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»Karim, hast du vernünftige Schuhe an?«, fragt Marit.

Karim streckt ein Bein in die Luft. »Ganz neu.«

Lennes Mutter zieht die Tür hinter sich zu und geht vor ihnen über den Gartenweg. »Komm schon, Lenne, nicht so rumtrödeln.«

»Kommt dein Vater nicht mit?«, fragt Karim Lenne.

Lenne zieht ihre Mutter am Ärmel. »Kommt Noud nicht mit?«

»Nein, der sitzt wieder wie festgeleimt vor seinem Computer.«

»Warum darf er das und wir nicht?«, ruft Lenne empört. »Warum müssen wir denn so einen blöden Spaziergang machen, und er bleibt zu Hause?«

»Weil er damit Geld verdient und du nicht. Er sitzt da ja schließlich nicht zum Spaß. Wenn du erwachsen bist, kannst du auch Programmiererin werden, wenn du willst, und den ganzen Tag Ziffern und Buchstaben eingeben. Wirst dann schon sehen, ob du nicht lieber einen schönen kleinen Spaziergang machen würdest.«

»Ich würde bestimmt nicht lieber einen Spaziergang machen wollen«, schnaubt Lenne, und langsam trottet sie mit hochgezogenen Schultern und motzigem Gesicht hinter ihrer Mutter auf dem Weg zur Heide her.

Dieses Mal steigen sie nicht über den Stacheldraht. Mit Lennes Mutter nehmen sie den gepflegten Weg, der ein Stück weiter vorne abzweigt.

»War es ungefähr hier, wo du den Fuchs gesehen hast?«, fragt Lenne Karim, als sie in die Nähe des Birkenwalds kommen.

Marit dreht sich mit einem Ruck zu ihrer Tochter um. »Ihr seid doch nicht auf der Heide gewesen, ihr beide alleine?«

»Von meinem Fenster aus«, sagt Karim schnell. »Als ich abends aus dem Fenster von meinem Zimmer geguckt hab, hab ich einen Fuchs gesehen. Oder jedenfalls … Ich hab zwei grüne Augen gesehen.« Als er jetzt wieder an die grünen Augen denkt, geht er so unauffällig wie möglich etwas näher neben Marit weiter.

»Ach, das ist ja komisch. Aber vielleicht war es ganz einfach auch nur ein Hund.«

»Ein Hund? Abends um halb zehn?« Karim sieht aus, als hätte er da seine Zweifel.

»Wer lässt denn abends um halb zehn seinen Hund noch auf die Heide!«, brummelt Lenne.

Marit schüttelt den Kopf. »Ja, da hast du recht. Ich selbst würde keinesfalls auch nur daran denken, hier im Dunkeln rumzulaufen, mit oder ohne Hund!« Sie schaudert.

»Nein, und tagsüber ja wohl ganz offensichtlich auch nicht«, hakt Lenne noch einmal boshaft nach.

Marit achtet gar nicht auf ihr Gemurre. Sie gibt Karim einen Stups in den Rücken und zeigt begeistert auf ein paar große Fliegenpilze.

Bis zur alten Wassermühle ist es nur eine Viertelstunde zu laufen.

»Dass du hier noch nicht gewesen bist!«, sagt Marit noch einmal zu Karim. »Gehst du denn mit deinen Eltern nicht spazieren?«

»Nein, Karim hat richtig nette Eltern«, mault Lenne. »Die denken sich nicht solche dummen …«

»Lenne, jetzt hör auf«, unterbricht Marit ihre Nörgelei. Sie geht zum Mühlrad und fängt an, Karim zu erklären, wie so ein Ding funktioniert hat. »Sieh mal. Das Rad hier mit seinen Schaufeln, das hat sich gedreht. Es gibt nur einen Balken, um es damit festzustellen, verstehst du?«

Lenne unternimmt einen halbherzigen Versuch, an dem alten hölzernen Gebilde hochzuklettern, wird aber von ihrer Mutter gleich wieder heruntergezerrt. »Nicht, Lenne, das ist gefährlich. Das Holz ist fast verrottet, und gleich liegst du im Wasser.«

»Und das ist total flach.« Lenne beugt sich über den Graben, der zum Rad führt.

»Hier liegt ein Brett drüber.« Und schon hat Karim einen Fuß darauf gesetzt.

