13

 

 

file not found: 13.eps

 

 

 

 

 

Nervös und bedrückt klingelt Karim am nächsten Morgen bei Lenne. Er holt sie fast jeden Morgen ab. Sie sind die Einzigen aus der Klasse, die aus dieser Richtung kommen, und sie selbst finden es ganz selbstverständlich, dass sie zusammen zur Schule gehen, doch in der Klasse werden sie meistens gehänselt. »He, Lenne geht mit Karim«, rufen ihre Klassenkameraden dann, oder Karims Freunde rufen: »Wann küsst ihr euch endlich?« Lenne und Karim kümmern sich gewöhnlich nicht darum. Ihre Eltern haben sich im Lauf der Zeit ebenfalls angefreundet, und die beiden sehen sich dadurch häufig auch auf Festen und Geburtstagen, und einmal waren sogar beide Familien gemeinsam im Urlaub.

Natürlich hatten sie auch ab und zu einen Streit, Lenne und er, aber das war dann nie so ernst und hat auch nie lange gedauert. Das Gefühl, das er jetzt hat, kennt Karim daher noch nicht.

Aber das hier ist kein Streit, das ist etwas anderes. Und Karim hat Angst, er hat eine böse Vorahnung. Nicht so sehr deshalb, weil ihre Freundschaft vielleicht auf dem Spiel steht, sondern weil er befürchtet, dass Lenne in Gefahr ist. Er will sie beschützen, hält sich dafür aber für nicht stark genug. Außerdem vermutet er nach dem gestrigen Nachmittag, dass sie ihn abweisen wird.

Wenn es nicht um solche seltsamen Dinge ginge, würde er einen Erwachsenen um Hilfe bitten. Aber an wen soll er sich denn wenden? An seinen Vater? »Hör mal, Papa, ich glaub, dass Lenne von ein paar Hexen verfolgt wird.« Innerhalb kürzester Zeit bekäme er ein Thermometer verpasst, um zu sehen, ob er vielleicht Fieber hätte. Dann vielleicht an den Lehrer? Nein, der würde lachen und sagen: »Ach, Junge, haben dir meine schönen Geschichten solche Angst eingejagt?«

Marit macht ihm die Tür auf. »Lenne ist schon weg«, teilt sie Karim entschuldigend mit. »Puh, habt ihr jetzt einen richtigen Streit? Langweilt sich Lenne mit dir? Oh, das Kind kann manchmal so schlechter Laune sein. Ich werde heute Nachmittag mal mit ihr reden, Karim.«

»Oh, das muss nicht sein«, murmelt Karim und sieht zu, dass er wegkommt, denn Marit würde ihn sonst fragen, worüber sie gestritten haben.

Lenne wird doch nicht etwa über die Heide zur Schule gegangen sein, keimt ein Gedanke in ihm auf, besonders nach dem komischen Getue mit der Murmel? Oder was es sonst für ein Ding sein mag. Ja, was ist es eigentlich? Ob das so eine Glaskugel ist, wie sie die Wahrsagerinnen haben? Aber die sind doch immer viel größer. Karim hat eigentlich nie an die Frauen auf den Jahrmärkten geglaubt, die behaupten, die Zukunft voraussagen zu können. Na ja, er hat auch nicht an Hexen geglaubt. Oder ist sie einfach nur ein schönes Spielzeug, das die Frau mit den weißen Haaren Lenne geschenkt hat, um sie für sich zu gewinnen? »Vielleicht will sie sich einfach bei Lenne einschleimen?«, murmelt Karim mit finsterem Gesicht vor sich hin. Auf jeden Fall ist es mehr als nur eine Kugel aus Glas, da ist sich Karim sicher. Die seltsamen Strahlen, die wie leuchtend grüne Laserlichter durch das Zimmer getanzt sind, und das alles aus einer so kleinen grünen Kugel, das war nicht normal. Und so, wie sie Lenne hypnotisiert hat, da konnte einem angst und bange werden. Karim hatte noch nie erlebt, wie jemand innerhalb von Sekunden derart seine Persönlichkeit verändert hat. Er bleibt kurz stehen. Er glaubt plötzlich zu verstehen, was los ist: Die grüne Kugel ist so verhext worden, dass sie den Empfänger des Geschenks in den Bann des Schenkenden zieht. Karim schluckt mühsam. Das würde bedeuten, dass Lenne jetzt unter dem Einfluss der Frau mit den weißen Haaren steht! Würde sie Lenne auch damit rufen können? Er blickt zur Hexenheide hinüber. Vielleicht ist das bereits geschehen, vielleicht hat die weiße Hexe Lenne schon zu sich gerufen. Ich bin zu spät, denkt Karim. Ich bin heute Morgen zu spät zu Lennes Haus gekommen. Sie war schon weg. Dann ist es auch meine Schuld, wenn sie nun verschwunden ist! Oder ist ihr vielleicht doch nichts passiert? Er rennt los. Zur Schule, um zu sehen, ob es Lenne gut geht!

