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Karim spürt, wie die Finger um sein Handgelenk eine eisige Kälte verbreiten, die sich blitzschnell durch seinen ganzen Körper zieht. Was macht die Hexe mit ihm? Versucht sie etwa, ihn hier an Ort und Stelle in einen Klumpen Eis zu verwandeln? Er merkt, wie er immer starrer wird. Er will etwas sagen, schreien, bekommt die Zähne aber nicht auseinander. Das Blut scheint in seinen Adern zu gefrieren, und er kann sich nicht mehr bewegen. Aus dem Augenwinkel sieht Karim, wie Lenne aufspringt und ihr Stuhl mit einem Schlag auf den Boden knallt. Seine Ohren hören noch Stimmen, doch es ist, als ob sein Gehirn in eine zähe, klumpige Masse verwandelt sei, und er kann nicht mehr verstehen, was gesagt wird. Er weiß, dass zwei der Stimmen, die er hört, die von Alba und Erin sind. Auch sie sind von den Stühlen aufgesprungen und schreien wütend. Doch die Stimme, die ihn am meisten beruhigt, ist erstaunlicherweise die von Lenne, und er hört diese vertraute Stimme dicht an seinem Ohr. Steht sie jetzt neben ihm? Er versucht, den Kopf in ihre Richtung zu drehen, doch sein Hals ist wie versteinert. Der Griff um sein Handgelenk lockert sich kurz, als Vita etwas zu Lenne sagt. Karim dreht den Kopf.

Lenne steht mit erhobenen Armen Vita direkt gegenüber. Sie hält die beiden Hälften der Kugel in den Händen. Blut klebt daran, sieht Karim, und einen kurzen Augenblick ist er beunruhigt wegen Lennes Verletzung. Aber er hat nur kurz Gelegenheit, sich darüber Sorgen zu machen. Vita lacht scharf und verächtlich, und Lenne schmeißt in einem Anfall von enormer Wut die beiden Hälften Vita vor die Füße. Grün-rote Placken verbreiten sich um Karims Knöchel und auch um die von Vita und Lenne, als würde die grüne Kugel auslaufen und eine warme Flüssigkeit verbreiten. Karim spürt, wie die Wärme in seinen Körper zurückkehrt. Er reißt sich los. Vita ist für den Bruchteil einer Sekunde fassungslos, und mehr braucht Karim nicht. Er zwingt die noch etwas steifen Muskeln in seinen Beinen zum Rennen, einfach nur Rennen. Abhauen.

Er schießt aus der Küche, in die Halle. Da steht jemand in der Eingangstür, da kann er nicht durch. Er nimmt sich nicht die Zeit, um hinzusehen, wer es ist, vermutet aber, dass es Rinnie sein könnte. Auf gut Glück rennt er auf die erstbeste Tür auf der anderen Seite der Halle zu und stürmt hindurch.

Falsch.

Offenbar ist sein Gehirn doch noch nicht ganz aufgetaut. »Mist!«, schreit Karim, als er sieht, dass er in dem geschlossenen Innenhof steht. Wie kommt er hier raus? Ist Vita schon hinter ihm her? Kann er noch zurück, wieder durch die Halle? Nein, er hört Schritte.

Voller Angst rennt Karim in dem Innenhof herum. Gibt es da irgendwo einen Ausgang? Eine Stelle, wo er sich verstecken kann? Etwas, um sich dahinter zu verbergen? Es muss doch irgendetwas geben, das er tun kann!

Doch der Innenhof ist praktisch leer. Ein Boden aus morastiger Erde, ein paar dünne und schon kahle Bäumchen, und hier und da ein paar Pflänzchen, aber die reichen ihm nicht höher als bis zu den Knöcheln. Und in der Mitte der schwarze Kessel, in dem noch immer ein kleines Feuer vor sich hin schwelt.

Es ist hoffnungslos.

Karim starrt in die glühenden Kohlen. Wenn er nur zaubern könnte, dann hätte er vielleicht noch eine Chance. Als er wieder aufblickt, steht ihm Vita direkt gegenüber, mitten in dem Kreis. Das kann einfach nicht gut gehen, denkt Karim mutlos, der Kreis wird ihre Kräfte ganz bestimmt noch verstärken.

