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Lenne steht vor dem Schrank ihrer Mutter. »Weißt du schon, was du anziehst?«, fragt sie Karim.

Es ist Montagnachmittag, die Herbstferien sind vorbei, und Gruselkostüme waren in der Schule das Gesprächsthema des Tages. Nur noch ein paar Tage, dann ist es so weit. Am Freitagabend findet das Gruselfest statt.

Karim schüttelt den Kopf. »Ich hab mich schon seit Jahren nicht mehr verkleidet. Früher hatte ich mal für die Karnevalszeit ein Clownskostüm.«

Lenne kichert.

Karim lacht vergnügt mit. »Du weißt ja, als ich so sechs Jahre alt war.

Lenne nickt, sie kann sich erinnern. »Als ich das Prinzessinnenkleid hatte.«

Sie gucken sich an und brechen in Gelächter aus.

»Nein, ich weiß es wirklich nicht«, sagt Karim kurz darauf. »Ich hab nichts Unheimliches zum Anziehen.«

Lenne nimmt etwas aus dem Schrank – ein Kleid, das ihre Mutter einmal auf einem Fest getragen hatte. Es ist schwarz und lang. »Hm, das kann man doch wohl als Hexenkleid durchgehen lassen, oder?« Sie hält es vor sich und schaut in den Spiegel.

»Stolperst du nicht darüber?«, fragt Karim. »Es ist viel zu lang für dich.«

»Dann bind ich einfach hier was drum.« Lenne zeigt auf ihre Hüfte. »Eine Schnur oder so was.«

»Haben echte Hexen auch«, informiert Karim sie. »Da muss dann noch ein Messer dran hängen. Oder ein Dolch, oder wie heißt so was. In so einem kleinen ledernen Ding, sonst stichst du dich noch selbst.«

Lenne zuckt mit den Schultern. »Das hab ich alles nicht. Dann eben ohne Messer.«

»Vielleicht muss ich auch mal im Schrank von meinem Vater nachsehen.« Karim stöhnt. »Und sonst schminke ich mich einfach selbst ein bisschen ekelig mit massenhaft Blut und so.«

 

Am Vorabend weiß Karim immer noch nicht, wie er auf das Fest gehen soll. Jesse hat erzählt, dass er als Vampir geht, ganz in Schwarz und mit einem Plastikgebiss, das er aus einem Geschäft für Partyartikel hat. Karim besitzt so etwas nicht. Das Einzige, was ihm bisher eingefallen ist, wäre eine Verkleidung als Gespenst, in einem alten Bettlaken, in das Löcher für die Augen geschnitten sind. Aber das machen wahrscheinlich Dutzende von anderen Kindern auch, denen ebenfalls nichts Besseres eingefallen ist. Besonders originell wäre das jedenfalls nicht.

»Karim, gib mal deinen Teller her.«

Er sitzt am Tisch. Er hört gar nicht, was sein Vater zu ihm sagt.

»Karim, willst du keinen Salat?«

»Haben wir noch Verkleidungssachen?«, fragt er seine Mutter.

»Verkleidungssachen?«

»Ja. Früher hatten wir die. Ich brauch was für morgen Abend. Was Gruseliges. Jesse geht als Vampir und Lenne als Hexe.«

»Geh doch als Zombie.« Sein Vater lacht und schüttelt den Kopf, während er nach Karims Teller greift. »Dafür brauchst du nicht viel.

»Hä?«, fragt Karim.

»Genau.« Sein Vater nickt. »Das meine ich.«

»Wie sieht ein Zombie aus?«, will Karim wissen.

»Vor allem sehr tot«, sagt seine Mutter lachend.

»Ach ja«, murmelt Karim nachdenklich. »Das sind die lebenden Toten.« Begeistert richtet er sich auf. »Toll! Schminkst du mich dann?« Endlich eine gute Idee! So schwierig ist das sicher nicht. »Du musst nur dafür sorgen, dass ich schon ein bisschen verfault aussehe.«

»Karim, wir sind beim Essen!«

»Und dann muss ich nur noch ein paar fiese alte Klamotten anziehen. Ist doch ganz einfach.«

 

Karim verrät nur Lenne, dass er als Zombie zu dem Fest geht, sonst niemandem.

