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Am Montagmorgen schaut Karim aus der Haustür nach draußen. Es regnet ein bisschen – ein Schleier aus feinen Tröpfchen. Karim zieht sich die Kapuze seiner Regenjacke über den Kopf. »Ich gehe jetzt!«, ruft er über die Schulter zurück ins Haus. »Bis heute Mittag!«

Auf dem Gartenweg stehen große Pfützen, die Karim vorsichtig umgeht. Als er bei Lenne in den Garten kommt, fällt ihm der ausgehöhlte Kürbis neben der Haustür auf. Das Ding steht voller Wasser, und das Teelicht ist zu einer Schwimmkerze geworden. Er will gerade auf den Klingelknopf drücken, als Marit um die Ecke kommt.

»Lenne kommt gleich«, sagt sie und zeigt mit dem Daumen nach hinten. »Stell dich doch grad unters Vordach.«

»Der Kürbis ist ein bisschen abgesoffen«, meint Karim und zeigt darauf.

»Ja, den werde ich mal wieder wegräumen. Der wird jetzt nicht mehr gebraucht, Halloween ist ja vorbei.«

»Zum Glück, ja«, sagt Karim leise.

»Sag mal, ich bin gespannt, ob dieses Mädchen, wie heißt sie noch mal, heute schon wieder in die Schule kommt.«

»Rinnie«, sagt Karim.

»Aber vielleicht wäre das ein bisschen zu schnell. Obwohl, ihr scheint nichts zu fehlen, soweit man hört.« Marit geht zu ihrem Auto. »Sehen wir uns am Nachmittag noch? Ihr hattet doch irgendwas ausgemacht, oder?«

»Hallo, Karim«, ruft Lenne, rennt auf ihn zu und nimmt ihn am Arm. »Komm, wir gehen.«

»Müssen wir uns beeilen?«, fragt Karim erstaunt. »Wir haben doch genug Zeit, wir sind sogar ein bisschen zu früh. Bis es klingelt, ist es noch gut eine halbe Stunde.«

Aber Lenne schleift ihn aus dem Garten, winkt noch kurz ihrer Mutter und schiebt Karim dann vor sich her auf die gegenüberliegende Straßenseite. Am Zaun entlang der Heide bleibt sie stehen.

»Eben noch warten, bis Marit weg ist«, murmelt sie.

»Warum? Wir können jetzt doch wieder über die Heide, da gibt es nichts mehr, vor dem wir Angst haben müssen.«

»Aber das weiß meine Mutter nicht«, erinnert ihn Lenne. »Es weiß doch niemand, was mit Rinnie passiert ist. Über die Heide zu gehen erlauben mir meine Eltern immer noch nicht.«

»Also müssen wir es weiter heimlich machen.« Karim nickt.

Sobald Marits Auto von der Straße abgebogen ist, klettern Karim und Lenne über den Zaun. Nebeneinander gehen sie den schmalen Sandweg entlang, der zum Birkenwäldchen führt.

»Ich finde den Regen schön«, sagt Lenne und legt den Kopf in den Nacken, um sich die feinen Regentröpfchen auf die Wangen spritzen zu lassen.

»Ich finde ihn nicht so besonders«, meint Karim und wirft Lenne verstohlen einen säuerlichen Blick zu. Dann runzelt er die Augenbrauen. »Bist du plötzlich ein Stück gewachsen?«

Lenne grinst, gibt aber keine Antwort.

»Oder hast du Schuhe mit hohen Absätzen oder so was an?«, brummt Karim und schaut nach unten auf Lennes Füße. »Lenne!«, ruft er dann und stößt sie vor lauter Überraschung an.

Lenne lacht laut auf.

Nervös schaut sich Karim um. »Komm wieder auf den Boden zurück, du verrücktes Huhn!«

»Wieso denn? Findest du das nicht klasse? Ich hab wie blöd daran gearbeitet, Mann!«

Karim starrt kopfschüttelnd auf Lennes Füße, die rund zehn Zentimeter über dem Sandweg schweben. »Du gruselige Hexe!«, sagt er und gibt ihr noch einen Schubs.

»Gut, was?«

»Ja, aber jetzt komm mal wieder runter«, knurrt Karim energisch.

Lenne kommt seinem Wunsch brav nach, und schweigend gehen sie weiter.