Vita zeigt mit ihrem knochigen Zeigefinger auf ihn. In ihren Augen spiegelt sich die rote Glut der Kohlestückchen auf eine eigenartig gespenstische Art.

Jetzt ist es aus mit mir, denkt Karim. In dem verzweifelten Versuch, sich doch noch zu retten, versetzt er dem Kessel, der zwischen ihnen steht, einen energischen Tritt mit dem rechten Fuß. Es ist ein Reflex, ein Instinkt, er denkt darüber nicht nach. Im selben Augenblick, in dem er Erin, Alba und Lenne durch die Tür in den Innenhof kommen sieht, fällt der Kessel um, und die Kohlen verteilen sich um Vitas Füße. Karim hat keine Ahnung, was Alba in das Feuer geworfen hat, doch der Saum von Vitas langem Mantel fängt sofort an zu brennen. Erschrocken starrt Karim ein paar Sekunden hin. Was hat er getan?

Kreischend schlägt Vita mit den Händen nach den Flammen.

Karim dreht sich um und rennt verzweifelt an der Mauer des Innenhofs entlang. In der Hoffnung, irgendwo einen Halt zu finden, springt er an ihr hoch. Irgendetwas, und sei es nur ein kleines Gesims oder ein hervorstehender Stein, um hochzuklettern und über die Mauer zu kommen. Plötzlich spürt er etwas, das sich anfühlt wie ein Schubs in den Rücken. Er wirft noch einen schnellen verwunderten Blick über die Schulter und sieht, dass Erin zu ihm herschaut, drängend, anspornend. Er spürt noch einen zweiten Schubs, auch wenn Erin mindestens zwei Meter von ihm entfernt ist. Karim fasst nach der Oberkante der Mauer und zieht sich hoch. Auf der Mauer sitzend, lässt er seinen Blick noch einmal über die Szenerie im Innenhof gleiten.

Alba und Erin haben sich Vitas angenommen und helfen ihr, mit bloßen Händen die Flammen zu ersticken.

Lenne fängt seinen Blick auf und nickt ihm zu.

Kann er Lenne denn hier zurücklassen, allein mit den drei Hexen? Karim kommt sich schrecklich feige vor. Vita wird Lenne hoffentlich nichts tun, ihn jedoch würde sie wahrscheinlich schrecklich gern durch die Mangel drehen. Ihm fällt nichts Besseres ein, als sich einfach nur in Sicherheit zu bringen, und so lässt er sich nach unten fallen. Zum Glück landet er auf einer weichen Schicht von Moos und Blättern, und doch spürt er einen scharfen Stich im Knöchel. Hoffentlich ist nichts gebrochen, denkt Karim, bitte nicht! Er rappelt sich auf und versucht zu rennen. Der Knöchel schmerzt ordentlich. Rennen geht nicht, doch mit schnellem Humpeln schafft es Karim, sich aus dem Staub zu machen.

Wenn er doch nur die Zauberkraft besitzen würde, mit der Alba sie hergebracht hat! Aber leider muss er ganz normal laufen. Und auf der Heide ist es dunkel und kalt. Karim kennt den Weg nicht, er war nur einmal vorher hier, und das war bei Tageslicht. Außerdem war er damals mit seinem Vater unterwegs und hat nicht daran gedacht, auf den Weg zu achten. Wer hätte auch ahnen können, dass er den Weg zurück jemals selbst finden müsste, noch dazu in einer pechschwarzen Nacht!

Mit Tränen in den Augen – vor Schmerz, vor Kälte und vor Angst – taumelt und stolpert Karim in der Wildnis von Baum zu Baum. Er versucht, die Richtung zu halten, denn er hat panische Angst, im Kreis zu laufen und wieder bei dem Hexenhaus zu landen.

Der Klang der wütenden Stimmen wird langsam leiser und leiser, und das sagt ihm, dass er sich zumindest von den Hexen entfernt. Nach einer Weile hört er gar nichts mehr. Es ist totenstill. Nur noch das Knacken von Zweigen unter seinen Füßen und das Rascheln der Blätter, durch die er läuft.

