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Am Samstagmorgen wird Karim nur mit viel Mühe wach. Immer wieder reibt er sich die Augen. Er erinnert sich, dass er sehr unruhig geschlafen hat und immer wieder von seltsamen Träumen aufgewacht ist. In der Nacht wusste er noch genau, worum es bei den Träumen ging, aber nun sind sie wie ausgelöscht.

Er setzt sich auf die Bettkante und starrt ein paar Sekunden auf die gegenüberliegende Wand. Langsam steigt ein Bild in ihm hoch. Augen. Etwas mit grünen Augen. Er sieht eine Frau mit langen roten Locken und großen grünen Augen vor sich. Ihr Gesicht ist blass. Über ihre hellen Wangen kullern Tränen. Aber die Tränen sind nicht durchsichtig, sie sind grün. Als würden ihre Augen schmelzen. Wie grünes Glas, das tropfend schmilzt.

Karim schüttelt den Kopf. »Aber nein«, sagt er zu sich selbst. »Das ist ganz und gar nicht das, was ich geträumt hab, das denke ich mir gerade aus.« Oder doch nicht? Er weiß es nicht mehr. Schnell rennt er ins Badezimmer. Puh, das war nun wirklich kein schönes Bild, das ihm da in den Kopf gekommen ist. Jetzt aber schnell eine schöne warme Dusche.

Von unten zieht der Geruch von gebratenen Eiern hoch, und Karim kann gar nicht schnell genug in seine Kleider springen, um an den Frühstückstisch zu kommen. Sein Magen knurrt vor Hunger.

»Machst du heute noch was Schönes?«, fragt sein Vater.

»Ich denke, ich geh gleich mal gucken, ob Lenne zu Hause ist.«

 

Aber Lenne ist schon aus dem Haus, sagt ihre Mutter zu ihm. »Draußen spielen. Vielleicht im Park oder so.«

Karim beschließt, sie zu suchen, obwohl er lieber ganz gemütlich drinnen spielen würde, denn er findet es heute Morgen kalt, auch wenn eine bleiche Herbstsonne am Himmel steht.

Im Park liegen ganze Haufen von abgefallenen Blättern der Pappeln, die rundum stehen, und Karim sieht, dass eine fröhliche Blätterschlacht im Gang ist. Malika ist auch da, ein Mädchen aus seiner Klasse, und ein Junge, den er vom Sehen kennt. Der wohnt auch im Dorf, ist aber schon etwas älter. Karim stürzt sich mitten ins Getümmel.

»He«, ruft Lenne fragend, »machst du auch mit?«

»Das siehst du doch!« Karim wirft eine Handvoll Blätter nach ihr. »Da sind doch hoffentlich keine Hundehäufchen drin, oder?«

»Igitt, bah«, sagt Malika und hört auf der Stelle mit dem Schmeißen auf, »da sagst du was!«

Karim nickt dem Jungen zu. »Hör mal, du bist doch auch auf unsere Schule gegangen, oder?«

»Das ist schon eine Weile her. Ich hab gerade gehört, dass ihr jetzt beim Paul in der Klasse seid. Der ist zwar ein bisschen streng, aber er kennt viele schöne Geschichten. Macht er das immer noch, dass er jedes Mal kurz vor Schulschluss was erzählt?«

»Ja«, sagt Lenne. Sie sieht Karim an. »He, wahrscheinlich weiß der auch alles über die Hexenheide!«

»Die Hexenheide?«, wiederholt Malika. »Was ist das denn schon wieder?«

»Oh, wenn du was über Hexen wissen willst, dann musst du zu meiner Schwester gehen«, sagt der Junge lachend. »Die ist total wild darauf.«

Karim sieht verdutzt aus. Wer ist wild auf Hexen?

»Ach, weißt du«, sagt der Junge, als er Karims Gesichtsausdruck bemerkt, »in der letzten Zeit hat sie plötzlich einen richtigen Knall bekommen. Sie läuft in so einem langen violetten Kleid rum und hat sich die Haare pechschwarz gefärbt. Ich krieg mich bald nicht mehr ein. Also echt, wenn sie wie so eine Art Untote durchs Zimmer schleicht, da lachst du dich kaputt.«

»Aber weiß sie denn auch was über echte Hexen?«, will Karim wissen.

»Echte Hexen gibt’s nicht.« Der Junge grinst.

