KAPITEL 60

Der New Yorker Verleger Jonas Faukman wachte auf, als das Telefon in seinem heimischen Arbeitszimmer klingelte. Er rollte sich herum und sah auf seinen Wecker: 4.28h.

In der Verlagswelt waren frühmorgendliche Notfälle ebenso selten wie ein Erfolg über Nacht. Entnervt stieg Faukman aus dem Bett und lief den Flur hinunter in sein Büro.

»Hallo?«

Eine vertraute Baritonstimme antwortete ihm. »Jonas, Gott sei Dank, Sie sind daheim. Ich bin es. Robert. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«

»Natürlich haben Sie mich geweckt! Es ist vier Uhr morgens!«

»Tut mir leid, ich bin in Europa.«

Und in Harvard lehrt man keine Zeitzonen?

»Ich stecke in Schwierigkeiten, Jonas. Sie müssen mir einen Gefallen tun.« Langdon klang angespannt. »Es geht um die Firmenkarte für NetJets.«

»NetJets?« Faukman stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Robert, wir sind ein Verlag. Wir nutzen keine Privatflugzeuge.«

»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt, mein Freund.«

Faukman seufzte. »Okay, lassen Sie mich das anders formulieren. Wir haben keine Privatflugzeuge für Autoren, die dicke Bücher über Religionsgeschichte schreiben. Wenn Sie Fifty Shades of Iconography schreiben wollen, können wir darüber reden.«

»Jonas, egal was der Flug kostet, ich werde es zurückzahlen. Sie haben mein Wort darauf. Habe ich je ein Versprechen gebrochen?«

Abgesehen davon, dass du deinen letzten Abgabetermin um drei Jahre überzogen hast? Faukman war die Dringlichkeit in Langdons Stimme nicht entgangen. »Sagen Sie mir, was los ist. Dann werde ich versuchen, Ihnen zu helfen.«

»Ich habe keine Zeit, Ihnen alles zu erklären, aber ich brauche den Flieger wirklich dringend. Es geht um Leben und Tod.«

Faukman arbeitete schon lange mit Langdon zusammen. Er kannte dessen trockenen Sinn für Humor, doch das hier war kein Scherz. Der Mann meint das todernst. Faukman seufzte und traf eine Entscheidung. Mein Geschäftsführer wird mich kreuzigen. Dreißig Sekunden später hatte Faukman sich die Nummer von Langdons Reisepass aufgeschrieben sowie alle Details des gewünschten Flugs.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Langdon. Sein Verleger hatte merklich gezögert, als er Startpunkt und Ziel des Flugs erfahren hatte.

»Jaja«, antwortete Faukman. »Ich wusste nur nicht, dass Sie in Italien sind.«

»Das hat mich auch überrascht«, erwiderte Langdon. »Nochmal danke, Jonas. Ich fahre jetzt zum Flughafen.«

Die US-Zentrale von NetJets liegt in Columbus, Ohio. Rund um die Uhr steht dort ein Serviceteam bereit.

Deb Kier hatte soeben einen Anruf von einer der kleineren Anteilseignerfirmen von NetJets in New York erhalten. »Einen Augenblick, Sir«, sagte sie, rückte ihr Headset zurecht und gab einen Befehl in den Computer ein. »Im Grunde genommen ist das ein Flug unserer Außenstelle in Europa, aber ich kann das von hier aus für Sie arrangieren.« Rasch loggte sie sich in das System von NetJets Europe in Paço de Arcos, Portugal, ein und überprüfte die aktuellen Positionen ihrer Jets in Italien und den Nachbarländern.