Hätte er beim letzten Mal, als er hier war, doch besser aufgepasst! Nun hat er keine Ahnung, wohin er geht.

»Einfach geradeaus, einfach nur geradeaus«, murmelt er vor sich hin. Der Schmerz in seinem Knöchel wird schlimmer. Es ist bestimmt nicht gut, damit weiterzulaufen. Doch ihm bleibt keine Wahl.

Dann hört er ein Schluchzen, und es dauert ein bisschen, bis ihm bewusst wird, dass das aus seiner eigenen Kehle kommt. »Ich weine nicht«, sagt er mit kleiner Stimme. »Ich weine überhaupt nicht.« Aber er macht sich nur selbst etwas vor, und nach ein paar mühsamen Schritten muss er sich eingestehen, dass er nicht weiterkann. Er ist müde, er hat Angst, und er hat Schmerzen. »Ich will nicht mehr.«

Dann sieht er etwas Dunkles, einen rechteckigen Schatten direkt vor sich. Ein Haus? Es brennt kein Licht. Eine Scheune? Vielleicht ist es der Schafstall des Schäfers!

Karim fasst ein kleines bisschen neuen Mut und humpelt weiter. Bis dahin wird er es wohl noch schaffen, in dem Gebäude könnte er unterkommen. Hoffentlich ist eine Tür offen! Gar nicht auszudenken, wenn alles verschlossen wäre.

Als er näher kommt, sieht er, dass es nur ein kleines Holzhäuschen ist, nicht der Schafstall, der war viel größer. Auf einem Bein hüpft Karim eilig darauf zu. Es kann doch nicht so schwer sein, die Tür zu finden. Nun sieht Karim Fenster, die das Mondlicht spiegeln. Eines davon steht einen Spalt offen!

Als Karim dann die Tür gefunden hat, stellt sich heraus, dass sie verschlossen ist. Davor hatte er Angst. Doch jetzt geht er zielbewusst zu dem offenen Fenster. »Und durch das komme ich rein!«, sagt er wild entschlossen. »Ich werde hier doch nicht den Rest der Nacht auf den Stufen sitzen, das kannst du vergessen.«

Es ist ein Schiebefenster, und nach einigem Rütteln und Stoßen kriegt Karim es weit genug auf, um hindurchzuklettern. Er zieht sich an der Fensterbank hoch, schlängelt sich durch die Öffnung und lässt sich dann einfach fallen. Unsanft landet er auf dem Holzboden.

»Geschafft!«, ruft er triumphierend, und seine Stimme überschlägt sich dabei. »Aber wo bin ich eigentlich?« Dann erinnert er sich an das Wildhüterhäuschen. Natürlich, das war es: das Häuschen, wo sich der Wildhüter ab und zu einen Kaffee kochen oder bei einem Unwetter Schutz finden kann. Es ist nur eine einfache Hütte, in der ein Tisch und ein Stuhl stehen, und es gibt eine Spüle mit einem Wasserhahn, einen Gasbrenner und einen Kessel. Karim sieht auf der Spüle einen Becher stehen, in dem ein Teebeutel hängt. Er schmeißt den Teebeutel weg und lässt den Becher mit Wasser volllaufen. Durstig trinkt er ein paar Schlucke und setzt sich dann auf den Stuhl. Schade, dass es hier kein Bett gibt, er ist todmüde. Aber wahrscheinlich würde er doch nicht schlafen können. Er friert und ist zutiefst unglücklich. Da sitzt er nun, mitten im kalten und dunklen Wald in einer Holzhütte auf einem harten Stuhl. Und es gibt niemanden, der weiß, wo er ist.

Plötzlich strömen ihm die Tränen über die Wangen. »Ich finde das gar nicht mehr lustig«, schluchzt er verzweifelt und legt den Kopf auf die Hände.

