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Karim liegt auf dem Sofa im Wohnzimmer. Er hat ein Comicheft auf dem Bauch, aber er kann sich nicht richtig konzentrieren. Er schaut zu seiner Mutter in dem bequemen Ohrensessel, in dem man sich so richtig verkriechen kann. Mit angezogenen Beinen sitzt sie da und hat ein dickes Buch in den Händen. Im Zimmer ist es ein bisschen dunkel, und sie hat eine Stehlampe, die neben dem Sessel steht, angeknipst. Draußen ist es grau und windig, aber trocken. Karim sieht die Äste der Bäume im Garten mit ihren blassgelben und orangeroten Blättern schwanken.

Solche Tage fand er immer schon behaglich. Er erinnert sich daran, wie er die Herbstferien in früheren Jahren geliebt hat, es war wunderbar, nicht durch den Regen zur Schule laufen zu müssen, sondern sich im Haus mit etwas Warmem zu trinken und Spekulatius vergraben zu können.

Aber jetzt ist Lenne nicht da, und sie können nichts Schönes zusammen machen. Außerdem laufen draußen Hexen herum.

Seine Mutter blättert eine Seite um und trinkt einen Schluck von der warmen Schokolade, die sie gemacht hat. Das Licht der Stehlampe fällt auf ihre hellblonden Haare. Sie verkriecht sich etwas tiefer in ihren Sessel. Das ist ein so vertrautes Bild, so alltäglich. Die Ereignisse der vergangenen Tage werden dadurch ganz unwirklich. Ist er tatsächlich einer Hexe begegnet? Hat er tatsächlich erst vor wenigen Tagen gesehen, wie sich eine Katze in eine Frau verwandelt hat?

Das Telefon klingelt.

»Ist wahrscheinlich für dich«, sagt Karims Mutter, ohne von ihrem Buch aufzublicken.

Das Telefon steht auf einem Tischchen neben dem Sofa. Karim streckt gleichgültig die Hand danach aus. »Hallo, hier ist Karim.«

Es ist Jesse. Ob er Lust habe, Fußball zu spielen.

Karim blickt in die vom Wind gezausten Bäume. Na ja, warum nicht. »Gut!«, sagt er.

»Kommst du in den Park?«, fragt Jesse. »Dann treffe ich dich da.«

Karim rutscht lustlos vom Sofa. »Ich geh nach draußen, spielen.«

Seine Mutter runzelt die Stirn. »Es sieht aber nach Regen aus.«

»So ist es schon den ganzen Tag.«

»Ja, das stimmt. Aber binde dir einen Schal um.«

Beim Fußballspielen ist ein Schal lästig. Aber um seine Mutter zu beruhigen, bindet er ihn sich um, bis er auf dem Bolzplatz ist. »Bis nachher.«

 

Als Karim in den Park kommt, ist Jesse noch nicht da, und Karim setzt sich auf eine Bank. Aber nicht auf die Art, wie sich ältere Herrschaften auf eine Bank zu setzen pflegen, das findet er blöd. Er setzt sich auf die Rücklehne, und die Füße stellt er dahin, wo vielleicht bald wieder ein Paar bejahrter Pobacken Platz nehmen will und seine Schuhe hässliche Dreckklumpen hinterlassen. Eigentlich nicht sehr nett, aber bei diesem Wetter kommen vorläufig sowieso keine alten Leute, um sich in den Park zu setzen, denkt Karim. Er stützt den Kopf in die Hände. Es ist schon öde und langweilig, auf jemanden zu warten.

Die Bank steht in einer Ecke zwischen hohen, immergrünen Hecken. Nur im unteren Bereich sind sie kahl, und das auch im Sommer. Vielleicht muss das so sein. Karim schaut einem dicken Spatz zu, der unter den Hecken herumhüpft.

Jemand geht auf der anderen Seite, Karim sieht, wie zwei schwarze Schuhe vorbeikommen. Und er sieht den Saum eines Kleides, der um sie herumschwingt. Die Füße bleiben stehen. Karim runzelt die Stirn. Ein langes violettes Kleid auf der anderen Seite der dichten Hecke, ganz nahe. Tragen Hexen violette Kleider? Einige Hexen vielleicht schon.

Vorsichtig lässt er sich von der Bank gleiten. Vorgebeugt schleicht er bis dicht an die Hecke. Gern würde er unter ihr hindurchgucken, doch der Boden ist braun und schlammig. In den Matsch will er nicht mit Händen und Knien. Er hockt sich hin und versucht, sich weit genug vorzubeugen, um an den kahlen Stämmchen vorbeizusehen.

»Was machst du denn da?«, ist eine belustigte Stimme hinter Karims Rücken zu hören.

