirkte sie irgendwie verletzlicher, und Langdon bemerkte, dass ihre Augen gerötet waren, als hätte sie geweint. Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht wurde er von überwältigenden Schuldgefühlen gepackt.

»Sienna, es tut mir so leid. Ich habe die Nachricht auf dem Anrufbeantworter mitgehört. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Danke«, erwiderte sie. »Aber im Augenblick müssen wir uns auf Sie konzentrieren, Robert.«

Ihr Ton war bestimmt und erinnerte Langdon an die Artikel über ihren gigantischen Intellekt und ihre erstaunliche Kindheit, die er wenige Minuten zuvor gelesen hatte.

»Sie müssen nachdenken, Robert. Bitte setzen Sie sich.« Sie deutete auf einen Stuhl. »Können Sie sich erinnern, wie wir hierhergekommen sind, in diese Wohnung?«

Langdon verstand nicht, inwiefern diese Frage wichtig sein sollte. »In einem Taxi«, antwortete er und nahm am Tisch Platz. »Jemand hat auf uns geschossen.«

»Damit das klar ist – jemand hat auf Sie geschossen, Robert. Nicht auf mich

»Ja. Entschuldigung.«

»Und erinnern Sie sich an Schüsse, während wir im Taxi waren?«

Eigenartige Frage. »Ja. Zwei Schüsse. Einer hat den Außenspiegel getroffen, der andere die Heckscheibe.«

»Gut. Jetzt schließen Sie bitte die Augen.«

Langdon begriff, dass sie sein Gedächtnis untersuchte. Er schloss die Augen.

»Was habe ich an?«

Langdon sah sie klar und deutlich vor sich. »Flache Schuhe, Bluejeans, einen cremefarbenen Pullover mit V-Ausschnitt. Ihre Haare sind blond und schulterlang und zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihre Augen sind braun.«

Langdon öffnete die Augen und musterte sie. Zufrieden stellte er fest, dass sein eidetisches Gedächtnis wieder normal funktionierte.

»Gut. Ihr visuell-kognitives Imprinting ist exzellent, was bestätigt, dass Ihre Amnesie vollkommen abklingen wird und Ihre Gedächtnisprozesse keine bleibenden Schäden davontragen. Ist Ihnen inzwischen irgendetwas Neues aus dem Zeitraum der letzten paar Tage eingefallen?«

»Leider nein. Allerdings hatte ich schon wieder Visionen, während Sie weg waren.«

Langdon erzählte ihr von der Vision mit der verschleierten Frau, den Massen toter oder sterbender Leiber und dem umgekehrt eingegrabenen Mann, dessen Beine in der Luft zappelten und mit einem R markiert waren. Dann beschrieb er ihr die unheimliche, am Himmel schwebende Schnabelmaske.

»›Ich bin der Tod?‹«, fragte sie und blickte ihn besorgt an.

»Genau das hat sie gesagt, ja.«

»Okay. Ich schätze, das ist deutlicher als ›Ich bin der Tod, Zerstörer der Welten‹.«

Die junge Frau hatte soeben Robert Oppenheimer beim Test der ersten Atombombe zitiert.

»Und diese geschnäbelte Maske?«, fragte sie und sah ihn grübelnd an. »Haben Sie eine Vermutung, warum Ihr Verstand dieses Bild heraufbeschworen hat?«

»Keine Ahnung. Aber der Stil stammt aus dem Mittelalter. Diese Masken waren damals weit verbreitet.« Langdon zögerte. »Das sind sogenannte Pestmasken.«

Sienna sah ihn merkwürdig verunsichert an. »Eine Pestmaske?«

Langdon erklärte ihr, dass in seiner Welt der Symbole die einzigartige Form der langschnäbeligen Maske ein Synonym war für den Schwarzen Tod – die Seuche, die im vierzehnten Jahrhundert über Europa hinweggefegt war und in manchen Gegenden die Hälfte der Bevölkerung ausgelöscht hatte. Die meisten Wissenschaftler nahmen an, das Wort »schwarz« in »Schwarzer Tod« sei ein Verweis auf das Dunkelwerden der Haut des Opfers, hervorgerufen durch Wundbrand und Blutungen unter der Epidermis. Doch in Wirklichkeit leitete es sich ab aus der tiefgreifenden Angst, die die Pandemie in der Bevölkerung ausgelöst hatte.