Ob Lenne ihn holen wird? Ob sie ihn suchen wird? Vielleicht zusammen mit Erin. Wenn sie dahinterkommen, dass er nicht zu Hause ist, dann werden sie doch sicher überall nachsehen, wo er stecken könnte? Wie lange wird es dauern, bis sie ihn finden? Bedrückende Fragen geistern durch Karims Kopf. Er seufzt tief auf, ein zittriges und piepsiges Geräusch.

Er kann nichts anderes tun als warten.

 

Der Stuhl ist total unbequem, der Knöchel klopft und pocht. Nach einer Weile hat Karim keine Tränen mehr. Ungeduldig rutscht er auf dem Stuhl hin und her. Er ist das Warten leid. Er muss etwas zu tun haben, ganz egal was. Er steht auf und hüpft auf einem Bein durch die Hütte. Es gibt nichts Besonderes zu entdecken, nichts, mit dem er sich beschäftigen könnte. Er geht an eines der Fenster und sieht hinaus. Im Mondlicht kann er die Stämme der nächsten Bäume erkennen, aber ein Stückchen weiter verliert sich alles in einem tiefen und düsteren Nichts. An jeder der vier Wände gibt es ein Fenster. Karim hüpft von einem zum anderen. Überall ist die Aussicht gleich.

»Ich kann gut noch eine Weile so weiterhüpfen, aber was nützt mir das?«, jammert er und wirft noch einen Blick aus dem ersten Fenster.

Und dann erstarrt er. Er sieht ein Licht! Es bewegt sich mit rasender Geschwindigkeit zwischen den Bäumen hindurch. Manchmal verliert er es kurz aus den Augen, dann ist es hinter einem Baumstamm oder einem Busch. Kommt es näher? Kommt es hierher? Ja, es wird größer, es kommt eindeutig auf die Hütte zu!

Karim weiß nicht, ob er sich freuen soll oder Angst haben muss. Wer das wohl ist? Und wenn das nun wieder die grausige Hexe ist? Aber es könnte auch eine von den anderen sein. Dass es eine Hexe ist, steht für ihn fest. Es geht so blitzschnell, schneller als ein Mensch jemals laufen könnte. Was soll er tun? Er könnte durch das Fenster nach draußen klettern und rufen: »Ich bin hier!« Doch das wäre nicht so schlau, wenn es Vita ist, die ihn sucht. Auf der anderen Seite würde es wahrscheinlich nicht viel ändern. »Soll sie doch einfach herkommen und nachsehen, wer es auch ist«, sagt Karim laut zu sich selbst. »Die wissen natürlich alle drei, dass hier ein Häuschen steht, und es wäre dumm, nicht mal kurz reinzusehen, ob sich da ein Junge versteckt hat …« Ihm wird wieder kalt, und eine Gänsehaut kriecht über seine Arme. Er sollte sich lieber verstecken! Aber wo? Unter dem Tisch ist die einzige Möglichkeit, es gibt hier nichts anderes. Er wirft noch einen letzten Blick durch das Fenster. Das Licht ist näher gekommen, es ist schon sehr dicht bei der Hütte. Mit einem verzweifelten Sprung taucht Karim unter den Tisch, wo er zitternd auf das wartet, was kommen mag.

Er braucht nicht lange zu warten, denn nach wenigen Sekunden fliegt die Tür – die gerade noch so fest verschlossen schien – mit einem Knall auf. Aus seinem Versteck heraus sieht Karim nur zwei Schuhe und den Saum eines Mantels, der übel zugerichtet ist. Das Feuer, denkt Karim, der Stoff ist verbrannt von dem Feuer, das ich umgetreten hab. Das kann niemand anderes als Vita sein.

Der Tisch schützt ihn nicht. Mit zwei Schritten ist die Hexe bei ihm und zerrt ihn an den Haaren hervor. Karim quietscht wie ein Schwein, das zum Schlachthof gebracht wird. Dagegen kann er nichts machen, Angst und Verzweiflung haben sich in der letzten halben Stunde in ihm aufgestaut und platzen nun als ungeheure Schreie aus ihm heraus.

»Ja, schrei du nur!«, zischt Vita ihm ins Ohr. »Du wirst noch viel lauter schreien, bis ich mit dir fertig bin!«

»Ich will das nicht!«, schreit Karim. Was auch immer sie mit ihm tun wird, er will das nicht.

