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Mit zitternden Fingern zieht er das Medaillon unter seiner Kleidung hervor. Er nimmt es fest in die rechte Hand und flüstert: »Erin.« Nichts passiert. Etwas lauter jetzt sagt er wieder: »Erin!« Er wartet. Schaut sich um. Wie schnell kann sie wohl hier sein? Konzentriert starrt Karim auf das Schmuckstück in seiner Hand.

»Warum hast du mich gerufen?«, ertönt eine Stimme ganz in der Nähe.

Karim sieht auf.

Erin sitzt ihm direkt gegenüber an einen Baumstamm gelehnt, die Arme locker um die angezogenen Knie gelegt, und guckt ihn fragend an.

»Es funktioniert!«, ruft Karim froh.

»Natürlich funktioniert es.« Erin lacht. »Heißt das, du wolltest es nur mal ausprobieren?«

Karim schüttelt den Kopf. »Ich hab Lenne versprochen, dich um Rat zu fragen. Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Wir haben Rinnie … Rune gesehen, das weißt du ja, du warst ja selbst dabei. Du wolltest doch, dass wir sie sehen, oder? Du hast uns selbst zu ihr geführt. Aber warum? Was willst du, dass wir tun?«

»Das war, um Lenne zu warnen. Hat es geklappt?«

»Sie zu warnen wovor? Rinnie hat eigentlich ganz gesund gewirkt.« Karim denkt kurz nach. »Es hat ausgesehen, als ob sie gleich … zu kämpfen anfangen würden. Lenne mit dem komischen grünen Ding und Rinnie … Wenn wir nicht schnell genug weggegangen wären, dann hätte sie … also ich weiß nicht, was Rinnie getan hätte, aber es schien, als ob sie kurz davor war, eine Verwünschung über uns auszusprechen.«

»Oh nein, bitte nicht, ein Kampf zwischen den beiden lag überhaupt nicht in meiner Absicht! Also hat es die verkehrte Wirkung gehabt?«

»Nein«, sagt Karim schließlich, »das glaub ich nicht. Lenne meint, dass wir Rinnie befreien müssen.«

»Das dürfte euch schwerfallen«, bemerkt Erin bitter.

»Wir haben überlegt, mit ihren Eltern zu reden, aber wir hatten Angst, dass die dann mit Polizeiwagen in den Wald rasen und …«

»Und habt ihr gedacht, dass Vita dann einfach so dastehen und warten würde?« Erin blickt Karim mit großen Augen bezwingend an.

»Nein«, sagt Karim sofort. »Wir hatten Angst, dass sie dann was machen würde.« Er nimmt ein welkes Blatt vom Boden auf und fängt an, es mit nervösen Fingern zu zerkrümeln. »Ist Rinnie denn außer Gefahr?«

Erin seufzt. »Lass mir noch etwas Zeit, um darüber nachzudenken. Ich verstehe, dass ihr etwas tun wollt. Natürlich muss Rune wieder zurück zu ihren Eltern, nur weiß ich noch nicht wie. Vita ist so mächtig …«

»Rinnie ist von Vita gerufen worden, sagt sie. Rinnie zufolge ist Vita die Mächtigste von euch dreien. Stimmt das?«

»Ich fürchte, ja. Sie ist in dem Sinne die Mächtigste, dass sie keine Skrupel hat.«

»Was bedeutet das?«

»Dass sie sich von nichts und niemandem zurückhalten lässt und vollkommen unempfänglich ist für Gefühle, wie normale Sterbliche sie haben, also Kummer, Schmerz, Traurigkeit. Nichts berührt sie. Und obendrein ist sie noch diejenige, die Alba damals vor langer Zeit gerufen hat.«

»Was?«, Karim reagiert überrascht. »Ich weiß nicht warum, aber ich hab aus irgendeinem Grund gedacht, dass Alba älter sei und diejenige war, die euch beide gerufen hat. Vielleicht wegen der langen weißen Haare.«

