KAPITEL 45

Mit seiner warmen Täfelung und der Kassettendecke hebt sich la Stanza della Guardaroba, der Kartensaal, deutlich von dem ansonsten nüchternen Interieur des Palazzo Vecchio ab. Als dieser großartige Raum dem Herzog noch als Garderobe gedient hatte, waren dessen Kleider und sonstige Habseligkeiten in Dutzenden von Schränken und Regalen aufbewahrt worden. Heutzutage sind die Schränke verschwunden und die Wände mit Karten verhangen – dreiundfünfzig an der Zahl, handgezeichnet auf Leder, die die Welt darstellen, wie sie um das Jahr 1550 herum bekannt war.

Die beeindruckende Sammlung wird dominiert von einem zwei Meter durchmessenden Globus, der auf einem massiven Sockel im Zentrum des Raums ruht. Bekannt als Mappa Mundi, war er einst der größte rotierende Globus seiner Epoche, und es heißt, eine leichte Berührung mit dem Finger hätte genügt, ihn in Drehung zu versetzen. Heute stellt er die letzte Station für Touristen dar, die sich durch die lange Abfolge von Ausstellungsräumen bis in die Sackgasse des Kartensaals vorgearbeitet haben. Sie umrunden den Globus und kehren sodann auf demselben Weg zurück, den sie gekommen sind.

Langdon und Sienna trafen atemlos im Kartensaal ein. Vor ihnen erhob sich majestätisch die gewaltige Kugel von Mappa Mundi, doch Langdon würdigte sie keines Blickes. Stattdessen wanderte sein Blick über die Wände.

»Wir müssen Armenien finden!«, sagte er. »Die Karte von Armenien!«

Sienna eilte zur rechten Wand des Kartensaals, um systematisch nach einer Karte von Armenien zu suchen, während Langdon sich nach links wandte.

Arabien … Spanien … Griechenland …

Jedes Land war in bemerkenswertem Detail dargestellt eingedenk der Tatsache, dass die Zeichnungen vor mehr als fünfhundert Jahren angefertigt worden waren – zu einer Zeit, als ein großer Teil der Welt noch gar nicht entdeckt war, geschweige denn kartiert.

Wo ist Armenien?

Langdons eidetisches Gedächtnis nutzte ihm wenig, als er sich an die Führung vor einigen Jahren zu erinnern versuchte, in deren Verlauf er die geheimen Passagen und Gänge von Florenz besichtigt hatte. Er war damals leicht benebelt gewesen, nicht zuletzt wegen des zweiten Glases Gaja Nebbiolo, das er sich vor der Tour zum Mittagessen gegönnt hatte. Passenderweise bedeutete nebbiolo »kleiner Nebel«. Doch hatte Langdon nicht vergessen, dass es in diesem Raum eine besondere Karte gab – die von Armenien –, hinter der sich etwas Einzigartiges verbarg.

Ich weiß, dass sie hier ist!, dachte er ärgerlich, während er die nicht enden wollende Reihe von Karten absuchte.

»Armenien«, rief in diesem Moment Sienna. »Hier drüben!«

Langdon fuhr zu ihr herum. Sie stand in der rechten Ecke des Saals. Er eilte zu ihr, und sie zeigte mit einem Gesichtsausdruck auf die Karte von Armenien, als wolle sie sagen: Das ist sie – und jetzt?

Langdon hatte keine Zeit für Erklärungen. Stattdessen packte er mit beiden Händen den massiven Holzrahmen der Karte und zog kräftig daran. Die gesamte Karte schwenkte in den Raum – und mit ihr ein Teil der Wand samt Vertäfelung. Dahinter kam ein geheimer Durchgang zum Vorschein.

»Okay«, sagte Sienna beeindruckt. »Armenien also.«

Ohne zu zögern trat sie in den dunklen Gang. Langdon folgte ihr und schloss die getarnte Tür hinter sich.

Trotz seiner nebelhaften Erinnerungen an die damalige Führung war ihm dieser Geheimgang im Gedächtnis haften geblieben. Er und Sienna hatten soeben quasi einen Spiegel passiert und waren im Palazzo Invisibile angelangt, jener heimlichen Welt, die sich hinter den Wänden des Palazzo Vecchio verbarg. Nur der damals herrschende Herzog und seine engsten Angehörigen hatten Zutritt zu diesem Reich gehabt.

Langdon verharrte einen Moment, um sich zu orientieren, während er die neue Umgebung auf sich wirken ließ. Sie befanden sich in einem gemauerten Korridor aus hellem Stein. Durch eine Reihe staubiger Bleiglasfenster fiel schwaches Tageslicht. Der Korridor führte fünfzig Meter hinab zu einer Tür aus Holz, an die sich Langdon ebenfalls erinnerte.

