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Als Karim am Morgen nach unten kommt, steht die Haustür sperrangelweit offen. Erstaunt bleibt er unten an der Treppe kurz stehen. Dann geht er auf bloßen Füßen über die eiskalten Fliesen durch den kleinen Flur zur Tür. Doch kurz bevor er hinaustritt, schießen ihm plötzlich alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Das Gekreische heute Nacht, Hexen, der Lichtschein gestern bei Lenne, und jetzt eine einfach so offen stehende Haustür … Sind seine Eltern überhaupt noch da? Er wird doch nicht alleine im Haus sein? Wer hat die Tür aufgemacht? Was ist passiert?

Die Kälte der Fliesen zieht über seine Füße nach oben, und plötzlich muss er ganz dringend pinkeln. Aber dann reißt er sich zusammen, überschreitet die Türschwelle und geht in den Vorgarten.

Als Erstes sieht er seine Mutter, die vor sich hin schimpfend irgendetwas in den Mülleimer wirft. Karim sieht sich im Vorgarten um. Da liegen ein paar umgefallene Blumentöpfe, zwei davon sind kaputt. Schwarze Blumenerde ist auf dem hellen Kies des Wegs verstreut. Dazwischen liegen abgeknickte gelbe und orangebraune Chrysanthemen, die Lieblingsblumen seiner Mutter.

»Was ist passiert?«, fragt Karim mit rauer Stimme.

Seine Mutter blickt auf. »Hör mal, geh mit deinen nackten Füßen schnell wieder ins Haus. So fängst du dir noch eine Erkältung ein.«

Aber um eine eventuelle Erkältung kann Karim sich jetzt nicht kümmern. »Wie ist das passiert?« Er zeigt auf die beschädigten Pflanzen.

»Ach, diese blöden Katzen.« Seine Mutter seufzt. »Hast du sie heute Nacht nicht gehört?«

Mit offenem Mund starrt Karim sie an. Also war seine Mutter auch wach! Er schaut auf die Scherben. Katzen, denkt er. Er erinnert sich an das kreischende Gejammer. Kämpfende Katzen? Erleichtert fängt er an zu lachen.

»Jetzt aber los, Junge, rein mit dir.«

Karim wirft einen Blick auf seine eiskalten Füße auf dem feuchten Gehweg. Er dreht sich um, springt und landet auf der Fußmatte. »Kann ich mir ein Brot schmieren?«

»Mach nur. Ein Töpfchen Erdnussbutter steht auf der Anrichte.«

Als Karim sich an der Anrichte sein Brot schmiert, erscheint das Bild einer roten Katze vor seinen Augen. Katzengejammer in der Nacht. Von ganz stinknormalen Katzen? Warum eigentlich nicht? Es muss doch nicht hinter allem etwas stecken!

Mit dem Brot in der Hand geht er ans Fenster und schaut seiner Mutter zu, wie sie die letzten Scherben zusammenklaubt. Er weiß keinen einzigen Grund, warum die Hexen in Katzengestalt den ganzen Kram hier zu Bruch gehen lassen sollten. Lenne ist nicht da, und was haben die Hexen bei ihm im Garten zu suchen? Ganz bestimmt nichts. Sie sind jedenfalls nicht auf der Jagd nach Jungen. Solange Lenne nicht da ist, ist er wahrscheinlich in Sicherheit. Zurzeit muss er niemanden beschützen, also gibt es für die Hexen keinen Grund, ihn aus dem Weg haben zu wollen.

Er sollte vielleicht noch mal bei der Wassermühle nachsehen, nachdem er nun die Geschichte kennt, die dazugehört.

Als ihm seine Mutter später am Morgen vorschlägt, doch irgendetwas Schönes zusammen zu unternehmen, hat er sofort eine Idee. »Kann ich Jesse anrufen und ihn fragen, ob er mit uns auf der Heide spazieren geht?«, fragt er mit unschuldigem Gesicht.

Seine Mutter schüttelt den Kopf und lacht. »Mensch, Karim, was fehlt dir denn? Schon wieder spazieren gehen? Aber gut, dann ruf ihn mal an.«

Jesse klingt so, als ob er eigentlich lieber Fußball spielen würde, bis ihm Karim von der Wassermühle erzählt. »Du weißt schon, von der uns Herr Paul erzählt hat. Mann, die können wir uns doch selbst mal angucken!«

»Gibt es denn da noch was zu sehen, davon, wie sie da früher gekämpft haben und so was?«

»Weiß ich nicht«, antwortet Karim wahrheitsgemäß. Beim letzten Mal ist ihm nichts aufgefallen, aber er will Jesses Begeisterung nicht im Keim ersticken. An Hexen ist Jesse bestimmt nicht interessiert. »Also bis dann.«

 

Karim geht zielstrebig voraus. Seine Mutter folgt mit ein paar Metern Abstand, und ab und zu ruft sie so was wie: »Nicht so schnell, ich komme ja kaum mit!« Jesse dagegen legt den Weg mindestens dreimal zurück. Er gehört zu den Jungen, die ständig hin und her und im Kreis rennen müssen, um ihre Energie loszuwerden. Karim wird fast schwindelig davon.