»Sie ist auch älter«, sagt Erin. »Nicht viel, sie sind nur ein paar Jahre auseinander, Vita und Alba.« Sie verzieht das Gesicht. »Und was sind schon ein paar Jahre bei rund vierhundert? Vita war noch eine ganz junge Hexe, als sie Alba über die Heide irren sah, sehr jung, aber doch schon Respekt einflößend. Wahrscheinlich hat sie Alba vor einem sicheren Tod gerettet. Und genau darum ist es so schwierig für Alba, gegen Vita anzugehen. Sie ist ihre Schwester, sie ist von ihr gerufen worden. Vita hat sie gerettet.«

Eine verrückte Frage kommt Karim in den Sinn. »Warum habt ihr eigentlich nicht alle nach vierhundert Jahren schlohweiße Haare?« Er schaut auf die feuerroten Locken, die Erin bis auf die Schultern hängen.

»Warum sollten wir? Wir haben doch auch keine Runzeln oder einen krummen Rücken oder Löcher in den Zähnen.«

»Und warum hat Alba dann weiße Haare?«

»Weil sie es schön findet.«

Karim nickt. »Das ist auch sehr schön«, sagt er. »Es steht ihr gut.« Er hebt wieder ein vertrocknetes Blatt auf. »Auch als Katze ist sie sehr schön«, sagt er vorsichtig und guckt unter seinen Augenbrauen hervor. Er traut sich nicht, Erin richtig anzusehen.

»Ja, sie hat mir erzählt, dass du heute Morgen in der Mühle warst. Ist das denn schlau, uns immer wieder aufzusuchen?«

»Ich war mit meiner Mutter da«, sagt Karim, »und mit einem Freund.« Er beißt sich auf die Lippe. »Weißt du, dass ich sie … beinahe gestreichelt hätte? Sie war auf einmal gar nicht mehr unheimlich. Sie hat an meinem Finger gerochen.«

»Alba ist auch nicht unheimlich.« Erin lacht. »Sie ist diejenige, vor der du keine Angst zu haben brauchst.«

»Nein, das ist die andere«, bestätigt Karim. »Aber Alba ist die, die Lenne entführen will, oder wie, äh … nennt ihr das?«

»Ja, und damit bin ich nicht einverstanden. Aber was Alba will, hat nichts mit dem zu tun, was Vita will.«

»Und was will …« Karims Hals fühlt sich an wie zugeschnürt. Er kann nur mit Mühe die Worte rauspressen. Möchte er das wirklich wissen? »Was will Vita denn?«

Erin sieht ihn lange und nachdenklich an. Dann sagt sie: »Alba und Vita haben Angst vor dem Aussterben. Aber beide verstehen darunter jeweils etwas ganz anderes.«

»Das verstehe ich nicht.« Karim runzelt die Stirn.

»Du kannst als Art nicht aussterben wollen, oder du kannst als Person nicht sterben wollen. Das sind zwei ganz verschiedene Sachen.«

»Sterben Hexen denn?«

»Irgendwann schon. Niemand lebt ewig. Wir Hexen leben alle sehr lang – mithilfe unserer Tränke, Salben und magischen Rituale. Aber jetzt erzähle ich dir mal was Verrücktes: Auf Dauer schlägt die Langeweile zu. Kannst du dir das vorstellen, dass man nach Hunderten von Jahren eines Hexenlebens die alltäglichen Dinge letztendlich einfach satt hat? Meistens entscheiden sich die Hexen zum Austreten, wenn eine gewisse Zeit verstrichen ist, eine sehr lange Zeit allerdings.«

»Was bedeutet Austreten?«

»Keine Hexe mehr zu sein. Du kannst als Hexe sehr viele Dinge nicht, die Sterbliche sehr wohl können.«

Karim sieht erstaunt aus. Hexen können doch bestimmt alles, was Menschen können, und noch viel mehr. »Was denn zum Beispiel?«

»Sich verlieben, Kinder kriegen, unter Menschen wohnen, ein normales Leben führen, in der Sonne sitzen und den Tag mit herrlichem Nichtstun verbummeln.« Erin lächelt.