Die Hexe lacht, ein verächtliches, ein eisiges schallendes Gelächter.

Karim kämpft darum, freizukommen, er schlägt mit den Armen nach allen Seiten, er tritt die Hexe vors Schienbein.

Sie packt ihn mit ihrem eisernen Griff, und Karim spürt erneut, wie er sich versteift. Was ist das nur, was sind das für Zauberkünste, die sie immer wieder auf ihn loslässt und durch die er spüren kann, wie ihm das Blut in den Adern rasend schnell gefriert? Gleich bin ich ein Eisklumpen oder eine Statue aus Stein, denkt Karim. Und dann kann mir niemand mehr helfen, dann stehe ich für alle Zeiten eingefroren in derselben Haltung da. Seine Ohren dröhnen von einem rauschenden und tosenden Geräusch, als würden hundert Herbststürme zugleich auf seine Trommelfelle eindreschen.

Einen Augenblick lang weiß er nicht mehr, was passiert, er verliert ein paar Sekunden – oder sind es Minuten? – Zeit, die ihm weggenommen wurde, als wäre er für einen kurzen Moment versteinert gewesen.

Plötzlich erscheint ein neues Bild auf seiner Netzhaut. Kommt es daher, dass er die Augen geschlossen hatte und nun wieder aufmacht? Oder schaut er mit offenen Augen ins Nichts? Es ist ein großes schwarzes Nichts, ein unendliches, furchterregendes Nichts. Aber nun tauchen langsam wieder Farben auf, als würde die Welt zurückkehren. Ohne etwas zu begreifen, starrt er in die verschwommenen Gesichter, die er vor sich sieht. Er kneift ein paarmal die Augen zu. Das Bild wird schärfer. Jemand legt ihm den Arm um die Schultern, beschützend, tröstend.

»Lenne?« Karims Stimme krächzt, als hätte er sie seit Jahren nicht benutzt.

»Nein, Luna«, flüstert sie ihm ins Ohr.

Dann sieht er, was zu seinen Füßen liegt: eine Gestalt in einem dunklen Mantel. Sie liegt da, als ob sie Knall auf Fall in sich zusammengesackt wäre.

Alba und Erin stehen zu beiden Seiten der gefallenen Hexe, beide haben einen silbernen Dolch in der Hand.

»Ihr habt sie ermordet!« Karim ist erschrocken und hält sich die Hand vor den Mund. »Habt ihr sie niedergestochen?«

»Nein«, antwortet Alba. »Nicht erstochen, nur etwas geritzt.« Sie blickt auf ihren Dolch. »Es ist nur ein bisschen Gift.« Sie wischt die Spitze des Dolchs an ihrem Mantel ab.

»Und jetzt ist sie … tot?«, will Karim wissen. Kaum hat er die Worte ausgesprochen, da stößt die Hexe auf dem Boden ein grollendes Geräusch aus. Ängstlich springt Karim zurück.

Mit äußerster Kraftanstrengung dreht Vita den Kopf. Hasserfüllt starren ihre grünen Augen Karim ins Gesicht. Sie macht den Mund auf, als ob sie etwas sagen wolle, aber kein Ton kommt über ihre Lippen. Keuchend lässt sie den Kopf wieder auf den Boden sacken. Sie scheint an einer plötzlichen Lähmung zu leiden, die ihr alle Kraft aus den Muskeln genommen hat.

Jetzt wischt auch Erin ihren Dolch sauber. »Natürlich ist es tödlich«, sagt sie, »wenn man zu viel davon nimmt. Aber Hexen töten sich gegenseitig nicht. Das ist gegen das Gesetz.«

Karim kichert vor Anspannung. »Aber sie dürfen sich gegenseitig vergiften?«

Alba nickt. »Im äußersten Notfall.«

Alba und Erin wechseln einen Blick.