Karim schnellt hoch. »Ach, nichts, ich hab nur nach was geguckt.« Scheu blickt er in Richtung Hecke. Wer auch immer sie war, die da gestanden hat, nun ist sie schnell weitergegangen.

Jesse hält seinen Fußball hoch. »Wollen wir?«

»Ja, spielen wir ein bisschen Fußball. Mir wird schon langsam kalt.«

»Nach was hast du denn geguckt?«

»Einem … Spatz.«

Jesse wirft einen Blick über Karims Schulter. »Pff«, macht er. »Da hast du die Hexe.«

Karim erschrickt. Er traut sich nicht, sich sofort umzudrehen. »Hexe?«, wiederholt er dümmlich. Und dann guckt er doch.

Neben der Bank steht ein Mädchen. Über ihrem langen violetten Kleid trägt sie eine schwarze, glänzende Jacke. Eigentlich ist außer dem Kleid alles an ihr schwarz. Ihre Haare, ihre Schuhe, ihre Augen.

»Hab ich vielleicht etwas von dir an?«, fragt sie schnippisch, als Karim sie immer weiter anstarrt.

»Hab ich’s mir doch gedacht!« Jesse lacht schallend.

»Nein, ein violettes Kleid trag ich nicht so oft.« Karim lacht mit ihm mit. Er findet es eigentlich richtig schön, all das Schwarz und das Violett. »Bist du die Schwester von …« Er weiß nicht, wie der Junge heißt, der neulich im Park war.

Das Mädchen sagt nichts, sie sieht ihn nur mürrisch an.

»Ist das Farbe in deinem Haar? Das Schwarz, meine ich.«

»Geht dich das was an?«

»Na, mir gefällt es halt«, sagt Karim.

Darauf fällt dem Mädchen keine schnippische Antwort ein.

»Gefallen?«, ruft Jesse ungläubig. »Findest du die schön, diese Hexe?«

»Sie ist keine Hexe«, sagt Karim.

»Wollt ihr hier weiter rumhängen?«, fragt das Mädchen ungeduldig. »Ich bin hier mit jemandem verabredet.«

»In dem Fall hängen wir hier noch ein bisschen weiter rum«, sagt Jesse boshaft. »Nur mal gucken, wer da auftaucht. Vielleicht noch so ein Gespenst.«

Das Mädchen drängelt sich zwischen ihnen durch, lässt sich auf die Bank plumpsen und holt ein Päckchen Tabak aus ihrer Jackentasche. »Ihr verzieht euch jetzt mal besser.«

Doch Jesse stellt einen Fuß auf die Bank, und mit dem Ellbogen auf das Knie gestützt, beugt er sich vor. »Das muss man sich erst mal trauen, so rumzulaufen, was?« Er wirft Karim einen schrägen Blick zu und grinst dabei etwas albern.

Das Mädchen gibt Jesses Fußball, der im Gras liegt, einen Tritt. »Scher dich zum Teufel«, sagt sie.

»He!«, ruft Jesse entrüstet und rennt schimpfend hinter seinem Ball her.

»Tut mir leid«, murmelt Karim. »Manchmal ist er ein bisschen nervig.«

»Ein bisschen?« Das Mädchen seufzt.

»Ich finde es richtig schön, wie du aussiehst. Echt. Seid ihr ein Verein oder so was?«

Das Mädchen zieht abfällig eine Augenbraue hoch.

»Ich meine, dass es vielleicht noch mehr gibt, die so sind wie du. Ist das, hm … so eine Art Mode?«

»Mode!«, faucht das Mädchen verächtlich. »Ich ziehe nichts Modisches an.«

»Oh …«, murmelt Karim. Offenbar hat er wieder etwas Falsches gesagt.

»Soviel ich weiß, bin ich hier im Dorf die Einzige, die so aussieht«, sagt das Mädchen stolz. »Und von mir aus kann das auch so bleiben.«

Karim weiß nicht, was er noch sagen soll. Er wollte einfach nur nett sein, aber das Mädchen scheint alles, was er sagt, blöd zu finden. Oder vielleicht kindisch. Er schätzt, dass sie ungefähr fünfzehn ist. Dann findet sie Jungen von elf Jahren sowieso total albern.

Das Mädchen fischt ein Feuerzeug aus ihrer Tasche, zündet ihre selbst gedrehte Zigarette an und fängt prompt an zu husten. Tapfer nimmt sie noch einen Zug, doch es sieht nicht so aus, als ob sie es gewohnt sei zu rauchen. Vielleicht gehört es zu ihrer Kleidung, dass sie die starken Glimmstängel rauchen muss, denkt Karim. Oder zumindest muss sie so tun.