»Aber ja doch«, sagt Malika. »Ich hab doch grad wieder eine im Fernsehen gesehen.«

Die anderen sehen sie ungläubig an.

»In irgendeinem komischen Programm ist eine Frau aufgetreten, die gesagt hat, dass sie eine Hexe wäre.«

Der Junge macht mit dem Finger kreisende Bewegungen an seiner Schläfe. Die ist nicht ganz dicht, will er damit sagen.

»Ja … na ja … vielleicht war sie nicht ganz bei Trost«, gibt Malika grinsend zu. »Sie hat was mit Kartenlegen oder so gemacht.«

»Tarotkarten?«, fragt der Junge. »Damit kann man Prophezeiungen machen. Oder sie sagen einem, was man tun soll.«

Lenne lacht. »Hat sie auch eine Kristallkugel gehabt?«, will sie von Malika wissen.

»Nein, das nicht. Aber lauter seltsame Kreise und Sternzeichen auf dem Boden, mit denen macht sie auch was, aber was das war, weiß ich nicht mehr.«

»Das ist doch alles Blödsinn«, sagt der Junge, »Aber sag das mal lieber nicht meiner Schwester.«

»Hat deine Schwester so ganz lange Haare und lauter Ringe an den Fingern?«, fragt Lenne. Und als der Junge nickt, meint sie: »Ja, dann sehe ich sie manchmal durchs Dorf laufen.«

»Na, wer nicht? Die fällt schon auf. Ich laufe jedenfalls nicht neben ihr her, sonst muss ich mich ja in Grund und Boden schämen, Mann!« Der Junge seufzt. »Ich hoffe nur, dass das schnell wieder vorbeigeht.«

»Ich finde das eigentlich richtig schön«, sagt Lenne nachdenklich, »das Kleid und die schwarzen Haare.« Sie hebt eine ihrer dunkelblonden Strähnen von der Schulter. »Besser als das hier. Ich sehe aus wie eine Maus.«

»Bei uns in der Klasse gibt es ein Mädchen mit blauen Haaren«, erzählt Malika. »Na ja, natürlich gefärbt.«

»Oh, das ist witzig.«

»Ich finde schwarz schöner«, murmelt Lenne noch einmal. »Wer hat sich das eigentlich ausgedacht, dass Hexen schwarze Haare haben müssen?«

»Das kommt von den alten Märchen«, sagt Malika. »In denen sind die Hexen bucklig, hässlich und haben eine Hakennase. Und sie haben lange schwarze Haare.«

»Und richtig grüne Augen«, ergänzt der Junge grinsend. »Vergiss die giftgrünen Augen nicht.«

Karim verschluckt sich und bekommt prompt einen scheußlichen Hustenanfall.

 

»Gehen wir noch mal zu mir?«, fragt Lenne, als der Junge und auch Malika zum Mittagessen nach Hause gegangen sind. »Ich hab ein neues Computerspiel.«

»Was für eins?«

»Eins über Atlantis. Du musst alles tun und einsammeln, um Atlantis zu retten – völlig unbeschädigt. Das sieht echt richtig gut aus.«

»Ich hab es eher mit Schießen«, brummt Karim.

»Na, das machst du dann besser zu Hause.«

»Nein, nein, ich komm schon mit.«

Als sie bei Lennes Haus ankommen, bleibt Karim einen Augenblick stehen, um es genau zu betrachten.

»Was ist?«

»Ich musste an das Foto denken, das in der Bücherei.«

»Ich hab meinen Eltern davon erzählt, die gehen diese Woche mal gucken. Sie haben selbst nur ein Foto von kurz vor dem Umbau, aber das ist natürlich nicht so alt wie das in der Ausstellung.«

»Die Vorderseite ist gar nicht so sehr verändert.«

»Ja, das kann schon stimmen.« Lenne verzieht das Gesicht. »Aber sag das nicht meinem Vater. Der hätte am liebsten noch mehr renoviert, aber meine Mutter hält nichts davon.«

Karim lässt seinen Blick über die Fensterrahmen gleiten, die wohl wirklich einen Klecks Farbe gebrauchen könnten, auch wenn nicht alle Fenster vollständig zu sehen sind, denn ein großer Teil der Giebelwand ist unter dunkelgrünem Efeu verborgen. Im Vorgarten liegen lauter Steine, die irgendwann einmal grau waren, nun aber grün bemoost sind, und auf einem alten Holzstuhl, der neben der Haustür steht, hat Lennes Mutter eine verrückte Sammlung von orangen und grüngelben Kürbissen drapiert. »Ich finde, dass es so richtig gemütlich aussieht«, sagt er. »Ein tolles Haus, in das du Lust hast reinzugehen, wenn du es siehst.«

»Na, dann komm auch.« Lenne zieht ihn mit sich. Sie gehen hintenrum, was bei Lenne normal ist. Die Haustür vorne ist nur für den Briefträger und vornehmen Besuch.