»Ich denke, der Augenblick ist gekommen, an dem wir nicht länger zögern sollten«, sagt Erin leise. »Wir sollten es jetzt machen.«

»Ja.« Alba seufzt. »Ich befürchte, dass es die einzige Möglichkeit ist, dem allen hier ein Ende zu machen. Wir können sie nicht länger in Schach halten, dafür ist sie zu stark, zu mächtig und vor allem … zu hinterhältig.«

»Wir sind schließlich auch da, um die Menschen und die Natur zu beschützen«, sagt Erin selbstbewusst. »Und es gibt zu vieles, das wir nicht länger vor Vita in Schutz nehmen können, es ist jederzeit möglich, dass etwas Furchtbares geschieht, und dann sind wir daran mitschuldig.« Sie wirft einen verstohlenen Blick auf Karim. »Ich will das nicht auf dem Gewissen haben, damit könnte ich nicht leben.«

»Jetzt?« Alba blickt Erin mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an.

Erin nickt. »Jetzt.«

Dann geht sie zu Lenne, legt ihr die Hände auf die Schultern und dreht sie um, sodass sie der Hexe auf dem Boden den Rücken zukehrt.

»Westwind«, flüstert sie Lenne zu.

Karim versteht das nicht. Westwind? Was bedeutet das?

Vita fängt an zu lallen, wüste Geräusche kommen über ihre kraftlose Zunge. Sie würde fluchen, wenn sie es könnte, das ist deutlich. Ihre Fingernägel kratzen matt über die Bodenbretter.

Erin stellt Karim Lenne gegenüber und dreht auch ihn mit dem Rücken zur Hexe, die nun zwischen ihren Rücken liegt. Dann legt sie ihm die Hand auf die Stirn und sagt etwas zu ihm. »Was? Ich verstehe dich nicht«, will Karim sagen, doch im selben Moment spürt er, wie eine Woge von Energie durch seinen Körper strömt. Automatisch streckt er den Rücken, seine Schultern straffen sich, und er reckt das Kinn. »Merk dir das eine Wort: Ostwind. Du wirst von selbst merken, wann du an der Reihe bist.«

Das ist alles, was Erin ihm erklärt. Karim fröstelt. Ihm ist unbehaglich, und er fühlt sich nicht mehr sicher, weil er der bösen Hexe den Rücken zukehrt. Er würde sie lieber unter Kontrolle haben. Doch er bleibt gehorsam so stehen, wie Erin es gewollt hat, denn es wird wohl einen Grund dafür geben. Hinter sich hört er leise Stimmen, Worte, die er nicht versteht und wohl auch niemals verstehen wird. Worte aus dem Buch der Beschwörungen, das er auf dem Tisch im Haus der Hexen liegen gesehen hat? Vermutlich schon. Was ist es für eine Beschwörung, die die Hexen über Vita aussprechen? Er hört eine Stimme von links, eine Stimme von rechts, immer abwechselnd. Er begreift, dass sie nun um Vita herumstehen, und wenn Lenne der Westwind ist und er der Ostwind, dann werden wohl Alba und Erin die beiden anderen Windrichtungen darstellen. Aber woher soll er wissen, was er tun muss und wann? Gleich verpfuscht er noch in seiner Unwissenheit das ganze Ritual! Nervös starrt er auf die Wand ihm gegenüber und auf das dunkle Fenster mit der schwarzen Nacht dahinter. Er spitzt die Ohren und gibt sein Bestes, um gut aufzupassen. Sie werden doch wohl seinen Namen sagen, wenn er dran ist, etwas zu tun? Erin hat sehr sicher gewirkt und schien keinen Moment an Karim zu zweifeln. Ich darf sie nicht enttäuschen, geht es Karim nervös durch den Kopf, ich muss es einfach gut machen. Er lauscht den unverständlichen Worten. Es wird kalt in dem kleinen Raum, in dem sie sich befinden. Eine eisige und schneidende Art von Kälte. Karim erinnert sich, dass die Tür der Hütte offen geblieben war. Vielleicht kommt die Kälte daher? Ist es einfach nur die kalte Nachtluft, die hereindringt? Er hört, wie sich die Stimmen von Alba und Erin verdoppeln, als würde ein Echo nachklingen. Das ist seltsam. Wie kann jemand mit zwei Stimmen zugleich sprechen? Und dann verdoppeln sich die Geräusche wieder und wieder, bis ein ganzer Chor von Stimmen um ihn hallt. Karim hört es in seinen Ohren summen, flüsternde, raunende, murmelnde Stimmen, die sich zu einem leisen Rauschen vervielfachen. Von anderen Hexen vielleicht? Hexen, die von Alba und Erin gerufen worden sind, gerufen, um zu helfen? Und sind es dann nur ihre Stimmen, oder sollten sie hier etwa körperlich anwesend sein? Karim würde sich so gerne umdrehen, um zu sehen, was da passiert, auch wenn es nur ein schneller Blick über die Schulter wäre. Aber er traut sich nicht. Allein schon die Vorstellung, dass er damit alles zerstören würde! Das Geflüster wird zu einem Sturm von Stimmen, der durch die Hütte braust, und Karim spürt, wie der Wind an seinen Ohren entlangstreicht. Wie soll er sich hier überhaupt noch zurechtfinden? Wie soll er wissen, wann etwas zu ihm gesagt wird? Er wird von dem Geflüster beinahe betäubt, er überlässt sich ganz den Geräuschen, die wie eine rauschende Meeresbrandung durch die Hütte wogen. Aber dann hört er plötzlich durch das summende Geräusch Albas Stimme scharf und deutlich, die ein einziges Wort für ihn verständlich ausspricht: »Südwind.«