»Warum könnt ihr nicht rumbummeln und nicht nichts tun?«

»Wir müssen jeden Tag unsere Rituale durchführen. Manche brauchen sehr viel Zeit. Wir brauchen bestimmte Kräuter und Früchte. Die müssen wir sammeln oder selbst anbauen, denn wir können ja keinen Einkaufskorb nehmen und in den nächsten Laden gehen, um sie dort zu kaufen. Hast du schon mal Siebenblatt im Supermarkt liegen sehen oder Vogelwicke oder Birkenrinde? Kennst du einen Gemüsehändler, der giftige Pilze verkauft? Wir müssen Tränke und Salben zubereiten – und das immer zur richtigen Stunde am Tag oder beim richtigen Stand des Mondes.« Erin beugt sich vor und sieht Karim mit einem Lächeln in den Mundwinkeln an. »Eine Hexe zu sein ist schwere Arbeit, mein Junge!«

»Oh«, sagt Karim schüchtern, »darüber hab ich nie nachgedacht.«

»Aber auszutreten, damit aufzuhören, eine Hexe zu sein, bedeutet, wieder eine normale Sterbliche zu werden, und das ist auch nicht so leicht.«

»Und keine von euch will das?«

»Ach doch, ich denke, dass ich sie auf Dauer wohl auch aufgeben werde, die Existenz als Hexe. Und Alba hat eigentlich auch schon lange genug davon. Darum will sie eine Nachfolgerin. Sie will all ihr Wissen weitergeben. Hexen sind wirklich kein Haufen ekeliger Zauberinnen, Hexen sind vor allem weise alte Frauen. Hast du das gewusst? Sie wissen alles über die Natur. Sie leben schon so lange, dass sie den Menschen mit all seinen Gebrechen haben studieren können. Wir streifen viel in der Menschenwelt umher, sehen hin, hören zu und versuchen zu verstehen.«

»Ich hab euch sonst noch nie herumstreifen sehen«, sagt Karim. »Na ja, seit Kurzem habe ich dich und Alba ab und zu gesehen, aber vorher noch nie.«

»Nicht in Menschengestalt.«

Karim schlägt sich an die Stirn. »Ach, natürlich.«

Erin lacht. »Katzen fallen nicht so auf.«

»Also will Alba Lenne als Nachfolgerin?«

Erin nickt. »So jemand muss sehr sorgfältig ausgewählt werden. Lenne ist mutig, eigenwillig und stark.«

»Und Vita will Rinnie als Nachfolgerin?«

»Absolut nicht! Vita hat nicht vor, ihr Hexenleben jemals aufzugeben. Vita will Anhänger, keine Nachfolger! Vita will ihr Hexenreich ausbreiten, sie will Macht, sie will Sklaven, die sie verehren, junge Hexen, die alles tun, was sie ihnen aufträgt. Sie hat auch keine große Lust mehr, ihre täglichen Rituale durchzuführen, aber anstatt das Hexenleben aufzugeben, will sie lieber, dass andere ihre Rituale für sie durchführen, ihre Tränke zubereiten und sie versorgen. Am liebsten würde sie als Königin auf einem Thron sitzen und Befehle erteilen. Sie hat das schon häufiger versucht …« Erin verfällt in Schweigen.

»Mit dir?«

»Unter anderem. Aber ich gehöre zu sehr zu Alba. Vita hat ziemlich schnell mitbekommen, dass sie bei mir nichts zu melden hat. Daher hat sie es dann auf ziemlich junge Mädchen abgesehen, die sind leichter zu beeinflussen.«

»Was meinst du mit unter anderem? Hat es noch mehr gegeben?«

Erin schlägt die Augen nieder.

»Was ist mit ihnen passiert?«

»Vitas Versuch ist misslungen, weil Alba und ich uns eingemischt haben. Das hätten wir besser nicht getan.«

Karim traut sich nicht zu fragen. Er schaut Erin nur abwartend an.

»Das ist schon mehr als hundert Jahre her, aber ich trage die Schuld immer noch als eine schwere Last mit mir herum, eine ewige Schuld, die nicht vergeben werden kann.«

»Meinst du damit, dass sie nicht überlebt haben?«, fragt Karim leise.