Den ganzen Freitag schwirren die Gerüchte herum. Herr Paul kommt als Monster, behauptet Jesse zu wissen, doch ein anderer Junge widerspricht. Er hätte gehört, dass ihr Lehrer als Troll verkleidet käme. Herr Paul selbst sagt nichts und grinst nur geheimnisvoll. Auch die anderen Lehrer und Lehrerinnen geben sich sehr verschwiegen, sonst wäre es ja keine Überraschung mehr, meinen sie.

»Die Eltern vom Elternbeirat kommen auch verkleidet«, erzählt Lenne. »Sie sorgen für Gruselessen und unheimliche Getränke, habt ihr das schon gewusst? Meine Mutter macht grüne Limonade mit Obststücken drin. Das hat sie zu Hause ausprobiert, und es sieht richtig ekelig aus.«

Malika nickt. »Meine Mutter ist schon seit gestern Abend mit Lakritzschnüren beschäftigt. Ich glaub, sie versucht, Spinnen zu machen.«

»Wartet nur mal, bis ihr seht, womit mein Vater ankommt!«, ruft ein Junge, der Arne heißt. »So was Schmieriges habt ihr noch nie gesehen!«

»Nicht alles verraten, Leute!«, ruft Herr Paul. »Ich brauche übrigens noch ein paar Kinder, die nach der Schule dableiben und beim Dekorieren helfen.«

Lenne und Karim heben sofort die Hände.

Die Schule ist schon um drei Uhr aus, das Fest beginnt aber erst um sieben Uhr abends. In diesen Stunden wollen sie gerne bei der Vorbereitung helfen, dann vergeht die Zeit schneller.

Hier und da muss noch etwas herbeigeschleppt werden, und es sind noch Sachen aufzuhängen. In der Schulhalle müssen Tische zusammengeschoben werden, damit dort alles aufgebaut werden kann, was es zu essen und zu trinken gibt. Verziert werden die Tische mit schwarzem und orangem Krepppapier. Girlanden aus demselben Material werden an der Decke aufgehängt, aber nicht in schönen Bogen wie bei einem Kinderfest. Sie hängen in ausgefransten schwarzen Büscheln von der Decke, als würde man sich gleich in einem riesigen Spinnennetz verfangen. Einige Eltern haben Kürbisse auf dieselbe Art ausgehöhlt, wie Marit das zu Hause gemacht hat. Es war ihre Idee gewesen, und Lenne hilft stolz, sie in die dunkelsten Ecken zu stellen, denn heute Abend sollen darin kleine Lichter brennen.

»Nicht unter die Papiergirlanden, sonst geht der ganze Kram in Flammen auf!«, warnt Marit.

»Karim, kommst du mal mit und hilfst mir draußen?«, bittet Herr Paul.

»Draußen?«, fragt Karim. »Machen wir draußen auch was?« Er geht hinter Herrn Paul her zum Fahrradschuppen.

»Die hier müssen auf den Schulhof.«

»Was sind das für Dinger?«

»Feuerkörbe! Kennst du die nicht?«

Karim schaut sich die schwarzen gusseisernen Körbe an. »Boah! Kann man da echt Feuer drin machen?«

»Natürlich! Dafür werde ich ganz persönlich sorgen.« Der Lehrer versetzt Karim einen verschwörerischen Stoß. »Schön die Flammen schüren. Hilfst du mir dann?«

»Na klar!« Karim grinst. Das muss nachher, wenn es dunkel ist, ein tolles Bild geben! Es gibt zwei Feuerkörbe, und Karim und Herr Paul überlegen gemeinsam, wo jeweils der beste Platz dafür wäre.

»Sie müssen frei stehen und ein bisschen Platz haben«, erklärt Herr Paul. »Einer da nach links und einer auf der rechten Seite? Dann stehen sie auch nicht im Weg, wenn die Leute von dort auf den Schulhof kommen und zum Eingang wollen.«

Karim nickt.

»Also dann stellen wir den hierhin. Gut. Und dann holen wir noch den anderen.«

Karim rennt schon zum Fahrradschuppen vor. Das ist ein kleines dunkles Gebäude ohne Fenster. Ein paar Räder von Lehrerinnen und Lehrern stehen da und sonst nur noch Kartons mit Altpapier. Der zweite Feuerkorb steht auf einem großen Karton. Karim traut sich nicht, ihn alleine herunterzuheben, die Dinger sind ordentlich schwer. Er dreht sich zur offen stehenden Tür um und wartet auf den Lehrer.