Als er auf den Schulhof rennt, klingelt es schon. Ohne anzuhalten, sprintet Karim weiter bis vor die Tür seines Klassenzimmers. Sein Blick fällt auf die Garderobenhaken. Lennes Jacke? Wo ist Lennes Jacke? Mit einem Seufzer der Erleichterung lässt Karim sich gegen die Wand sacken, als er sie sieht. Zum Glück ist sie da! Und Lenne sitzt ganz normal im Klassenzimmer, ordentlich in der ersten Reihe, wo sie immer sitzt.

In der Pause merkt Karim, dass seine Erleichterung verfrüht war. Lenne lehnt lustlos an einer Mauer und will mit niemandem sprechen. Sie scheint das alltägliche Gerede total uninteressant zu finden. Ein paar Kinder stehen in ihrer Nähe, darunter auch Malika, mit der sie immer gut befreundet war. Sie wechselt kein Wort mit ihnen, allenfalls kommt mal ein muffeliges »Hm« oder »Ach«. Ihr Blick schweift ständig über den Schulhof, als ob sie viel lieber irgendwo anders wäre.

Während der Mittagspause kriegt Lenne von einem der Lehrer im Aufenthaltsraum einen kräftigen Rüffel, weil sie ihre Butterbrote am Tisch zerkrümelt wie ein kleines Kind.

Karim sieht den Blick, mit dem Lenne auf die Rüge reagiert und verschluckt sich an seinem Käsebrot. Ihre Augen wirken schärfer als je zuvor, und er hat doch schon einige Male kräftig mit ihr gestritten! Katzenaugen, das ist das erste Wort, das ihm dazu in den Sinn kommt. Und fast verschluckt er sich noch schlimmer. Das war es, was Lenne über die Frau im Wasser gesagt hat. Sie hatte Katzenaugen.

Während des Werkunterrichts, bei dem alle durcheinanderlaufen, versucht er, in ihre Nähe zu kommen, denn er will die Augen genauer betrachten können. Lässig schlendert er mit einer Tube in der Hand an dem Tisch entlang, an dem Lenne eigentlich mit einer Arbeit beschäftigt sein müsste, aber sie spielt nur geistesabwesend mit ein paar Nägeln herum. »Brauchst du etwas Leim?«

Sie schaut auf.

Waren ihre Augen immer schon so grün? Karim legt ihr die Tube mit dem Kleber auf den Tisch. Lennes Augen scheinen zu strahlen, sie glänzen wie bei jemandem, der hohes Fieber hat. Karim weiß allerdings aus Erfahrung, dass man bei hohem Fieber meistens auch knallrote Wangen hat – er hatte selbst im letzten Jahr eine schwere Grippe –, aber Lennes Wangen sind blass. »Hast du schlecht geschlafen?«

»Geschlafen?« Lenne lacht, ein mitleidiges Lachen. »Ich hab überhaupt nicht geschlafen.«

Karims Finger spielen nervös an der Tischkante herum. Was soll er ihr sagen?

Lenne selbst sagt auch nichts, sie sieht ihn nur abweisend an.

»Was, äh … machst du nach der Schule?«, fragt Karim. »Wollen wir was zusammen machen?«

»Eigentlich nicht«, antwortet Lenne, und damit, so scheint es, ist für sie das Gespräch beendet.

 

Nach der Schule geht Karim in einigem Abstand hinter Lenne her. Auch wenn sie nicht mit ihm spielen mag, will er doch mit eigenen Augen sehen, dass sie sicher nach Hause kommt.

