KAPITEL 83

Ich brauche Luft, dachte Robert Langdon. Ich muss etwas sehen … irgendwas.

Er hatte das Gefühl, als würde sich der fensterlose Rumpf immer enger um ihn zusammenziehen. Und die seltsame Geschichte, die er soeben gehört hatte, war seiner geistigen Verfassung auch nicht zuträglich. Er hatte Kopfweh von den vielen offenen Fragen … die meisten davon kreisten um Sienna.

Seltsamerweise vermisste er sie.

Sie hat alles nur gespielt, ermahnte er sich. Mich benutzt.

Wortlos erhob sich Langdon und ging am Provost vorbei in den vorderen Teil des Flugzeugs. Durch die offene Cockpittür fiel Sonnenlicht in die Kabine und zog ihn magisch an. Unbemerkt von den Piloten stellte er sich in die Tür und ließ sein Gesicht von der Sonne wärmen. Der weite, offene Raum vor ihm war eine wahre Wohltat. Der klare blaue Himmel sah so friedlich aus … so ewig.

Nichts ist ewig. Langdon konnte noch immer nicht ganz fassen, dass sie vor einer potenziellen Katastrophe standen.

»Professor«, sagte eine leise Stimme hinter ihm.

Langdon wandte sich um … und wich erschrocken zurück. Vor ihm stand Dr. Ferris. Als Langdon den Mann zum letzten Mal gesehen hatte, hatte er sich auf dem Boden des Markusdoms gewunden und nach Luft geschnappt. Und jetzt lehnte er an einer Flugzeugluke, trug eine Baseballkappe, und sein rosafarbenes Gesicht war mit einer Zinksalbe eingerieben. Sein gesamter Rumpf war bandagiert, und er atmete flach. Falls Ferris mit dem Pathogen infiziert war, so schien sich zumindest hier an Bord niemand Gedanken über die damit verbundene Ansteckungsgefahr zu machen.

»Sie … leben?«, fragte Langdon und starrte ihn an.

Ferris nickte müde. »Mehr oder weniger.« Das Verhalten des Mannes hatte sich dramatisch verändert. Er wirkte nun wesentlich entspannter.

»Aber ich dachte …« Langdon hielt inne. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«

Ferris lächelte mitfühlend. »Sie haben heute viele Lügen gehört. Da dachte ich mir, ich nehme mir wenigstens kurz die Zeit, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Wie Sie vielleicht schon vermutet haben, arbeite ich nicht für die WHO, und ich habe Sie auch nie in Cambridge besucht.«

Langdon nickte. Er war zu müde, als dass ihn jetzt noch etwas überraschen konnte. »Sie arbeiten für den Provost.«

»Ja. Er hat mich geschickt, um Sie und Sienna zu unterstützen und um Ihnen bei der Flucht vor dem SRS-Team zu helfen.«

»Dann haben Sie Ihren Job ja perfekt gemacht.« Langdon erinnerte sich daran, wie Ferris im Baptisterium aufgetaucht war und ihn davon überzeugt hatte, dass er für die WHO arbeitete. Und dann hatte er Siennas und seine Flucht aus Florenz organisiert. »Vermutlich sind Sie auch kein Arzt.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe diese Rolle nur gespielt. Ich sollte Sienna Brooks dabei helfen, die Illusion so lange aufrechtzuerhalten, bis Sie herausgefunden hätten, wohin die Suche führt. Der Provost wollte unbedingt als Erster vor Ort sein, um Zobrists Arbeit vor Sinskey zu schützen.«

»Und Sie hatten keine Ahnung, dass es sich dabei um ein Pathogen handelt?«, hakte Langdon nach. Er war noch immer skeptisch, was Ferris’ seltsamen Ausschlag und die inneren Blutungen betraf.