Mitten in der Türöffnung sitzt eine pechschwarze Katze.

Mit gerunzelter Stirn schaut Karim sie an. »Langsam kann ich die Viecher nicht mehr ausstehen«, murmelt er. »Die sind ja wirklich überall!« Vielleicht saßen sie ja immer schon überall herum, doch das war ihm früher nicht so aufgefallen. Karim wendet dem Tier den Rücken zu und geht einen Schritt auf den Feuerkorb zu. Wo bleibt denn der Herr Paul nur?

Eine blasse Herbstsonne steht am Himmel, die direkt in den Schuppen scheint. Karim sieht, wie der Schatten der Katze über den Boden und auf die Kartons fällt. Ein lang gestreckter Schatten. Weil die Sonne so niedrig steht? Karim wirft einen Blick über die Schulter.

Die Katze sitzt in aller Gemütsruhe mitten auf der Schwelle, stolz und aufrecht, den Schwanz um die Pfoten gelegt. Hochmütig sieht sie Karim an.

Mit dem Blick folgt er dem Schatten, einer lang gestreckten grauen Form, die sich über den Boden und die Kartons bis auf die Wand erstreckt. Mit ein bisschen Fantasie könnte das ebenso gut der Schatten eines Menschen sein, denkt Karim. Aber eigentlich ist da gar keine Fantasie notwendig. Der Leib, der könnte eine Frau in einem Kleid sein, denkt Karim. Und dann ist da der Kopf auf der Mauer. Ein runder Kopf. Aber ein runder Kopf, das passt eigentlich nicht. Eine Katze hat zwei spitze Ohren. Karim kneift seine Augen etwas zusammen. Wo sind die Ohren des Katzenschattens? Im selben Moment, als sich Karim blitzschnell zu der Katze umdreht, springt das Tier nach draußen in die Sonne. Karim spürt sein Herz in der Kehle schlagen.

Herr Paul erscheint in der Türöffnung. »Ich habe ihn doch noch ein Stück weiter weg gestellt, kam mir sicherer vor.«

Karim sieht seinen Lehrer an, ohne etwas zu sagen. Die Gedanken wirbeln ihm durch den Kopf. Eine Frau in einem Kleid, ein runder Kopf. »Wie, was?«, stammelt er dümmlich.

Herr Paul lacht. »Du wirkst, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen.«

Nein, eine Hexe mit kahlem Kopf, denkt Karim. Er sagt: »Nein, eine schwarze Katze.«

»Ui!«, gruselt sich Herr Paul. »Kommt ja wie gerufen.«

Karim schluckt und zwingt sich zu einem matten Lächeln. »Ja, sie war schon ein unheimliches Vieh.« Oder vielleicht hab ich einfach zu viel Fantasie.

Als er dann kurze Zeit später wieder draußen steht, ist die Katze nirgendwo zu sehen.

»Und jetzt füllen wir sie«, sagt Herr Paul. »Magst du Papier zusammenknüllen? Da im Schuppen gibt es genug.«

Karim will schon Papier zerknüllen, doch nur mit dem Lehrer dicht in seiner Nähe. Er hat keine Lust, auch nur eine Sekunde länger in dem Schuppen zu bleiben. Daher schleppt er einen Stapel alter Zeitungen nach draußen. Als er Lenne in der Tür der Eingangshalle sieht, winkt er ihr. »Kommst du mir helfen?«

»Drinnen ist alles fertig«, sagt sie, sobald sie bei ihm ist. »Mann, das musst du dir mal ansehen! Echt gruselig. Vor allem, wenn es heute Abend dunkel ist!«

Karim blickt Lenne zurückhaltend an. »Schön gruselig … oder unheimlich gruselig?«

Lenne zieht die Augenbrauen hoch. »Wieso?« Mit Herrn Paul daneben kann sie Karim schlecht eine direkte Frage stellen, aber sie sieht an seinem Gesicht, dass irgendetwas passiert ist.