Bei dem umgetretenen Zaun bleibt Lenne mit einem verlangenden Blick in den Augen stehen. Karim sieht, wie sie Anstalten macht, über den Stacheldraht hinweg auf die Heide zu gelangen.

Und dann passiert plötzlich alles gleichzeitig.

Eine Frau überquert auf Lennes Höhe die Straße von der Gegenseite. Offenbar hat sie das Auto nicht gesehen, das gerade um die Kurve kommt. Es fährt schnell, zu schnell eigentlich für eine Wohnsiedlung.

Karim hört quietschende Bremsen und sieht, dass das Auto versucht auszuweichen. Es geht schief. Das Auto zieht nach links, während die Frau einen Schritt in dieselbe Richtung macht. Es erwischt sie voll an der Seite. Die Frau stürzt, das Auto rollt noch ein paar Meter weiter, bis es zum Stillstand kommt.

»Arg!«, würgt Karim unwillkürlich, als er sieht, wie das Auto der Frau quer über die Beine fährt. Er schlägt sich eine Hand vor den Mund und holt ein paarmal tief durch die Nase Luft, um sich nicht übergeben zu müssen.

Der Fahrer springt völlig aufgelöst aus dem Auto. »Oh mein Gott, oh mein Gott!«, ist alles, was der Mann hysterisch rausbringen kann, was nicht erstaunlich ist, wenn man gerade jemanden überfahren hat.

Aber das wirklich Erstaunliche passiert dann.

Die Frau steht auf, schüttelt ihre roten Locken und klopft sich den Straßenstaub von ihrem Umhang.

Der Mann aus dem Auto bleibt mitten auf der Straße stocksteif stehen. Seine Arme hängen schlaff herunter, und sein Mund klappt auf, aber es kommt kein Ton mehr heraus.

»Tut mir leid«, sagt die Frau mit den roten Haaren, »ich hab nicht richtig aufgepasst.«

»Äh …«, sagt der Mann. Und noch einmal: »Äh …« Er begreift es nicht.

Karim begreift es nach einigen Sekunden schon. Er erkennt das Gesicht, die kupferfarbenen Locken, den langen Umhang. Nur ihren kleinen Hund hat sie dieses Mal nicht dabei.

Lenne hat sich inzwischen umgedreht. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet sie die Szene.

Die Frau geht in aller Ruhe auf den Mann zu, streckt ihre Hand nach seinem Gesicht aus und lächelt ihn an. »Hier war überhaupt nichts los«, sagt sie. Ihre Stimme klingt tröstlich, beruhigend. Ihre Finger streichen über seine Augen. »Vergiss das mal«, flüstert sie kaum hörbar, »es ist nichts passiert, vergiss das mal.«

Der Mann zwinkert ein paarmal mit den Augenlidern. Ein bisschen einfältig blickt er um sich. »Was haben Sie gesagt?«, fragt er dann befremdet.

»Das ging gerade noch mal gut«, meint die Frau lachend. »Ich konnte gerade noch zur Seite springen. Fahren Sie jetzt weiter, steigen Sie ein und fahren Sie in aller Ruhe nach Hause zu Ihrer Frau und den Kindern.«

Karim würde sich am liebsten die Finger in die Ohren stecken, um die Stimme der Frau nicht mehr hören zu müssen. Sie klingt so bezwingend, dass er den Drang verspürt, der Aufforderung auch nachzukommen, genauso wie der hypnotisierte Mann, der nun tatsächlich zu seinem Auto geht.

»Der Fernseher ist schon eingeschaltet, das Spiel hat schon angefangen«, fährt die Stimme samtweich fort. »Sie haben noch nichts verpasst. Fahren Sie nun ganz ruhig weiter, nicht mehr so hetzen, denn das verursacht die Unfälle. Sie kommen auf jeden Fall rechtzeitig nach Hause, bevor das erste Tor fällt.« Sie lacht.

Der Mann steigt folgsam in sein Auto und fährt in aller Ruhe weg.

Karim steht immer noch dort, wo er stand, als der Unfall passierte.

Die Frau fängt seinen Blick auf und nickt ihm zu.