»Ich will mir auch noch ein Tattoo machen lassen«, sagt das Mädchen und sieht Karim herausfordernd an.

»Eine, hm … Tätowierung?« Karim nickt nachdenklich. »Ich hab vor Kurzem eine sehr schöne gesehen.«

»Ja? Bei wem?«

Karim macht den Mund auf und dann wieder zu. Was soll er antworten? »Einfach bei einer Frau.«

»Was für eine?«

»Nur so, eine Frau mit roten Haaren.«

»Nein, was für eine Tätowierung, du Quatschkopf.«

»Oh, hm … die war hier, an ihrem Hals, lauter Kringel und Schleifen.«

»Oh, Mann, wirklich? Eine Frau aus dem Dorf? Das ist nicht dein Ernst. So eine hab ich hier noch nie gesehen.«

Karim zuckt mit den Schultern. »Stimmt aber.«

»Ich hab bisher nur eine Frau mit einem Tattoo auf dem Kopf gesehen«, sagt das Mädchen dann. »Aber das hat mir nicht gefallen.«

Karim kriegt große Augen. »Auf ihrem … Kopf?«

»Ja, sie war kahl. Echt verrückt, Mann. So was würde ich mich nicht trauen.«

Karim räuspert sich. »Wie hat sie ausgesehen? Grüne Augen? Ein langes Kleid?«

»Ja, schon ein schönes Kleid. Das hätte ich gerne. Schwarz. Das hat hinter ihr auf dem Boden geschleift, so lang war es. Sie hat ausgesehen wie eine Vampirfrau, die von irgendwelchen Filmaufnahmen weggelaufen ist. Aber sie ist schon ein komisches Weibsstück. Sie steht immer wieder am Ende vom Veldseweg, da bei den letzten Häusern. Da komme ich vorbei, wenn ich mit dem Rad zur Schule fahre. Ich glaube, die ist nicht so ganz beieinander.« Das Mädchen nimmt noch einen Zug, hustet und schmeißt ihren Glimmstängel ärgerlich in die nächste Pfütze. Dann schaut sie hoch und springt auf. »He, Lenny, das wird aber Zeit, Mann. Ich sitz hier rum und quatsche schon mit Knirpsen, verdammt noch mal.«

Karim sieht einen Jungen mit einer wüsten Punkerfrisur näher kommen. Das Mädchen fällt ihm um den Hals und sie küssen sich klebrig. Oh je, graust sich Karim, dreht sich um und geht weg. Eigentlich wollte er dem Mädchen noch was sagen, nämlich dass sie besser der kahlen Frau aus dem Weg gehen sollte. Doch küssenden Mädels, die mindestens fünfzehn Jahre alt sind, kann man nicht einfach auf die Schulter klopfen und sie dann vor frei laufenden Hexen warnen.

Sie steht immer wieder am Ende vom Veldseweg, hört Karim die Worte des Mädchens in seinem Kopf. Da wohnen Lenne und er. Bei den letzten Häusern. Das sind unsere, denkt Karim fröstelnd, als er am späten Nachmittag nach Hause geht. Er hätte nicht so lange im Park rumhängen sollen, das bereut er jetzt. Aber es war so angenehm gewesen, während eines ausgelassenen Fußballspiels einmal kurz alles und jeden zu vergessen.

Wie ein dunkelgraues Asphaltband liegt der Weg nach Hause vor ihm. Links stehen Häuser mit gemütlich erleuchteten Zimmern, rechts gibt es nichts, nur einen Zaun und die Heide.

Karim beschließt, so lange wie möglich dicht an den Vorgärten entlangzugehen. Ein kräftiger Wind stößt ihm in den Rücken. Graue Wolken jagen über den Himmel, als hätten sie es schrecklich eilig, irgendwo anders hinzukommen, nur weg von hier. Hohe Bäume wiegen sich im Herbststurm, und auf dem Bürgersteig liegen überall abgerissene Zweige und Blätter. Voller Scheu schaut Karim ständig in Richtung Heide, während er sich beeilt, nach Hause zu kommen. Lassen sich Hexen von Wind und Regen stören? Bei diesem Wetter werden sie doch bestimmt nicht mit ihren Lampen über die Heide geistern? Aber er weiß es nicht, und daher fängt er lieber an zu rennen. Erst als er die eigene Haustür vor Augen hat, beginnt er, sich zu entspannen. Zum Glück ist er jetzt fast zu Hause. Nur noch an Lennes Haus vorbei, dann ist er da.