»Natürlich nicht! Als Sie das Pathogen zum ersten Mal erwähnten, nahm ich an, Sienna hätte Ihnen die Geschichte nur erzählt, um Sie zu motivieren. Also habe ich einfach mitgespielt. Ich habe uns in den Zug nach Venedig gebracht … und dann hat sich unsere Mission geändert.«

»Wie das?«

»Der Provost hat Zobrists bizarres Video gesehen.«

Ja, das kann einen ganz schön aus dem Konzept bringen. »Er hat erkannt, dass er es bei Zobrist mit einem Wahnsinnigen zu tun hat?«

»Genau. Der Provost erkannte mit einem Mal, auf was das Konsortium sich eingelassen hatte. Er war entsetzt. Er wollte unverzüglich mit der Person sprechen, die Zobrist am besten kannte: FS-2080. Er wollte wissen, ob sie über Zobrists Plan informiert war.«

»FS-2080 … Sie meinen …«

»Entschuldigung, ich meine Sienna Brooks. FS-2080 war der Codename, den sie sich für diese Operation ausgesucht hat, offenbar irgend so ein Transhumanistending. Der Provost hatte keine Möglichkeit, Sienna zu erreichen, außer durch mich.«

»Der Anruf im Zug«, sagte Langdon. »Ihre ›kranke Mutter‹.«

»Ich konnte den Anruf des Provosts ja wohl kaum in Ihrer Gegenwart annehmen. Er hat mir von dem Video erzählt, und ich war genauso schockiert wie er. Er hoffte, dass Sienna Brooks ebenfalls getäuscht worden war. Doch als ich ihm sagte, dass Sie und Sienna über eine Seuche geredet hätten und die Suche um jeden Preis fortsetzen wollten, wusste er, dass Sienna und Zobrist unter einer Decke steckten. Von dem Augenblick an war Sienna Brooks der Feind. Ich erhielt den Befehl, ständig über unsere Position in Venedig zu berichten. Er wollte ein Team schicken, um Brooks aus dem Spiel zu nehmen. Agent Brüders Team hätte sie im Dom fast geschnappt, doch sie konnte im letzten Moment fliehen.«

Langdon starrte zu Boden. Vor seinem geistigen Auge sah er Siennas braune Augen, die ihn kurz vor seiner Gefangennahme traurig angesehen hatten.

Es tut mir ja so leid, Robert. Alles tut mir leid.

»Sie ist knallhart«, bemerkte Ferris. »Sie haben vermutlich nicht mitbekommen, wie Sie mich im Dom außer Gefecht gesetzt hat, oder?«

»Außer Gefecht gesetzt?«

»Ja, als die Soldaten gekommen sind, wollte ich nach Ihnen rufen und Sienna verraten. Aber sie hat das wohl geahnt und mir den Handballen gegen die Brust gerammt.«

»Was?«

»Ich habe nicht gewusst, wie mir geschah. Das war irgendein Kampfsporttrick, nehme ich an. Weil ich an der Stelle bereits verletzt war, bin ich vor Schmerz fast bewusstlos geworden. Es hat fünf Minuten gedauert, bis ich wieder Luft bekam. Und ehe sich irgendwelche Zeugen melden konnten, hatte Sienna Sie längst auf den Balkon hinausgezerrt.«

Langdon war wie vor den Kopf gestoßen. Er dachte an die alte Italienerin, die Sienna angebrüllt und sich dabei immer wieder gegen die Brust geschlagen hatte. L’hai colpito al petto!

Ich kann nicht!, hatte Sienna erwidert. Eine Herzmassage würde ihn umbringen! Schauen Sie sich doch nur einmal seine Brust an!

Als Langdon die Szene innerlich Revue passieren ließ, erkannte er, wie geschickt Sienna improvisiert hatte. Sie hatte das Italienisch der alten Frau clever falsch übersetzt. L’hai colpito al petto war keine Aufforderung zu einer Herzmassage gewesen, sondern der wütende Vorwurf: Du hast ihm gegen die Brust geschlagen!

In all dem Chaos war das Langdon nicht aufgefallen.