»Okay, Sir«, sagte sie. »Wie es aussieht, haben wir gerade eine Citation Excel in Monaco, die wir in weniger als einer Stunde nach Florenz dirigieren könnten. Wäre das noch passend für Mr. Langdon?«

»Das wollen wir doch hoffen«, erwiderte der Verlagsmann. Er klang erschöpft und auch ein wenig verärgert. »Wir wissen Ihre Mühe sehr zu schätzen.«

»Es ist uns ein Vergnügen, Sir«, sagte Deb. »Und Mr. Langdon würde gerne nach Genf fliegen?«

»Offensichtlich.«

Deb schrieb weiter. »So«, verkündete sie schließlich. »Alles geregelt. Mr. Langdon wird vom Flughafen Tassignano in Lucca aus starten; das liegt etwa achtzig Kilometer von Florenz entfernt. Der Flug geht um 11.20 Uhr italienischer Zeit. Mr. Langdon sollte zehn Minuten vorher dort sein. Sie wünschen keinen Transfer zum Flughafen, kein Catering, und Sie haben mir seine Daten gegeben … Damit wäre also alles geregelt. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

»Einen neuen Job vielleicht?«, antwortete er und lachte. »Danke. Sie haben mir sehr geholfen.«

»Es war uns ein Vergnügen. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Nacht.« Deb legte auf und schickte sich an, die Reservierung abzuschließen. Sie gab Robert Langdons Passnummer ein. Unvermittelt erschien ein rotes Warnfenster auf ihrem Bildschirm. Deb las die Nachricht, und ihre Augen wurden immer größer.

Das muss ein Fehler sein.

Sie versuchte erneut, Langdons Daten einzugeben, und wieder erschien die blinkende Warntafel. Die gleiche Warnung würde weltweit auf jedem Computer jeder Fluggesellschaft auftauchen, sobald Langdon versuchte, einen Flug zu buchen.

Deb Kier starrte ungläubig auf den Monitor. NetJets nahm die Privatsphäre seiner Kunden sehr ernst, doch dieses Warnfenster übertrumpfte alle Firmenvorschriften.

Deb Kier verständigte sofort die Behörden.

Agent Brüder klappte sein Mobiltelefon zu und scheuchte seine Männer in die Vans zurück.

»Langdon ist unterwegs«, verkündete er. »Er nimmt einen Privatjet nach Genf. Die Maschine startet in weniger als einer Stunde in Lucca, achtzig Kilometer westlich von hier. Wenn wir uns beeilen, sind wir noch vor ihm da.«

Im selben Augenblick raste ein gemieteter Fiat über die Via dei Panzani in Richtung Norden zum Hauptbahnhof von Florenz.

Auf dem Rücksitz duckten sich Langdon und Sienna so tief wie möglich, während Dr. Ferris vorne neben dem Fahrer saß. Die Reservierung bei NetJets war Siennas Idee gewesen. Mit etwas Glück würde das ihre Verfolger eine Zeit lang ablenken, sodass sie unbemerkt den Bahnhof betreten konnten, auf dem es ansonsten von Polizei nur so gewimmelt hätte. Glücklicherweise war Venedig mit dem Zug nur zwei Stunden entfernt, und für Inlandsfahrten brauchte man keinen Pass.

Langdon bemerkte, dass Sienna Dr. Ferris besorgt musterte. Der Mann litt offenbar unter Schmerzen. Jeder Atemzug schien ihm Höllenqualen zu bereiten.

Hoffentlich irrt sie sich nicht, was seine Krankheit betrifft, dachte Langdon. Er betrachtete den Ausschlag des Mannes und stellte sich vor, wie die Keime durch den Innenraum des Wagens flogen. Selbst Ferris’ Fingerspitzen waren blutig rot. Langdon verdrängte die Gedanken und sah zum Fenster hinaus.

Als sie sich dem Bahnhof näherten, kamen sie am Grand Hotel Baglioni vorbei. In dem Gebäude fanden häufig Events im Rahmen einer Konferenz für Kunstgeschichte statt, an der Langdon jedes Jahr teilnahm. Beim Anblick des Hotels wurde ihm unvermittelt bewusst, dass er gerade etwas tat, was er noch nie in seinem Leben getan hatte.

Ich verlasse Florenz, ohne auch nur einmal den David besucht zu haben.

Stumm entschuldigte er sich bei Michelangelo, richtete den Blick auf den vor ihm liegenden Bahnhof … und seine Gedanken auf Venedig.