Er wirft einen Seitenblick auf das leere Haus, während er daran vorbeigeht. Lenne ist schon oft in den Ferien weg gewesen, und immer findet er, dass so ein Haus ungemütlich aussieht, wenn vorübergehend niemand da ist. Ein Haus, dessen Bewohner im Urlaub sind, sieht irgendwie viel leerer aus als ein Haus, von dem man weiß, dass die Bewohner nach rund einer Stunde wieder zurückkommen. Aber vielleicht ist das nur Einbildung. Vielleicht liegt es auch daran, dass Lennes Eltern im Hinblick auf Sturmböen und herumfliegende Äste die Fensterläden geschlossen haben. Oder es liegt daran, dass selbst das Außenlicht nicht eingeschaltet ist, was sonst eigentlich immer der Fall ist. Sie haben wohl den Strom abgestellt, denkt Karim. Oder nein, doch nicht. Ein schwacher Lichtschein hinter dem Haus fällt ihm auf. Karim läuft noch ein paar Schritte weiter und versucht, in den Garten zu schauen, doch er kann nicht viel sehen, denn hier versperren ihm dichte Sträucher die Sicht, die in dieser Jahreszeit voll mit orangen Beeren sind. Haben sie bei Lenne Lampen im Garten? Nein, als er neulich nachts hier war, um nach Lenne zu sehen, war alles dunkel gewesen. Ob sie vielleicht wegen Einbrechern ein spezielles Licht eingeschaltet haben? Aber warum dann nur auf der Rückseite des Hauses? Karim fröstelt – wegen der Kälte oder etwas anderem, das kann er selbst nicht sagen. Er schlägt den Kragen seiner Jacke hoch und zieht sich den Schal über die Ohren. Hastig läuft er weiter, den Blick unverwandt auf die eigene Haustür gerichtet. Wenn das eine Lampe ist, die sie selbst angeschaltet haben, dann ist nichts dabei, und wenn es etwas anderes ist, dann will er das nicht wissen! Mit großen Schritten stürmt er in den eigenen Vorgarten, und ehe er in seiner Hosentasche nach dem Hausschlüssel gräbt, drückt er lang und fest auf den Klingelknopf, denn dann wissen seine Eltern eindeutig, dass er kommt. Die Tür auf und schnell hinein!

Im Haus riecht es nach Eintopf. Dann ist heute seine Mutter mit Kochen an der Reihe. Wenn sein Vater kocht, riecht es ganz anders. Der liebt den Eintopf von Karims Mutter gar nicht, er findet, der ist eine fade Pampe. Karim ist ganz wild darauf. Normalerweise hätte ihn dieser Geruch jetzt richtig glücklich gemacht. Was ist angenehmer, als aus der Kälte draußen nach Hause zu kommen und den warmen Geruch eines Lieblingsessens zu riechen, der einen willkommen heißt? Aber heute fühlt Karim sich, als könne ihn gar nichts glücklich machen. Es ist, als würde eine graue Wolke zwischen ihm und dem Rest der Welt hängen und alles verdüstern.

 

Mitten in der Nacht wird Karim von einem schrecklichen Lärm aufgeschreckt. Er kommt von draußen. Verwirrt setzt er sich auf die Bettkante und hat die Hand schon nach dem Knopf der Nachttischlampe ausgestreckt, als er es sich noch einmal überlegt. Wo kommt der Krach her? Es scheint, aus ihrem eigenen Vorgarten, direkt unter seinem Fenster. Es ist ein Geräusch, das langsam anschwillt und dann wieder abnimmt, jammernd, plärrend. Verschlafen reibt sich Karim die Augen.

Das Geplärre geht in ein bösartiges Gekreische über, und irgendetwas geht zu Bruch. Er traut sich nicht, ans Fenster zu gehen und hinauszusehen. Er traut sich nicht, den Vorhang zur Seite zu schieben, weil er Angst hat, dass jemand die winzige Bewegung bemerken könnte und ihn aus dem Dunkel der Nacht mit hinterlistigen grünen Augen anstarren würde. Ängstlich kriecht er wieder unter seine Bettdecke, die er sich ganz über den Kopf zieht, und hofft, damit das närrische Gekreische auszuschließen. Doch das hilft kein bisschen. Warum werden denn seine Eltern davon nicht wach? Warum gehen sie denn nicht mal nachsehen, was da los ist? Wie ist es möglich, dass sie dabei schlafen können! Er überlegt, zu ihnen ins Schlafzimmer zu gehen, doch er will nicht durch den dunklen Flur laufen. Karim hält sich die Ohren zu, und jetzt ist das Geräusch etwas leiser. Er kneift die Augen zu und versucht, wieder einzuschlafen. Er will nicht wissen, was das da draußen ist. Er will damit nichts zu tun haben.