An der Rückseite des alten ehemaligen Bauernhofs ist heute die Küche. Und dort befindet sich auch die Tür, die alle benutzen.

»Was riecht denn hier so lecker?«, fragt Karim sofort, noch bevor er einen Fuß über die Schwelle gesetzt hat.

»Maaart!«, ruft Lenne nach ihrer Mutter, die eigentlich richtig Marit heißt, aber das lässt sich nicht so gut schreien. »Wonach riecht es hier?«

Jemand kommt hastig die Treppe heruntergepoltert. »Mist! Ich hab mein Brot ganz vergessen!«

»Und guten Morgen.« Karim grinst.

»Oh, hallo, Karim«, sagte Lennes Mutter, während sie zwei Topfhandschuhe von einem Haken nimmt, die Tür eines großen schwarzen Herds aufzieht, ein Backblech herausholt und es auf die Anrichte donnern lässt. »Setzt euch hin.« Sie wedelt mit den Handschuhen. »Das muss eben noch etwas abkühlen. Ihr wollt bestimmt schon mal einen Becher Milch. Lenne, machst du das?«

Karim setzt sich an den hölzernen Küchentisch und fährt mit dem Finger das Karomuster der Tischdecke nach, während er abwartet, was auf ihn zukommt. Das ist das Schöne daran, bei Lenne zu essen: Man kann nie wissen, was es gibt und auch nicht, wann.

»Was ist das für ein Brot?«, will Lenne wissen. Sie schnuppert.

»Nussbrot.«

»Blöd«, meint Lenne, während Karim »lecker!« sagt.

Lenne bekommt immer das Körnerbrot, das ihre Mutter selbst backt, und findet das Brot bei Karim zu Hause viel besser, aber Karim, der immer abgepacktes Brot aus dem Supermarkt bekommt, geht es genau andersrum. Und so tauschen sie in der Schule regelmäßig ihre Butterbrote.

»Haben wir denn noch Erdnussbutter?«, fragt Lenne mit gerümpfter Nase. »Kann ich die dann ganz dick draufschmieren?«

Lennes Mutter wirft einen Blick auf den Parkettboden und runzelt die Stirn. »Wo seid ihr gewesen?«

»Im Park«, antwortet Lenne und hebt einen Fuß, um unter die Sohlen zu blicken. Dann sieht sie sich um und sieht die Spur von braunen Dreckklumpen. »Ich fege das gleich weg.«

Karim zieht seine Schuhe aus und wirft sie gezielt auf die Küchenfußmatte. Und dabei fällt ihm plötzlich ein tolles Bild auf, das neben der Küchentür hängt und das er früher nicht beachtet hat. Er steht auf und schlurft auf seinen Socken zu dem Bild.

»Schön, was?«, sagt Lennes Mutter. »Hab ich selbst gemalt.«

»Was ist das?«

»Die Wassermühle.«

»Welche Mühle?«

»Die Wassermühle. Karim, du willst mir doch nicht erzählen, dass du noch nie an der Wassermühle warst!«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Na hör mal, die ist hier ganz in der Nähe.« Lennes Mutter sieht ihn mit offenem Mund an. »Oh, aber dann weiß ich, was wir heute Nachmittag machen! Wir machen einen kleinen Spaziergang!«

»Oh nein!«, stöhnt Lenne.

»Aber sicher. Wir gehen zur Wassermühle. Also das geht doch nicht, dass Karim da noch nie gewesen ist.«

Lenne deutet Karim an, dass sie ihn am liebsten erwürgen würde.

Karim zuckt entschuldigend mit den Schultern.

»Aber wir wollten an den Computer!«, ruft Lenne kläglich.

»Dann macht ihr das erst mal für eine Stunde. Karim, hast du heute noch was anderes vor? Schön, dann ruf deine Eltern an und sag ihnen, dass du mit uns spazieren gehst. Wir sind ungefähr um sechs Uhr wieder zurück.«