»Guten Tag«, will er sagen, aber nur ein heiseres Krächzen kommt heraus.

Lenne scheint sich inzwischen völlig verspannt zu haben. Ihre Hand legt sich über ihre Jackentasche. »Du kriegst sie nicht«, zischt sie sofort, sobald sich die Frau ihr bis auf wenige Zentimeter genähert hat.

»Bitte!« Die Hand der Frau streckt sich nach Lenne aus, die Handfläche nach oben.

»Nein!«, schreit Lenne, und als die Frau weiterreden will, hält sie sich die Ohren zu und rennt davon. Zum Glück nicht über die Heide, sieht Karim, sie nimmt den längeren Weg nach Hause über die Straße. Die Frau sieht ihr gequält hinterher.

Karim räuspert sich und kommt ihr zögernd ein paar Schritte näher. »Ermelinde?«, traut er sich scheu zu fragen.

Mit einem Ruck dreht sie sich zu ihm um. »Das ist lange her«, sagt sie nach einigen Augenblicken. »Dass mich jemand mit diesem Namen anspricht, das ist sehr … sehr lange her.« Sie lächelt, doch um ihre Mundwinkel liegt ein trauriger Zug.

»Sie sind es doch, oder?« Karim wird rot. »Die Frau von dem Gemälde. Ich hab Ihr Porträt gesehen – bei Frau van Ha… Ho…« Ihm fällt der Name nicht mehr ein.

Die Frau mit den roten Haaren schweigt.

Karim schaut verlegen zu ihr auf. In Wirklichkeit ist sie noch schöner als auf dem Bild. »Lenne … Lenne ist eine Freundin von mir.« Er räuspert sich. »Ich will ihr helfen. Wissen Sie vielleicht, was ich tun kann?«

»Ach, Junge, du kannst so wenig …« Die Stimme der Frau stockt. Dann seufzt sie. »Bleib in ihrer Nähe, versuch ein bisschen, auf sie achtzugeben, probier, sie abzulenken. Das ist alles, was du tun kannst. Ich fürchte, dass es nicht sehr viel auszurichten gibt gegen die Macht von …« Sie schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, ich will dir nicht noch mehr Angst einjagen.«

»Lenne hat gestern Abend ein … Ding gekriegt«, fängt Karim an.

»Ja, ich weiß.« Plötzlich leuchten die Augen der Frau auf. »Warte«, sagt sie und zieht an einem goldenen Kettchen, das sie um den Hals trägt. Ein zierliches Medaillon kommt unter ihrem Umhang zum Vorschein. Sie will es abnehmen, aber es verhakt sich in ihren roten Locken. Vorsichtig nestelt sie es los. »Lege es um, und achte darauf, dass du es nicht verlierst. Du kannst mich damit rufen.«

Karim nimmt das Medaillon behutsam in die Hand und sieht es ein paar Sekunden lang an, dann erkennt er es als das von dem Gemälde wieder. Die Frau auf dem Porträt hat dasselbe Schmuckstück getragen. »Ja …«, stammelt er, »ja … das hab ich gesehen. Aber … wie kann ich Sie damit rufen? Muss ich dann auch einen Zauberspruch …?«

Die Frau lacht mit einer silbrigen Stimme, als hätte sie im Bruchteil einer Sekunde ihre Fröhlichkeit wiedergefunden. »Nein, dafür brauche ich nichts Besonderes. Nenne einfach meinen Namen, dann weiß ich, wo ich dich finde.«

»Ich sage einfach Ermelinde, und dann kommen Sie zum Vorschein?«, fragt Karim verwundert.

»Nein, nicht Ermelinde«, antwortet die Frau kopfschüttelnd. »Erin. Merk dir das gut. Ich höre es nur, wenn du mich Erin nennst.«

»Oh …« Karim macht ein leicht entschuldigendes Gesicht. »Ist das Ihr Hexenname oder so?«

Darauf antwortet die Frau nicht. Mit dem Zeigefinger streicht sie noch einmal behutsam über die runde Form des Medaillons. »Das trag ich jetzt schon so viele Jahre um meinen Hals … ich bin damit verwachsen. Es ist zu einem Teil von mir geworden. Kleidung verschleißt auf die Dauer, doch das hier … es gehört so sehr zu mir, dass ich es immer und überall finden werde.«

»Wenn ich also Erin sage …« Karim wiederholt sorgfältig den seltsamen Namen, den er vorher noch nie gehört hat. In dem Moment, als er den Namen ausspricht, wird das Schmuckstück in seinen Händen warm. Es glüht nicht. Es wird nicht heiß, aber angenehm warm. »Erin«, sagt Karim noch einmal, und das Medaillon strahlt leicht und sanft.