»Westwind«, antwortet Lenne, die offensichtlich ohne Weiteres versteht, was von ihr erwartet wir.

»Nordwind!«, ruft Erin laut.

Kurz bleibt es still. Karim schnappt nach Luft. Ist er an der Reihe? Es kann eigentlich nicht anders sein, es muss einfach so sein. »O-oostwind«, stößt er stockend hervor. Er hat es kaum gesagt, da erhebt sich ein Sturm, der verglichen mit dem Stimmengewirr ein Orkan ist. Ein Luftstrudel rast durch die kleine Hütte. Der Stuhl am Tisch fällt um. Karim muss sich anspannen, um nicht herumgewirbelt zu werden, der Sturm stößt und rüttelt seinen Körper, und die Kleider flattern ihm um die Glieder. Da ertönt ein Gekreisch, das durch Mark und Bein fährt, eine gellende Stimme, die vor Hass und Zwietracht nur so brüllt. Gequält presst Karim die Hände auf die Ohren, die Stimme ist nicht zu ertragen! Lass das bitte schnell vorübergehen! Er kneift die Augen fest zu. Jetzt will er nicht mehr wissen, was hinter ihm passiert, jetzt will er nur noch, dass es aufhört. Mit zitternden Beinen hält er stand. Er konzentriert sich auf seine Füße, mit denen er sich gegen den Wind stemmt. Ich darf nicht umfallen, ich darf nicht zusammenbrechen, ich darf nicht aufgeben. Aufrecht stehen bleiben, das ist das Einzige, das zählt. Ich bin der Ostwind. Ich bin der Wind, der Hexen fortweht. Fort, fort! Niemand kann gegen alle vier Winde gleichzeitig bestehen. Verschwinde von hier. Wenn der Wind aus allen vier Himmelsrichtungen bläst, dann ist keine Hexe mehr sicher. Karim spürt und weiß auf einmal, dass er ein Teil des Sturms ist. Er trägt selbst dazu bei, ist einer der vier Verursacher des Sturms. Er spürt die Energie, die Erin ihm gegeben hat, durch seinen Körper strömen, von der Stirn bis zu den Fingerspitzen, bis in die letzten Enden seiner Zehen. Und er lacht. Er kann nichts dagegen tun, er muss lachen, schallend lachen. Es ist ein herrliches Gefühl, als ob ihm irgendetwas sagen würde, dass er niemals mehr Angst haben muss. Und dann verstummt das Geräusch, die Winde legen sich, und es wird still im Raum.

Karim lässt die Hände sinken und holt tief Luft. Ist es vorbei? Zögernd dreht er sich um.

Vita ist verschwunden.