Der Lehrer kriegt nichts mit, er ist voll damit beschäftigt, Zweige und Hölzchen über den Knien entzweizubrechen und zwischen die Papierbällchen in den Korb zu stecken. »Leute, das wird fantastisch. Eigentlich sollte ich mir noch was überlegen, was man über dem Feuer rösten kann. Marshmallows oder so. Sachen, die man auf einen Stock spießt und die dann so schön zerschmelzen.«

»Kastanien«, murmelt Karim. »Das geht auch mit Kastanien.«

Herr Paul sieht ihn verwundert an. »Oh, du kennst das.« Er lacht. »Junge, das ist altmodisch, geröstete Kastanien. Ich glaube nicht, dass die heutzutage noch jemand isst.«

Aber ja doch, denkt Karim, erst letzte Woche hab ich noch eine gegessen. Aber er sagt: »Oh, nein, das muss nicht sein.«

Der Lehrer stößt einen Seufzer aus. »Schade, dass kein Sommer mehr ist. Ich fürchte, dass es heute Abend viel zu kalt ist, um hier draußen rumzustehen und so schöne Sachen zu machen. Ach, und außerdem gibt es drinnen genug Leckeres. Sind die Tische schön geworden, Lenne?«

»Ja, sehr schön«, antwortet Lenne automatisch, denn noch immer hat sie Karims besorgten Blick vor Augen. Er sieht gar nicht mehr fröhlich aus.

»Na, dann sind wir fertig.« Herr Paul sieht auf die Uhr. »Schon fast fünf Uhr. Ihr müsst jetzt mal nach Hause gehen, sonst werden eure Eltern unruhig.«

»Nein, nein.« Lenne schüttelt den Kopf. »Meine Mutter ist gerade weg, und ich hab gesagt, dass ich auch gleich gehe.«

»Zum Glück ist es noch nicht dunkel«, sagt Karim und blickt zögernd nach oben, wo sich der Himmel hellorange färbt.

»Ich geh schnell meine Jacke holen«, sagt Lenne und klopft Karim leicht auf den Rücken. Was ist los mit ihm? »Bin gleich zurück.«

Herr Paul geht mit ihr rein. »Bis heute Abend, Karim.«

Karim nickt. »Bis heute Abend.« Es fröstelt ihn, und er steckt seine Hände tief in die Jackentaschen. Mit den Augen sucht er den Schulhof ab. Noch irgendwelche unheimlichen Katzen? Ungeduldig hin- und hergehend, wartet er auf Lenne. Ah, da ist sie ja endlich.

»Was ist los mit dir?«, will sie sofort wissen, sobald sie nahe genug ist. »Du benimmst dich so komisch.«

Karim macht den Mund auf. Und dann macht er ihn wieder zu. Er will Lenne nicht beunruhigen. Da ist es wahrscheinlich besser, still zu sein. »Nichts!«, sagt er daher. »Hier draußen ist mir zu kalt geworden, und ich möchte gern nach Hause gehen.«

Zusammen verlassen sie den Schulhof.

Karim sieht sich noch einmal kurz um, er kann es nicht lassen.

Der Sonnenuntergang spiegelt sich grellorange in den Fenstern der Schule.

»Es sieht fast so aus, als würde es da drinnen brennen«, meint Lenne. »Sehr seltsam. Siehst du das? All die orangen Fenster, genau so, als würde da drinnen alles in Flammen stehen.«

»Ha-ha«, unternimmt Karim den Versuch, zu lachen. Er guckt zu den spiegelnden Fenstern und bildet sich ein, einen Schatten hinter dem dritten Fenster von links zu sehen. Er weiß, dass das Unsinn ist, denn die Fenster reflektieren das rotgelbe Sonnenlicht so grell, dass nichts mehr dahinter zu erkennen ist. Und doch sieht er es, eine Gestalt, die ihnen hinterherstarrt. Schnell läuft er zu Lenne, während er spürt, wie der Blick grüner Augen seinen Rücken prickeln lässt. Das ist nur Einbildung, sagt er sich streng, es ist Einbildung, da ist niemand, niemand steht hinter dem Fenster, niemand, der uns nachschaut. Niemand. Mein Gehirn ist überhitzt, ich sehe Gespenster. Nein, keine Gespenster, ich sehe Hexen. Ich sehe Hexen, wo keine sind. Ich sehe Katzen mit komischen Schatten. Ich sehe … ich sehe, was niemand sieht. Ich sehe niemanden. Da ist niemand. Er greift nach Lennes Hand. »Komm, wir rennen, dann wird uns wenigstens wieder warm.«