»Ich komme, wenn du darum bittest«, sagt Erin. »Ob ich dann auch etwas machen kann, kann ich nicht versprechen. Aber ich werde alles versuchen, was in meiner Macht liegt. Ich fürchte nur, dass Alba viel stärker ist als ich.« Mit verbissenem Gesicht schüttelt sie die roten Locken. »Und von Vita ganz zu schweigen.«

»Vita?«, wiederholt Karim.

»Pst!«, stößt Erin drängend hervor. Dann blickt sie sich aufmerksam um. »Tu mir den Gefallen und versuche, den Namen so selten wie möglich laut auszusprechen!«

»Ist das die Frau mit dem kahlen Kopf?«

Erin nickt. »Aber vergiss nicht, wenn sie will, kann sie sich selbst lange blonde Locken zulegen, wenn ihr das besser passt. Wenn du gut hinsiehst, wirst du allerdings immer ihre Zeichen sehen.«

»Zeichen?«

»Es sieht aus wie eine … wie nennt ihr das heute, Tätowierung?« Karim nickt. »Sie reicht von ihren Schläfen bis auf die Stirn. Die Tätowierung ist sehr schön, zierlich geringelt.«

»Haben Sie auch so etwas?«, fragt Karim interessiert. Er findet Tätowierungen toll, der Vater von einem Schulfreund hat eine auf seinem stämmigen Oberarm.

Erin hebt ihre roten Locken hoch. Von ihrem linken Ohr bis auf die Schulter hat sie ein dunkelblaues Bild von elegant verschlungenen Ranken.

»Boah!«, stöhnt Karim. Das ist doch mal was anderes als ein Schiffchen oder so ein albernes Herz mit einem Namen drin. »Haben alle Hexen so etwas?«

»Es gehört zu den Initiationsriten«, erklärt Erin.

»Die was?«

»Wenn du offiziell zur Hexe wirst, bekommst du die Zeichen.«

»Aber bist du denn auch eine echte Hexe?«, fragt Karim leise. Er ist plötzlich vom Sie zum Du übergegangen, vielleicht, weil Erin so freundlich zu ihm ist oder weil sie ein so junges Gesicht hat und ihn ihre mandelförmigen hellgrünen Augen so glitzernd anblicken. Sie scheint seine Frage lustig zu finden. »Ich meine … ich hab immer gedacht, dass Hexen böse und hässlich sind.« Nach einigem Zögern fügt er dann noch gemurmelt hinzu: »Und dass es sie nicht gibt.«

»Es gibt genauso viele verschiedenartige Hexen, wie es verschiedenartige Menschen gibt.«

»Und wie bist du eine Hexe geworden? Hast du das selbst gewollt?«

Erin sieht ihn nachdenklich an. »Ich bin gerufen worden«, sagt sie nach einer Weile. »Und wenn du gerufen wirst, dann willst du es auch.«

Karim nickt. Er denkt daran, was Lenne ihm erzählt hat, wie sie von der Frau mit den Augen gerufen wurde. »Dann bist du sicher auch irgendwie hypnotisiert worden?«

Erin nickt. »So was Ähnliches.«

Karim hängt sich das Medaillon um den Hals und stopft es unter seinen Pullover. Auf der bloßen Haut fühlt es sich kalt an. »Erin«, sagt er, und die Kälte verschwindet. Karim lacht. »Erin, glaubst du, dass Lenne schon gerufen wurde?«

»Ja, von Alba«, antwortet Erin bestimmt.