»Diese langschnäbelige Maske«, fuhr Langdon fort, »wurde von den Pestdoktoren des Mittelalters getragen. Sie sollte die ›Pestilenz‹ von ihren Nasen fernhalten, während sie die Infizierten behandelten. Heutzutage sieht man sie nur noch bei Kostümen im Karneval von Venedig – die schaurige Mahnung an eine grimmige Zeit in der Geschichte Italiens.«

»Sie sind sicher, dass Sie in Ihrer Vision so eine Maske gesehen haben?«, fragte Sienna mit bebender Stimme. »Die Maske eines mittelalterlichen Pestdoktors?«

Langdon nickte. Die langschnäbelige Maske ist unverkennbar.

Sienna runzelte die Stirn.

Sie sucht nach einem Weg, mir die schlechte Neuigkeit möglichst schonend beizubringen.

»Und die Frau hat Ihnen immer wieder gesagt, Sie sollen suchen und finden?«

»Richtig. Genau wie die anderen Male davor. Das Problem bei der Sache ist, ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich suchen soll.«

Sienna stieß einen langen Seufzer aus. Ihr Gesichtsausdruck war ernst. »Ich glaube, ich weiß es. Genauer gesagt … Ich glaube, Sie haben es schon gefunden.«

Langdon starrte sie an. »Was … was reden Sie da?«

»Robert, gestern Nacht, als Sie im Krankenhaus aufgetaucht sind, hatten Sie etwas Ungewöhnliches in Ihrer Jackentasche. Erinnern Sie sich, was das war?«

Langdon schüttelte den Kopf.

»Sie hatten einen Gegenstand bei sich … ein ziemlich ungewöhnliches Objekt. Ich habe es zufällig entdeckt, als wir Sie gesäubert haben.« Sie deutete auf Langdons zerrissenes Tweedjackett, das flach ausgebreitet auf dem Küchentisch lag. »Es ist noch in der Tasche, falls Sie gerne einen Blick darauf werfen möchten.«

Unsicher beäugte Langdon seine Jacke. Das erklärt zumindest, warum sie zurückgerannt ist und meine Jacke geholt hat. Er griff nach dem blutbesudelten Jackett und durchsuchte nacheinander sämtliche Taschen. Nichts. Er suchte ein weiteres Mal – mit dem gleichen Ergebnis. Schließlich sah er sie schulterzuckend an. »Ich finde nichts.«

»Was ist mit der Geheimtasche?«

»Was? Meine Jacke hat keine Geheimtasche.«

»Nein?« Sie sah ihn ungläubig an. »Dann ist das gar nicht Ihre Jacke? Gehört sie jemand anderem?«

»Doch, doch, das ist meine Jacke«, erwiderte Langdon verwirrt.

»Sind Sie sicher?«

Sogar verdammt sicher, dachte er. Das war sogar meine Lieblingsjacke.

Er drehte die Jacke auf links und zeigte Sienna das Etikett mit dem Symbol seiner Lieblingsmarke in der Welt der Mode: eine stilisierte Weltkugel mit einer Leiste aus dreizehn Knöpfen und einem Kreuz obenauf, ähnlich dem Reichsapfel der alten Kaiser und Könige.

Typisch für die Schotten, Krieger des Christentums auf einem Stück Stoff zu verewigen.

»Sehen Sie hier«, sagte Langdon und deutete auf die handgestickten Initialen R. L. auf dem Etikett. Er wählte stets die maßgeschneiderten Modelle von Harris und zahlte auch den Aufpreis für das Einsticken seiner Initialen. Auf dem Campus der Universität wurden in den Vorlesungssälen und Mensen ständig Hunderte von Tweedjacken aus- und angezogen, und Langdon hatte keine Lust, bei einer – auch noch so unabsichtlichen – Verwechslung den Kürzeren zu ziehen.