Ferris schenkte ihm ein gequältes Lächeln. »Wie Sie vielleicht wissen, ist Sienna Brooks ziemlich klug.«

Langdon nickte. Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.

»Sinskeys Männer haben mich auf die Mendacium gebracht und medizinisch versorgt. Der Provost hat mich gebeten mitzukommen. Ich kann vielleicht bei der Analyse von Siennas Verhalten helfen, schließlich bin ich außer Ihnen der Einzige, der sie etwas näher kennengelernt hat.«

Langdon nickte. Der Ausschlag des Mannes lenkte ihn ab. »Was ist eigentlich mit Ihrem Gesicht?«, fragte er. »Und der Fleck auf Ihrer Brust, das ist doch nicht …«

»Zobrists Krankheit?« Ferris lachte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja nicht, was man Ihnen bis jetzt alles erzählt hat, aber ich habe heute gleich die Rolle von zwei Ärzten gespielt.«

»Wie bitte?«

»Als ich im Baptisterium aufgetaucht bin, haben Sie mich doch gefragt, woher Sie mich kennen.«

»Stimmt. Sie kamen mir vage bekannt vor. Es waren Ihre Augen, glaube ich. Sie sagten, Sie seien derjenige gewesen, der mich in Cambridge konsultiert hat …« Langdon hielt inne. »Jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt, also …?«

»Ich kam Ihnen bekannt vor, weil wir uns tatsächlich schon einmal begegnet sind, aber nicht in Cambridge.« Der Mann sah Langdon in die Augen. Der Professor schien ihn nach wie vor nicht zu erkennen. »Ich war der erste Mensch, den Sie gesehen haben, als Sie an diesem Morgen im Krankenhaus aufgewacht sind.«

Langdon dachte an das kleine düstere Krankenzimmer. Er war wie benebelt gewesen und hatte seine Umgebung nur undeutlich wahrgenommen. Trotzdem: Der erste Mensch, den er gesehen hatte, war ein blasser, älterer Arzt mit buschigen Augenbrauen und Bart gewesen; der Mann hatte nur Italienisch gesprochen.

»Nein, Sie waren nicht der erste«, widersprach er. »Das war Dr. Marconi.«

»Scusi professore«, unterbrach ihn Ferris in makellosem Italienisch. »Ma non si ricorda di me?« Er zog die Schultern hoch wie ein alter Mann und strich sich über den nicht vorhandenen Bart. »Sono il dottore Marconi.«

Vor Staunen stand Langdon der Mund offen. »Sie waren Dr. Marconi?«

»Deshalb kamen Ihnen meine Augen später im Baptisterium so bekannt vor. Bis dahin hatte ich noch nie einen falschen Bart und falsche Augenbrauen getragen, deshalb wusste ich nicht, dass ich auf den Klebstoff hochgradig allergisch reagiere. Meine Wangen, mein Hals und die Region um meine Augenbrauen wurden wund und brannten. Sie haben sicher einen gehörigen Schreck bekommen, als Sie mich gesehen haben … Schließlich waren Sie ja auf der Jagd nach einem Krankheitserreger.«

Langdon hatte es die Sprache verschlagen. Jetzt erinnerte er sich wieder, dass ›Marconi‹ sich kurz vor dem Überfall den Bart gekratzt hatte.

»Als wäre das nicht schon schlimm genug«, fuhr der Mann fort und deutete auf seine verbundene Brust, »hat sich mitten in unserer kleinen Action-Szene auch noch das Kunstblut-Päckchen verschoben. Ich konnte es in der Hektik nicht mehr zurechtrücken. Als der Sprengsatz zündete, hat mir die kleine Explosion eine Rippe gebrochen und einen dicken Bluterguss beschert. Ich hatte den ganzen Tag Probleme beim Atmen.«

Und ich dachte, er wäre infiziert.