»Ja, das hab ich mir schon gedacht. Alba, ist das zufällig die, die früher Alberdine hieß? Aber … warum versuchst du, Lenne vor Alba zu beschützen? Ist es nicht schön, eine Hexe zu sein?«

Erin späht über die Heide. Sie denkt lange und gründlich nach, dann schlägt sie sich die Arme um den Oberkörper, als wäre ihr plötzlich kalt geworden, eine Bewegung, die wirkt, als wolle sich Erin gegen etwas Trauriges wappnen. »Wenn es nur stimmte, dass es nicht schön wäre«, sagt sie endlich, »dann könntest du leicht wieder damit aufhören. Na ja, du musst dich von deinen Schwestern losreißen, aber …«

»Was meinst du denn damit, dich von den Schwestern losreißen

»Diejenigen, die dich gerufen haben, das sind deine Schwestern. Für immer. Es ist für einen selbst nicht so einfach, von ihnen Abstand zu gewinnen. Aber wenn das Hexenleben nicht schön wäre, dann würden viele Hexen ganz schnell beschließen, damit wieder aufzuhören.«

»Also ist es schön, eine Hexe zu sein?«

Erin blickt ihm tief in die Augen. »Versuch mal, dir vorzustellen, dass du niemals alt wirst und mit der Zeit krumm und buckelig, sondern dass du ewig jung bleibst. Versuch mal, dir vorzustellen, dass du nie krank wirst, du nie frierst oder Hunger hast. Versuch dir mal vorzustellen, dass du dich überall hinsetzen kannst, wohin du auch willst …«

»Fliegen?«, fragt Karim plötzlich sehr aufmerksam. »Meinst du damit, dass Hexen fliegen können?«

Erin lacht. »Fliegen ist nicht das richtige Wort. Oh, natürlich brauchen unsere Füße den Boden nicht zu berühren, wenn wir keine Lust dazu haben. Sieh her …«

Karim starrt auf ihre Füße und sieht, wie sie sich langsam vom Boden lösen. Erin schwebt einige Sekunden dicht über dem Asphalt, bevor sie geschmeidig wieder herabsinkt.

»Boah!«, ruft Karim zum zweiten Mal. »Und was ist dann das andere, das Versetzen, von dem du gerade gesprochen hast?«

Erin schaut sich um. »Wo wohnst du?«, will sie wissen.

Karim zeigt schräg über die Straße.

»Hast du ein eigenes Zimmer?«

»Ja klar, warum?«

»Kannst du mir etwas aus deinem Zimmer nennen, einen Gegenstand, den du gerne hier und jetzt in den Händen hättest?«

Karim denkt kurz nach. Dann grinst er. »Auf meinem Bett sitzt ein hässlicher kleiner Plüschvogel, noch aus der Zeit, als ich selbst klein war. Er ist gelb und ungefähr so groß …« Er deutete die Größe mit den Händen an. Er gerät ein bisschen in Verwirrung, weil es vor seinen Augen flimmert, und er spürt einen leichten Lufthauch, nicht stärker, als wenn jemand mit einem Blatt Papier wedelt.

»Bitteschön«, sagt Erin und hält ihm das gelbe Vögelchen hin.

»Puh!«, stößt Karim aus. Er nimmt ihr das Plüschtierchen aus den ausgestreckten Händen. »Du hast es hergezaubert!«

»Nein, ich bin es schnell holen gegangen.« Erin lächelt.

»Also das ist schnell!« Karim bleibt der Mund offen stehen. »Mann, das würde ich auch gerne können! Das ist vielleicht praktisch!« Er guckt Erin mit großen Augen an. »Was könnt ihr denn noch alles?«

Erin beißt sich auf die Lippe. »Ich darf dir diese ganzen Dinge gar nicht erzählen. Und sie dir schon gar nicht schnell mal so zeigen. Alba würde mich erwürgen, wenn sie davon wüsste.«

»Das braucht dich doch nicht zu kümmern«, sagt Karim kichernd. »Du kannst doch nicht sterben.«

»Oh, stimmt ja.« Lachend schüttelt sich Erin die roten Locken aus dem Gesicht. Sie gibt Karim einen Schubs. »Manchmal vergesse ich beinahe, wie lustig Menschen sind. Kinder. Jungen. So verspielt.« Ihre Wangen haben sich gerötet. »Alba sagt manchmal, dass ich auch zu verspielt bin.« Sie seufzt. »Ich bin keine gute Hexe. Ich meine damit nicht, dass ich eine böse Hexe bin, sondern dass ich, glaube ich, nicht ernsthaft genug bin.«