»Ich glaube Ihnen«, sagte Sienna und nahm ihm das Jackett ab. »Aber sehen Sie, hier

Sie schlug die Jacke um und legte den Saum in der Nähe des Kragens frei. Und tatsächlich, diskret im Saum verborgen war geschickt eine große Tasche eingearbeitet.

Was zum Teufel …? Langdon war sicher, dass er diese Tasche noch nie zuvor gesehen hatte. Sie verbarg sich in einer perfekt geschneiderten Naht. »Die war vorher nicht da!«, beharrte er.

»Dann nehme ich an, dass Sie das hier auch noch nie gesehen haben?«, fragte Sienna und zog ein schlankes metallenes Objekt aus der Tasche, das sie Langdon behutsam in die Hand legte.

Sprachlos starrte Langdon das Gebilde an.

»Wissen Sie, was das ist?«, fragte Sienna.

»Nein …« stammelte er. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Nun, unglücklicherweise weiß ich, was das ist. Und ich bin ziemlich sicher, dieses Ding ist der Grund, warum man Sie töten will.«

In seinem abgeschirmten Abteil an Bord der Mendacium wurde der Koordinator Laurence Knowlton immer unruhiger, während er über das Video nachdachte, das er im Auftrag des Klienten am nächsten Morgen weltweit veröffentlichen sollte.

Ich bin der Schatten?

Gerüchten zufolge hatte ihr Klient in den Monaten vor seinem Tod einen psychischen Zusammenbruch erlitten, und dieses Video schien diese Gerüchte mehr als zu bestätigen.

Knowlton wusste, dass es für ihn zwei Alternativen gab. Er konnte das Video entweder wie vereinbart zur Veröffentlichung vorbereiten … oder es zum Provost bringen und eine zweite Meinung einholen.

Obwohl ich seine Meinung schon kenne, dachte Knowlton. Er hatte noch nie erlebt, dass der Provost eine andere Maßnahme toleriert hätte als die, die mit dem jeweiligen Klienten vereinbart war. Er wird anordnen, dass ich das Video veröffentliche, ohne Fragen zu stellen … Und er wird wütend auf mich sein, weil ich es gewagt habe zu fragen.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Computer und zog die Abspielmarkierung zu einer besonders alarmierenden Stelle zurück. Dann drückte er auf PLAY.

Die in unheimlichem Rot leuchtende Kaverne erschien auf dem Schirm, begleitet vom Plätschern des Wassers. Auf der nassen Wand war ein bedrohlicher Schatten zu sehen – der Schatten eines Mannes mit einem langen, vogelartigen Schnabel.

Dann sagte die deformierte Gestalt mit dumpfer Stimme:

Dies ist das neue Dunkle Zeitalter. Vor Jahrhunderten war Europa im eigenen Elend gefangen, die Bevölkerung hungrig, dicht gedrängt im Sumpf der Sünde und ohne jede Hoffnung. Sie war wie ein Wald, der erstickt unter den Massen von Totholz und auf Gottes erlösenden Blitzschlag wartet – jenen Funken, der endlich das Feuer entzündet, auf dass es über das Land fege und das tote Holz verzehre, um den überlebenden Wurzeln wieder Licht und Sonne zu bringen.
Die Auslese ist Gottes natürliche Ordnung.
Ihr wisst selbst, was auf den Schwarzen Tod folgte.
Wir alle kennen die Antwort.
Die Renaissance.
Die Wiedergeburt.
So war es immer. Auf den Tod folgt die Geburt.
Um das Paradies zu erreichen, muss der Mensch durch das Inferno.
Das hat der Meister uns gelehrt.
Und doch wagt es die silberhaarige Ignorantin, mich ein Monster zu nennen. Begreift sie denn immer noch nicht die Mathematik der Zukunft? Das Entsetzen, das sie über uns bringen wird?
Ich bin der Schatten.
Ich bin eure Erlösung.
Und so stehe ich, verborgen in den Tiefen dieser Kaverne, und blicke hinaus auf die Lagune, in der sich nie spiegeln die Sterne. Hier an diesem versunkenen Ort unter den Wassern schwelt Inferno.
Bald schon wird es ausbrechen.
Und wenn es soweit ist, vermag nichts und niemand auf der Erde es mehr aufzuhalten.