Nach einiger Zeit streckt Karim die Hand aus. »Hier ist es. Ich bin mit Lenne hier gewesen, aber da haben wir noch nichts von der Geschichte von Alba … äh, wie heißt sie? Alberdine gewusst. Da, über das Holzbrückchen, da kannst du auf die andere Seite und von da durch ein kleines Fenster in die Mühle reinklettern.«

»Das ist aber nicht der Sinn der Sache«, bemerkt Karims Mutter.

»Es ist doch niemand da, der dagegen etwas sagen kann«, meint Karim. Jedenfalls hofft er das. »Seid vorsichtig«, warnt er die beiden anderen, während er über das Brückchen geht. »Das Holz ist alt.« Er geht zur Mühle. Er geht um die Mühle herum, dahin, wo früher wahrscheinlich die Vorderseite war, an die man aber nun nicht mehr so leicht herankommt, weil dort, wohl durch das Amt für Denkmalschutz, ein Zaun errichtet worden ist. »Durch das Fenster da sind Lenne und ich eingestiegen. Der Laden, der auf dem Boden liegt, war eigentlich davorgenagelt.«

»Siehst du«, sagt seine Mutter, »du darfst hier gar nicht …«

»Ach, Mann!«, unterbricht Karim sie ungeduldig. »Was macht das schon.«

»Ich klettere jedenfalls nicht durch das Fenster«, sagt seine Mutter, geht zur Tür und rüttelt, nur um es einmal zu probieren, an der Klinke. Dann lacht sie. »Und warum sollten wir das auch, wenn die Tür schon offen ist.«

»Was?«, murmelt Karim überrascht. »Ob da manchmal sonst wer …«

»Sag mal, Karim«, sagte seine Mutter, während sie munter die alte Mühle betritt, »erzähl mir doch auch mal die Geschichte, die ihr von Herrn Paul gehört habt.«

Karim erzählt ihr in Kurzfassung die Geschichte von Alberdine und wie grausam sie von ihrem Besitz vertrieben wurde.

»Was für eine scheußliche Geschichte. Ist die wirklich passiert?«

»Ja, jedenfalls nach dem, was der Paul sagt, schon.« Karim geht zur Treppe. »Hier kommt ihr nach oben.« Er geht voraus, rennt die Stufen hoch, weist noch einmal warnend auf die fehlenden Bretter hin und will ihnen, als er oben ist, gerade von den Mühlsteinen und dem Getreide erzählen, als sein Blick auf eine schlohweiße Katze fällt, die auf einer Fensterbank sitzt.

»Mensch, wie schön!«, sagt seine Mutter. »Hier wohnt eine streunende Katze.«

Jesse geht gleich auf die Katze zu. »Zu Hause haben wir auch Katzen«, sagt er. »Drei Stück.« Er streckt die Hand aus, um sie zu streicheln, doch die Katze faucht ihn giftig an und macht einen Buckel. Karim ist stocksteif bei den Mühlsteinen stehen geblieben und starrt die weiße Katze an.

»Lass das mal, Jesse«, hört Karim seine Mutter sagen, »Vielleicht hat sie hier irgendwo ihr Nest, und dann sind sie ziemlich aggressiv. Nachher kratzt sie dich noch.«

Mit langsamen, behutsamen Schritten schiebt sich Karim vorsichtig näher. Die Katze richtet ihre unergründlichen, tiefgrünen Augen auf ihn, von denen das linke von einer ausgezackten roten Linie verunstaltet ist. Karim blickt einige Sekunden an der Katze vorbei durch das staubige Fenster nach draußen. »Du musst dir vorstellen«, sagt er dann leise, »dass du hier gewohnt hast, dass dies das Haus ist, in dem du geboren worden bist und wo du mit deinem Vater gewohnt hast – und dann stirbt der Vater, und es kommt so ein reicher Scheißkerl aus dem Dorf, der dich zwingen will, ihn zu heiraten. Und wenn du das nicht willst, dann kommt er mit einer ganzen Meute von bewaffneten Schreihälsen zu dir, um dich zu verjagen. Das ist doch hundsgemein, oder?«

»Das kann man wohl sagen«, hört er die Stimme seiner Mutter hinter sich.