Als sie unter den Birken laufen, bleibt Karim plötzlich stehen. »Warte mal, ich hab noch was … ich weiß nicht, was ich damit machen soll.« Er nimmt seinen Rucksack von den Schultern und zieht die Außentasche auf. »Das hab ich immer noch«, sagt er und holt Erins Medaillon hervor. »Vielleicht will sie es ja wieder zurückhaben, denn sonst …« Karim seufzt und hält Lenne das Medaillon hin, »denn sonst sollst du es kriegen.«

Zögernd nimmt Lenne es. Ein paar Sekunden lang liegt es auf ihrer Hand, während sie es mit gerunzelter Stirn betrachtet. Dann schließt sie ihre Finger darum, kneift die Augen zu und sagt laut und deutlich: »Erin!« Und dann noch einmal lauter: »Erin!«

Dicht hinter ihnen knackt ein Zweig.

Karim dreht sich um.

»Lieber Himmel, Luna, ich habe noch geschlafen!« Erin lacht und reibt sich die Augen. »Hexen sind keine Morgenmenschen.«

»Oh … tut mir leid«, sagt Lenne erschrocken.

»Das hilft jetzt auch nichts mehr.« Erin seufzt und streicht fröstelnd über den dünnen weißen Stoff ihrer Ärmel.

Karim und Lenne sehen jetzt erst, dass sie nur mit einem Nachthemd bekleidet ist.

Lenne schlägt sich eine Hand vor den Mund. »Und dann regnet es auch noch«, sagt sie schuldbewusst. »Ich wollte nur schnell … wir wollten wissen, was wir mit deinem Medaillon machen sollen. Willst du es zurück?«

Erin schüttelt den Kopf.

»Ich hab gesagt, dass Lenne es haben kann, wenn du selbst es nicht willst«, erklärt Karim. »Ich glaub, dass ich es nicht mehr brauche.«

»Prima.« Erin nickt Lenne zu. »Dann kannst du mich jederzeit rufen – wenn du reden willst oder Fragen hast oder uns besuchen möchtest.«

»Ein Telefonanschluss wäre genauso praktisch«, murmelt Karim.

Lenne wirft ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Jetzt sei mal nicht so spießig«, sagt sie und streckt ihm die Zunge raus.

Erin lacht über die Bemerkung und zwinkert Karim verschwörerisch zu.

»Ach, und Erin … sieh mal, was ich kann!«, ruft Lenne dann.

»Lenne kann ein Kunststückchen«, schnaubt Karim, verschränkt die Arme vor der Brust und macht ein säuerliches Gesicht. Eigentlich ist er nur ein bisschen eifersüchtig.

Erin reagiert mit der angemessenen Begeisterung auf Lennes Vorführung, sieht aber auch Karims finsteres Gesicht. Sie strubbelt ihm über den Kopf. »Wirst du auch gut auf deine Freundin aufpassen?«, fragt sie ihn. »Immer wenn sie allzu auffällige Hexenkunststücke vorführen will, musst du uns auf jeden Fall warnen!« Sie beugt sich zu Lenne vor und sieht sie eindringlich an. »Denk daran, dass das für keine anderen Augen als für unsere bestimmt ist.«

»Ja«, sagt Karim sofort, »fang bloß nicht an, dich auf dem Schulhof mit so was aufzuplustern! Es ist ein Geheimnis, Lenne!«

»Natürlich!«, sagt Lenne und hakt sich bei Karim ein. »Natürlich ist es ein Geheimnis. Unser Geheimnis. Du bist der Einzige, der davon weiß, und so muss es auch bleiben.«

Ein bisschen erleichtert grinst Karim sie an. Eigentlich ist das doch sehr schön. Nein, eigentlich ist es fantastisch! Seine beste Freundin ist eine Hexe, und er ist der Einzige, der davon weiß! »Gut«, knurrt er zufrieden, und dann guckt er auf seine Uhr. »Aber dann zaubere uns wie der geölte Blitz an die Schule, denn in fünf Minuten klingelt es.«

Lenne erschrickt. »Verdammt! Das kann ich noch nicht.«

»Lass mich mal machen«, sagt Erin und lacht.

Und zwei Sekunden später betreten Lenne und Karim Arm in Arm den Schulhof.