Der Mann atmete tief ein und fuhr vor Schmerz zusammen. »Ich sollte mich besser ein bisschen ausruhen.« Bevor er sich abwandte, deutete er an Langdon vorbei. »Sie bekommen ohnehin Gesellschaft.«

Langdon drehte sich um und sah Dr. Sinskey durch die Kabine auf sich zukommen. »Professor, da sind Sie ja!«

Die Direktorin der WHO wirkte erschöpft, doch in ihrer Miene zeigte sich ein Ausdruck von Hoffnung. Sie hat etwas herausgefunden.

»Tut mir leid, dass ich Sie alleingelassen habe«, sagte Sinskey und trat neben Langdon. »Wir haben alles koordiniert und ein wenig nachgeforscht.« Sie deutete auf die offene Cockpittür. »Wie ich sehe, tanken Sie ein wenig Sonnenlicht, hm?«

Langdon zuckte mit den Schultern. »Ihr Flugzeug braucht Fenster.«

Sinskey lächelte mitfühlend. »Apropos Licht … Ich hoffe, der Provost hat die komplexen Zusammenhänge ein wenig erhellen können?«

»Ja. Allerdings hat er mir nichts erzählt, was mich in irgendeiner Weise erfreut hätte.«

»Ich fürchte, ich habe auch keine guten Nachrichten«, erwiderte Sinskey und vergewisserte sich, dass niemand sie hören konnte. »Vertrauen Sie mir«, flüsterte sie. »Das alles wird ernste Konsequenzen für ihn und seine Organisation haben. Dafür werde ich sorgen. Im Augenblick müssen wir uns jedoch darauf konzentrieren, den Behälter zu finden, bevor er sich auflöst und das Pathogen freisetzt.«

Oder bevor Sienna ihn findet und den Auflösungsprozess beschleunigt.

»Ich muss mit Ihnen über das Gebäude sprechen, in dem sich Dandolos Grab befindet«, sagte Sinskey.

Seit Langdon ihren genauen Zielort kannte, sah er das prächtige Gebilde schon vor seinem geistigen Auge. Das Mouseion der Heiligen Weisheit.

Sinskey fuhr fort. »Ich habe soeben etwas Aufregendes erfahren. Wir haben mit einem Historiker vor Ort telefoniert. Er ahnt natürlich nicht, warum wir uns für Dandolos Grab interessieren, aber ich habe ihn gefragt, ob er weiß, was sich unter dem Grab befindet. Und jetzt raten Sie mal, was er geantwortet hat.« Sie lächelte. »Wasser.«

Langdon war überrascht. »Wirklich?«

»Ja. Offenbar sind die unteren Etagen des Gebäudes komplett geflutet. Im Laufe der Jahrhunderte ist der Grundwasserspiegel dort gestiegen, sodass mindestens zwei Ebenen vollgelaufen sind. Der Mann hat mir erzählt, dass es dort alle möglichen Lufttaschen und Räume gibt, die nur teilweise unter Wasser stehen.«

Mein Gott. Langdon rief sich Zobrists Video in Erinnerung: die seltsam beleuchtete Kaverne, auf deren moosbewachsenen Wänden die Schatten von Säulen zu sehen gewesen waren. »Das in dem Video … Das war einer dieser überfluteten Räume.«

»Genau.«

»Aber … wie ist Zobrist da runtergekommen?«

Sinskeys Augen funkelten. »Das ist das Erstaunliche. Sie werden es nicht glauben.«

Keine zwei Kilometer von der Küste Venedigs entfernt, auf der schmalen Insel Lido di Venecia, hob in diesem Moment eine schlanke Cessna Citation Mustang von der Landebahn des Flughafens Nicelli ab. Sie stieg in den immer dunkler werdenden Himmel empor.

Der Besitzer des Jets, der prominente Kostümdesigner Giorgio Venci, war nicht an Bord, doch er hatte die Piloten angewiesen, die attraktive junge Passagierin zu fliegen, wohin sie wollte.