Bestärkt durch die zustimmenden Worte seiner Mutter, die so beruhigend dicht bei ihm ist, macht Karim weiter. »Sie ist einfach rausgeschmissen worden, die Alberdine.« Die Augen der Katze verengen sich zu schmalen Schlitzen. »Alberdine«, flüstert Karim den Namen noch mal. »So hat sie geheißen. Sie haben gesagt, sie wäre eine Hexe.«

Seine Mutter lacht. »Ja, an so einen Unfug haben die Menschen damals noch geglaubt.«

Karim sieht, wie die Katze plötzlich ärgerlich mit dem Schwanz schlägt. »Das war früher eine ganz schlimme Anschuldigung«, sagt er. »Mit Hexen durfte man alles machen: verjagen, ertränken oder auf dem Scheiterhaufen verbrennen.«

»He, bah, Karim, hör auf!«, meint seine Mutter. »Und lass die Katze jetzt in Ruhe, das Tier findet es nicht gut, dass du ihm so nahe gekommen bist.«

»Ich begreife nicht, dass Menschen so bösartig sein können«, sagt Karim. »Ich bin froh, dass wir heute nicht mehr so gemeine Sachen tun.«

»Na, sag das mal nicht so laut«, bremst ihn seine Mutter.

»Jetzt schießen wir mit ganz schweren Waffen, Mann!«, ruft Jesse. »PÄNG, und gleich ist eine ganze Stadt vom Erdboden verschwunden.«

Die Katze faucht ihn wieder an.

»Du hast sie erschreckt«, sagt Karims Mutter. »Sie ist schon eine richtig schöne Katze. Sie sieht gar nicht aus wie eine verwahrloste Streunerin. Das lange weiße Fell … das sieht mehr nach einer Rassekatze aus.«

»Vielleicht ist sie irgendwo weggelaufen«, meint Jesse. »Sollen wir sie mitnehmen?«

Karim unterdrückt ein Lächeln. »Da wirst du kein Glück mit haben.« Er streckt ganz vorsichtig den Zeigefinger aus. »Sie lässt sich nicht einmal anfassen.«

Die schlohweiße Katze hebt eine Pfote, bereit, Karim eine zu verpassen, doch dann scheint sie es sich anders zu überlegen. Karim hält seine Hand völlig bewegungslos.

Mit vibrierenden Nasenflügeln riecht die Katze an seinem Zeigefinger.

»Ich tu dir nichts«, sagt Karim mit leiser und beruhigender Stimme zu der Katze. »Wenn du mir nichts tust, tu ich dir auch nichts. Mach dir mal keine Gedanken. Wir gehen gleich wieder. Das ist deine Mühle, stimmt’s? Wir sind nur mal gucken gekommen, weil unser Lehrer uns die traurige Geschichte von Alberdine, ihrem Vater und einem ekeligen Widerling erzählt hat.« Er geht einen kleinen Schritt zurück. »Wir müssen sie in Ruhe lassen.« Er dreht sich um und geht in Richtung Treppe. »Gehen wir wieder?«, fragt er und dreht sich noch einmal um. »Richtig schade, dass die Leute vom Denkmalschutz die Mühle aufgekauft haben, um sie herzurichten. Bald läuft hier alles vor Ausflüglern über, die zum Gucken herkommen.« Sein Blick richtet sich noch einmal auf die Katze. »Aber wer weiß, vielleicht drucken sie auch eine Broschüre mit der Geschichte der Mühle, damit jeder lesen kann, was hier früher passiert ist.«

 

Jesse, der nach der kurzen Wanderung noch massenhaft Energie übrig hat, will noch ein bisschen Fußball spielen, doch Karim hat heute keine Lust mehr dazu. Als er mit seiner Mutter alleine ist, seufzt er. »Ich wünschte, Lenne wäre schon wieder zu Hause.«

»Mit Jesse war es doch auch richtig nett, oder?«

»Ja, schon, aber das ist nicht dasselbe.«

Seine Mutter lacht. »Nein, du und Lenne, das ist eine ganz eigene Geschichte. Aber sie kommt doch morgen schon zurück. Nur noch eine Nacht schlafen, Karim.«

»Ich geh noch mal kurz nach draußen«, sagt Karim plötzlich.

»Und zu Jesse hast du gesagt, dass du keine Lust mehr hättest.«

»Ich geh ja auch nur ganz kurz. Bin gleich zurück.« Er rennt in den Flur, greift sich seine Jacke von der Garderobe und geht zur Hintertür hinaus. Dann läuft er in Lennes Garten, wo er sich auf eine dicke Baumwurzel setzt. Er hat noch etwas zu erledigen, bevor Lenne wieder nach Hause kommt.