Er wandte sich nach links, wo eine schmale Treppe nach oben abzweigte. Der Weg war mit einer Kette versperrt, und ein Schild an der Wand verkündete: SENZA USCITA.

Langdon wandte sich der Treppe zu.

»Nein, Robert!«, warnte Sienna. »Da steht ›Kein Ausgang‹!«

»Danke«, antwortete Langdon und grinste schief. »So viel Italienisch kann ich auch.«

Er hakte die Kette aus und kehrte damit zur Geheimtür zurück, wo er das eine Ende der Kette um den Türgriff wickelte und das andere Ende um einen Lampenhalter an der Wand, sodass die Tür von außen nicht mehr geöffnet werden konnte.

»Oh«, sagte Sienna dümmlich. »Gute Idee.«

»Das wird sie nicht lange aufhalten«, sagte Langdon. »Aber wir brauchen auch nicht viel Zeit. Kommen Sie.«

Er rannte los, und Sienna folgte ihm dicht auf den Fersen.

Als die Karte von Armenien endlich krachend aufflog, stürmten Agent Brüder und seine Männer den schmalen Gang hinunter, gefolgt von der schwangeren Kuratorin, die schnaufend hinter ihnen zurückfiel. Brüder rannte zur Holztür am anderen Ende des Gangs, stieß sie auf, und ein Schwall kalter Luft wehte ihm entgegen. Grelles Sonnenlicht blendete ihn.

Brüder und sein Team hatten einen Laufsteg erreicht, der sich draußen am Dach des Palazzo entlangzog. Brüders Blick folgte dem Verlauf des Stegs. Er führte zu einer weiteren Tür, fünfzig Meter entfernt.

Brüder sah sich um. Zu seiner Linken erhob sich das Dach des Saals der Fünfhundert wie ein Gebirge. Unmöglich, das zu überqueren. Auf der rechten Seite wurde der Laufsteg von einem tiefen Lichtschacht gesäumt. Ein Sturz wäre tödlich.

Er richtete den Blick wieder geradeaus. »Dort entlang!«

Brüder und seine Männer rannten über den Steg zur zweiten Tür, während die Aufklärungsdrohne wie ein hungriger Geier über ihnen schwebte.

Sie brachen durch die Tür und mussten so unvermittelt stehenbleiben, dass sie beinahe übereinander gestürzt wären.

Vor ihnen lag eine winzige Kammer mit nackten Wänden, die keinen anderen Ausgang besaß. Ein langer Holztisch stand an der Seite. Von der freskenverzierten Decke starrten groteske Gestalten höhnisch auf sie herab.

Eine Sackgasse.

Einer von Brüders Männern trat zu einer Informationsplakette an der Wand. »Moment«, sagte er. »Hier steht, es gibt eine finestra in diesem Raum – eine Art verborgenes Fenster?«

Brüder blickte sich um, konnte jedoch kein Fenster entdecken. Er durchquerte die Kammer und las die Plakette selbst.

Offensichtlich handelte es sich um das ehemalige private studio der Herzogin Bianca Cappello, und es gab ein verborgenes Fenster – una finestra segrata –, durch welches Bianca ungesehen beobachten konnte, wie ihr Mann im Saal der Fünfhundert seine Reden hielt.

Brüder suchte den Raum erneut ab und entdeckte eine kleine, gut getarnte Öffnung in der Wand. Sie war mit einem Gitter gesichert. Sind sie etwa durch dieses Loch gekrochen?

Er untersuchte die Öffnung eingehender. Sie schien zu klein für jemanden von Langdons Statur. Brüder drückte das Gesicht an das Gitter und spähte hindurch. Er blickte von hoch oben in den Saal der Fünfhundert. Hier sind sie definitiv nicht durchgekommen. Wohin zum Teufel sind sie verschwunden?

Brüder erhob sich und drehte sich zu seinen Männern um, und in diesem Moment gewann die Frustration die Überhand in ihm. In einem seltenen Anfall von unkontrollierter Emotion warf Agent Brüder den Kopf in den Nacken und stieß einen Wutschrei aus.

Es war ohrenbetäubend laut in der kleinen Kammer.

Unten im Saal der Fünfhundert fuhren Besucher und Polizisten herum und starrten erschrocken zu der kleinen vergitterten Öffnung hoch oben an der Wand. Dem Lärm nach zu urteilen, diente die ehemalige Geheimkammer der Herzogin neuerdings als Käfig für ein wildes Tier.

Sienna Brooks und Robert Langdon standen in völliger Dunkelheit.

Wenige Minuten zuvor hatte Sienna zugesehen, wie Langdon geschickt die Kette benutzt hatte, um die geheime Tür hinter der Karte von Armenien zu sichern.