»Mach das bloß nicht«, warnt Lennes Mutter.

»Aber das ist doch eine Brücke?«

»Nein, darunter ist eine Art Gitter, siehst du? Das ist dazu da, um Sachen zurückzuhalten, die im Wasser treiben, also Blätter und Äste und so. Das Wasser fließt von hier … da lang auf das Mühlrad zu, und das Brett mit den eisernen Gitterstäben darunter hat das ganze Zeug zurückgehalten, damit es nicht in das Rad kam.«

»Was spielt das für eine Rolle, wofür es früher gut war«, sagt Lenne schulterzuckend, »jetzt ist es eine kleine Brücke, über die man gehen kann.« Und kaum gesagt, ist sie auch schon auf der anderen Seite.

Marit holt tief Luft.

»Darf ich auch drüberlaufen?«, fragt Karim gut erzogen.

»Na, das musst du jetzt selbst wissen. Ich mache es auf jeden Fall nicht, ich bin viel zu schwer, und dann bricht es noch durch. Das Brett da sieht aus, als wäre es schon hundert Jahre alt.« Lennes Mutter geht zu einer Bank auf der anderen Seite des Wegs. »Geh du mal kurz gucken, ich setze mich hierhin.« Sie kramt in ihrer Jackentasche herum und bringt ein Päckchen Zigaretten zum Vorschein.

»Komm schon, Karim!«, spornt Lenne ihn an, und sobald auch Karim über den Graben ist, rennen sie zusammen zur Wassermühle.

Sie sehen durch alle staubigen alten Fenster hinein, erkennen aber nicht viel, denn drinnen ist es dunkel und leer.

Lenne rüttelt an der Klinke einer schweren Holztür.

»Abgeschlossen.«

»Schade.«

Ein Fenster ist mit einem Holzladen zugenagelt. Karim zieht und zerrt ein bisschen an dem halb verrotteten Holz. Er dreht sich gerade um und will weggehen, als der ganze Fensterladen plötzlich mit einem lauten Krachen herabstürzt.

»Scheiße!«, schreit Lenne, und auch Karim springt vor Schreck einen halben Meter in die Luft. Aneinander festgeklammert rennen beide ein ganzes Stück von der Wassermühle fort, bleiben dann aber stehen und blicken sich um.

Karim erwartet fast, dass die ganze restliche Mühle einstürzen würde, und er zittert am ganzen Körper.

Doch es passiert nichts weiter.

Karim und Lenne schauen sich an und beginnen, etwas nervös zu kichern.

»Jetzt sieh dir mal an, was du da gemacht hast, Mann!«

»Ich hab nichts gemacht. Ich hab nur mal kurz an dem Brett gezupft.«

Lenne stößt Karim an. »He«, sagt sie, »da ist kein Fenster mehr drin. Kein Glas, meine ich.«

»Natürlich, deshalb war es ja auch zugenagelt.«

Lennes Gesicht heitert sich auf. »Wir können da reinklettern!« Sie läuft zurück zur Mühle und späht durch das Loch. »Hilf mir mal.«

Das Fenster befindet sich nicht so hoch über dem Boden, und innerhalb weniger Sekunden stehen alle beide in der alten Wassermühle.

Es ist ein kleiner stickiger Raum, und ihre Augen müssen sich erst an die Düsternis gewöhnen. Durch die verstaubten Fenster fällt nur wenig Licht.

»Eine Treppe.« Lenne zeigt darauf. »Wollen wir nach oben?«

»Sei aber vorsichtig!«, mahnt Karim. »Da fehlen jede Menge Stufen, und sie wird genauso verrottet sein, wie alles andere hier auch.«

Vorsichtig steigt Lenne die Holztreppe hoch, die knarrt und ächzt, aber zu halten scheint.

»Kannst du da oben was erkennen?«, ruft Karim.

»Komm selbst hoch und sieh es dir an!«, ruft Lenne zurück.

Es gibt viel zu sehen. Hölzerne Balken und Pfosten. Große eiserne Zahnräder. Über allem liegt eine dicke Staubschicht, und vor allem hängen dort auch schrecklich viele Spinnweben von der Decke bis zum Boden.