»Muss man das denn sein?«, fragt Karim. »Hexen machen doch sicher auch ab und zu was zum Spaß?«

»Ja, auf ihre eigene besondere Art. Manche Hexen haben den größten Spaß daran, Menschen das Leben schwer zu machen.«

»Das sind doch hoffentlich nur wenige?« Karim ist erschrocken. »Sind denn die Geschichten wahr? Die alten Geschichten, in denen Hexen ganze Ernten zu Missernten werden lassen und so? Unser Lehrer hat uns davon erzählt.«

»Eine ganze Ernte zur Missernte werden zu lassen ist vielleicht ein bisschen viel verlangt«, sagt Erin. »Wir können bestenfalls ein bisschen Regen machen …« Sie greift kurz in die Luft und spritzt Karim Regentropfen ins Gesicht. »Aber das Wetter selbst kann nicht beeinflusst werden.«

»Und dass Hexen … und dass Hexen …« Karim holt tief Atem. »Und dass Hexen Kinder opfern?«

Erins Gesicht verfinstert sich.

»Bitte«, flüstert Karim, der an Rinnie denkt, »sag mir, dass es nicht wahr ist.«

»Du kennst doch bestimmt auch Menschen, die … falsch gepolt sind«, antwortet Erin stockend. »Was glaubst du, was passiert, wenn so jemand Hexe wird?«

»Nichts Gutes«, murmelt Karim. »Aber warum? Warum sollte eine Hexe so etwas tun?«

Erin schaudert es. »Auf das Thema möchte ich nicht eingehen. Darüber möchte ich nicht reden. Es gibt da alte Rituale, die zu nichts gut sind. Es hat immer Hexen gegeben, die sich nur in der schwärzesten Magie wiedergefunden haben.«

»Beschäftigen sich denn nicht alle Hexen mit der schwarzen Magie? Oder gibt es auch manchmal weiße Magie?« Karim lacht ein bisschen ungläubig.

»Ja sicher. Das hängt davon ab, ob du das Gute willst oder nicht.«

»Was du gerade gemacht hast, ist das dann keine schwarze Magie?«

»Ach, was ich gerade gemacht habe, das hat eigentlich gar keine spezielle Farbe, das waren nur kleine Späße.« Plötzlich beugt sich Erin vor, legt Karim den Schal dichter um den Hals und zieht den Reißverschluss seiner Jacke höher. »Du musst jetzt aber nach Hause gehen, der Himmel hat sich bewölkt und es wird dunkel.«

»Ja, aber …«, mault Karim. Er hat noch viel mehr Fragen! Er ist noch lange nicht fertig.

»Ich geh noch schnell mal nachsehen, ob deine Freundin sicher in ihrem Zimmer sitzt. Tu mir den Gefallen und gib gut auf sie acht.«

Es schießt Karim durch den Kopf, dass die Frau noch nicht gesagt hat, warum sie Lenne beschützen will. Sie hat ihm noch nicht klarmachen können, was denn eigentlich so schlecht daran ist, eine Hexe zu werden, denn sonst klingt das doch großartig! Oder vielleicht ist es gar nicht Alba, vor der sie Lenne beschützen will, sondern die andere … Karim traut sich kaum, den Namen auch nur zu denken. Vita heißt sie. Ihn überläuft ein Schauer. Hat die vielleicht etwas ganz anderes mit Lenne vor? Etwas, das mit den grausigen Ritualen zu tun hat, über die Erin nicht sprechen will? Er will sie das noch fragen, doch die Luft flimmert, und sie ist verschwunden.

Unwillkürlich greift Karim sofort nach dem Medaillon. Mit nervösen Fingern tastet er unter dem Schal, ob es noch da ist. Ja, er hat es noch. Einen Augenblick lang hatte er gedacht, dass er hier am Straßenrand mit offenen Augen geträumt, dass er sich die ganze Begegnung nur eingebildet hat. Aber das kühle Metall um seinen Hals sagt ihm etwas anderes. »Hexen …«, stammelt er kopfschüttelnd, bevor er die Straße überquert, um nach Hause zu gehen. »Die gibt es wirklich.«