Zu ihrer Überraschung jedoch waren sie anschließend nicht den Korridor entlang geflüchtet, sondern die schmale, steile Treppe hinauf, an deren Wand das Schild SENZA USCITA hing.

»Robert!«, hatte sie verwirrt gerufen. »Ich dachte, wir wollen nach unten?«

»Wollen wir auch«, antwortete Langdon mit einem Blick über die Schulter. »Aber manchmal muss man zuerst nach oben, wenn man runter will.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Erinnern Sie sich an Satans Nabel?«

Was zum Teufel redet er jetzt schon wieder? Sienna rannte hinter ihm her, während sie über den Sinn seiner Worte nachgrübelte.

»Haben Sie Dantes Inferno nicht gelesen?«, hakte er nach.

Doch … aber damals war ich sieben. Einen Sekundenbruchteil später dämmerte es ihr. »Oh«, sagte sie. »Satans Nabel. Ich erinnere mich.«

Langdon spielte auf den Schluss von Dantes Inferno an. Um aus der Hölle zu entkommen, musste Dante über den behaarten Bauch des riesigen Satan klettern. Als er den Nabel erreichte – den vorgeblichen Mittelpunkt der Erde –, kehrte sich die Gravitation unvermittelt um, und Dante musste von da an aufwärts klettern, um tiefer nach unten ins Fegefeuer zu gelangen.

Sienna erinnerte sich an ihre Enttäuschung über Dantes laienhafte Vorstellung bezüglich der Gravitation im Erdmittelpunkt. Dante mochte ein Genie gewesen sein, aber definitiv nicht auf dem Gebiet der Mechanik vektorieller Kräfte.

Sie erreichten das Ende der Treppe und fanden eine einsame Tür mit der Aufschrift SALA DEI MODELLI DI ARCHITETTURA.

Langdon öffnete sie und bedeutete Sienna einzutreten. Dann folgte er ihr und zog die Tür hinter sich zu.

Der kahle Raum, in dem sie sich nun befanden, war bis auf ein Gewirr von Vitrinen und Schaukästen leer. In den Kästen ruhten Modelle von Vasaris architektonischen Entwürfen, von denen Sienna allerdings kaum Notiz nahm. Was sie hingegen bemerkte, war die Tatsache, dass der Raum keine Fenster, keine Türen und, wie am Fuß der Treppe angekündigt, keinen Ausgang besaß.

»Gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts war Nerio I., genannt Herzog von Athen, der Herrscher im Palast«, erklärte Langdon. »Er ließ diesen geheimen Fluchtweg bauen, für den Fall eines Angriffs. Der Geheimweg führt zu einer winzigen Tür in einer Seitengasse. Wenn wir es bis dorthin schaffen, können wir unbemerkt nach draußen. Hier, sehen Sie den Gang, an der Seite?« Er deutete auf eines der Modelle.

Er hat mich hergeführt, um mir Modelle zu zeigen?

Sienna warf einen nervösen Blick auf die Miniatur und bemerkte die geheime Treppe, die verborgen zwischen der inneren und der äußeren Wand hinabführte, den ganzen Weg vom Dach bis nach unten auf die Straße.

»Ich sehe die Treppe, Robert«, antwortete sie gereizt. »Aber sie liegt auf der anderen Seite des Palazzo! Wir schaffen es nie bis dorthin!«

»Haben Sie ein wenig Vertrauen«, erwiderte Langdon grinsend.

Plötzlich krachte es unter ihnen. Offenbar war soeben der Eingang hinter der Karte von Armenien aufgebrochen worden. Sie standen reglos da und lauschten auf die eiligen Schritte der Soldaten. Keiner schien auf die Idee zu kommen, dass die Beute noch weiter nach oben gestiegen sein könnte – schon gar nicht eine schmale, steile Stiege hinauf, die mit SENZA USCITA markiert war.

Als der Lärm von unten verklungen war, schob sich Langdon zielstrebig zwischen den Vitrinen hindurch zu einem großen Hängeschrank auf der anderen Seite des Raums. Der Schrank maß vielleicht einen Meter im Quadrat und hing einen Meter über dem Boden. Ohne zu zögern packte Langdon den Griff und öffnete die Tür.

Sienna runzelte überrascht die Stirn.

Das Schrankinnere sah aus wie ein riesiges Nichts … als wäre das antike Möbelstück ein Portal in eine andere Welt, eine Welt voller Dunkelheit.

»Folgen Sie mir«, sagte Langdon.

Er nahm die Taschenlampe, die einsam an der Wand neben der Öffnung an einem Haken hing, und zog sich mit verblüffender Kraft und Wendigkeit nach oben in den Schrank. Einen Moment später war er in dem Loch verschwunden.