»Es sieht aus wie das Innere einer Riesenuhr«, murmelt Karim. »Was ist das denn?«

»Mühlsteine«, erklärt Lenne. »Aber ich weiß auch nur, dass dann, wenn sich das Mühlrad draußen gedreht hat, sich das alles mitgedreht hat und dann zwischen den großen runden Steinen das Getreide gemahlen wurde.«

»Getreide?«

»Ja, Getreide, du weißt doch, das, aus dem das Mehl gemacht wird, um Brot zu backen?« Lenne sieht Karim mit hochgezogenen Augenbrauen abschätzig an.

»Ach … so.« Er nickt.

Draußen zieht eine dicke Wolke vor die Sonne, und auch in der Mühle wird es mit einem Mal dunkler.

Von unten hören sie ein Quietschen.

»Was war das?«, fragt Lenne.

»Wahrscheinlich kommt deine Mutter nachsehen, wo wir geblieben sind.«

Lenne geht zurück zur Treppe und steigt vorsichtig wieder nach unten.

Karim sieht sich noch einmal um. Schon komisch, dass er gar nicht gewusst hat, dass Mehl auf diese Art …

»Karim!«, erklingt Lennes Stimme schrill von unten.

Karim fährt zusammen. »Was ist denn?« Warum klingt Lenne so komisch? So schnell es geht, hastet Karim die baufällige Treppe nach unten.

Wie versteinert steht Lenne mitten in dem leeren Raum. Sie zeigt auf etwas. Karims Blick folgt ihrem ausgestreckten Finger. »Da kriegst du doch …«

Die Tür der Mühle steht sperrangelweit offen.

»Die war doch gerade noch fest verschlossen?«, fragt Lenne mit einem kleinen Knick in der Stimme.

»Wir haben da ordentlich dran gerüttelt«, bestätigt Karim, »aber sie hat sich nicht bewegen lassen. Ich hab gar nicht gewusst, dass deine Mutter so stark ist.«

»Meine Mutter …« Lenne räuspert sich, dann deutet sie mit dem Kopf in Richtung des Fensters, das sich hinter ihr befindet. »Meine Mutter sitzt noch immer auf der Bank da.«

Karim sieht nach draußen. Lenne hat recht. Er zuckt mit den Schultern. »Na, da ist sicher noch jemand anderes hier. Ein Spaziergänger, der auch mal schnell hineingucken wollte.« Er geht zur Tür und lässt im Vorbeigehen die Hand kurz über die Klinke gleiten. Die kann er jetzt normal auf und ab bewegen. Einen Schlüssel sieht er nirgends. Auch keinen Riegel oder etwas Ähnliches.

»Offenbar hat sie einfach nur ziemlich geklemmt.«

»Puh«, macht Lenne. »Wir haben doch mächtig daran gezogen.« Sie geht hinter Karim nach draußen.

Inzwischen hat es sich zugezogen. Dicke graue Regenwolken hängen schwer am Himmel, und ein Windstoß lässt Lenne in ihrer dünnen Herbstjacke frösteln. »Ich hätte meine Winterjacke anziehen sollen …« Ihre Aufmerksamkeit wird von etwas angezogen, einer Bewegung, einer Farbe, die sie aus dem Augenwinkel wahrnimmt. Ruckartig dreht sie den Kopf zur Seite. Da steht eine Frau an den nächsten Baum gelehnt, eine Frau, deren schlohweiße Haare ihr fast bis zur Hüfte reichen. Sie trägt einen langen Umhang, der ihr bis zu den Füßen. Dieser Umhang hat eine eigenartige Farbe, als ob er einmal dunkelrot gewesen wäre, sich jetzt aber durch das Alter zu einem schmuddeligen Rotbraun verfärbt hätte. Doch die Frau sieht weder alt noch heruntergekommen aus, im Gegenteil: In ihrer Haltung liegt etwas Königliches, und ihre Gesichtszüge zeigen einen hochmütigen Zug. Ein junges Gesicht im seltsamen Kontrast zu den weißen Haaren, die auf ein hohes Alter schließen lassen. Ein Band von derselben Farbe wie ihr Umhang hält ihre Haare am Hinterkopf zusammen. Sie sieht etwas altmodisch aus, wie auf einem alten Gemälde. Sie muss einmal sehr schön gewesen sein, als ihr Gesicht noch nicht von einer Narbe, die wie ein Scheitel von ihrem linken Auge über ihre Wange nach unten verläuft, verunstaltet war.

Lenne schaut sie erstaunt an. Sie empfindet keine Angst, nur ein bisschen Verwunderung. Die Augen der Frau sind so hell, dass sie fast farblos wirken, und sie scheint Lenne zuzulachen, was ihren Blick weich und freundlich erscheinen lässt.

Plötzlich wandern die Augen der Frau von Lenne zu Karim, der neben Lenne steht, und Lenne spürt, wie Karim nach ihrer Hand greift. Um selbst Hilfe zu suchen? Die Augen der Frau sind auf einmal hart wie Glas, und Karim fängt an, Lenne mit sich zu ziehen. Er will, dass sie ihm folgt, von hier weg, doch Lenne fühlt sich auf eine ganze eigentümliche Art von der Frau angezogen, und sie würde am liebsten auf sie zugehen und sich an sie schmiegen. »Hier bin ich«, sagt sie in Gedanken, »soll ich mitgehen?«

Karim greift Lennes Hand fester. Er packt so hart zu, dass es wehtut. Lenne will sich losreißen, doch Karim hält sie fest.

Die Frau dreht sich um, und der Umhang flattert ihr um die Beine. Im Bruchteil einer Sekunde ist sie verschwunden.

Lenne empfindet einen seltsamen Verlust. Wo ist sie hin? »Lenne!«, hört sie neben sich Karims Stimme eindringlich in ihr Ohr zischen. »Lenne, los, komm jetzt, komm mit!« Er setzt sich in Bewegung und zieht sie hinter sich her.

»Aber was … wart doch mal kurz! Wo ist sie denn hin? Warum ist sie so schnell …?« Lenne reißt sich los und rennt zu dem Baum, gegen den sich die Frau gerade noch gelehnt hatte. Sie geht um ihn herum und blickt verwirrt um sich. Von der Frau ist weit und breit nichts mehr zu sehen.

Karim ist ihr hinterhergekommen. Diesmal packt er ihren Arm mit beiden Händen. »Lenne, komm mit. Deine Mutter wartet auf uns. Wir sind viel zu lange weggeblieben.«

»Aber hast du die Frau denn nicht gesehen?«

Karim beißt sich auf die Lippe. »Doch, natürlich hab ich diese unheimliche Person gesehen!«, faucht er, »das ist es ja gerade!«

Unwillig lässt sich Lenne zu der Bank zurückführen, wo ihre Mutter noch immer auf sie wartet.

»He, da seid ihr beide ja endlich wieder! Hat es so viel Schönes zu sehen gegeben?«

Lenne sieht Karim kurz an. »Da war ei…« Sie schluckt. »Da war ein Dachboden mit Mühlsteinen. Ich hab … ich hab Karim erklärt, wie sie damit früher das Getreide gemahlen haben.«

»Von dem ganzen Stillsitzen und Warten ist mir eiskalt geworden«, sagt Marit. »Los Leute, ab nach Hause, ich mache uns dann ein paar Becher warme Schokoladenmilch.«

 

Am Abend steht Karim erneut vor seinem Zimmerfenster. Er starrt in Richtung Heide, guckt und guckt. Er bildet sich immer wieder ein, eine Frau mit langen weißen Haaren auf der Heide umherschweifen zu sehen, doch das ist wirklich nur Einbildung, denn in Wirklichkeit gibt es nichts zu sehen.

Heute Abend scheint kein Mond, der Himmel ist mit dicken Wolken verhangen, und das Licht der nächsten Straßenlaterne leuchtet nur einen runden Fleck aus, der das Ungewisse dahinter im Dunkeln verschwinden lässt.

Lenne war den restlichen Nachmittag eigenartig still und geistesabwesend. Sogar am Computer wollte sie nicht mehr spielen.

Karims Atem lässt die Fensterscheibe rund um seinen Mund beschlagen. Nun sieht er überhaupt nichts mehr.

»Die Hexenheide …«, murmelt er leise vor sich hin.

Er zeichnet zwei Augen auf die beschlagene Scheibe. Dann streicht er hastig mit der Hand über die Zeichnung, um sie zu verwischen, und zieht die Vorhänge zu.