Erin steht auf. Mit heftigen Bewegungen wischt sie die welken Blätter von ihrem Rock. Sie fängt an, hin und her zu tigern, mit großen Schritten von links nach rechts und wieder zurück. »Ich hab dir ja schon mal erzählt, dass es schwarze und weiße Magie gibt. Schwarze Magie ist etwas Abscheuliches. Sie ist rücksichtslos, ohne jedes Mitleid, und sie soll dem, der die Rituale ausführt, einfach nur mehr Macht bringen und sonst gar nichts. Darüber hinaus ist sie für nichts gut. Und die Rituale …« Händeringend bleibt Erin stehen und schaut Karim gequält an. »Das sind Rituale, die grauenhafte Zutaten verlangen. Blut und Tränen. Das Leben von Menschen und Tieren. Ich werde es dir nicht erzählen, Karim, du würdest nicht mehr schlafen können.«

»Und das ist es, womit Vita sich beschäftigt, mit schwarzer Magie.« Karim nickt.

»Falls nötig. Vita macht einfach alles, um ihr Ziel zu erreichen.« Erin schlägt die Hände vor die Augen. »Als dann Alba und ich die Mädchen so weit beeinflusst hatten, dass sie für Vita als Sklaven völlig unbrauchbar geworden waren, hat sie sie für andere Zwecke benutzt. Verlang nicht von mir, noch länger davon zu erzählen, Karim, bitte.« Plötzlich geht sie auf Karim zu, hockt sich vor ihn hin und legt ihm die Hände auf die Knie. »Weißt du, was es bedeutet, wenn du dich mit weißer Magie beschäftigst? Es bedeutet, dass du das Gute willst – für Mensch und Tier, für die Natur, für die Erde. Es hat immer alte weise Frauen gegeben, die ein bestimmtes Wissen hatten. Sie kannten Kräuter, Gifte und Früchte. Sie kannten den menschlichen Körper. Sie haben ihre Kenntnisse angewandt, um Menschen von ihren Krankheiten genesen zu lassen, damit Kinder gesund zur Welt kommen konnten, um Kummer zu beheben. Und sie dankten Mutter Natur für ihre Gaben. Bis dann die Zeit anbrach, in der ihre Kenntnisse nicht länger geschätzt wurden. Die Leute haben angefangen, sie Giftmischerinnen, Ketzerinnen und Zauberinnen zu nennen. Ihre Kraft und ihr Wissen wurden ihnen zum Verhängnis. Sie wurden auf den Scheiterhaufen geschleppt, ertränkt oder verjagt.« Ihre Hände greifen Karims Beine noch fester. Eindringlich blickt sie ihm eine Zeit lang ins Gesicht. Dann lockert sich ihr Griff wieder, und ihre Augen beginnen zu funkeln. »Weißt du, wo ich in der letzten Nacht war?« Sie lächelt und zeigt in die Ferne. »Bei einem sehr alten Mann. Oder eigentlich bei seinem Hund. Das Tier lag in seinem Korb und war dabei, seinen letzten Atemzug zu tun. Aber ich wusste, dass sein altes Herrchen sonst nichts mehr hatte. Keine Brüder oder Schwestern, keine Frau. Die Kinder weit weg im Ausland. Und weißt du, was ich getan habe? Ich habe dem Hund etwas gegeben. Um genau zu sein, ich habe ihm dreiundachtzig Tage gegeben. Zusätzlich. Mithilfe eines Tranks.«

»Warum dreiundachtzig Tage?«, will Karim wissen.

»Weil sein Herrchen noch genauso viele zu leben hat. Nenn es Zauberkunst, nenn mich eine Giftmischerin, wenn du das willst, aber der kleine Hund sitzt im Moment bei seinem Herrchen auf dem Schoß, und zusammen essen sie ein Käsebrot. Und so sollen sie es noch gemeinsam dreiundachtzig Tage machen, bis sie zusammen den Geist aufgeben.« Erin grinst breit. »Bei solchen Gelegenheiten habe ich die größte Freude an meiner Arbeit. Ich kann dir noch mehr Beispiele nennen.« Sie steht auf. »Im letzten Sommer war es warm und trocken. Da waren Jungen im Birkenwald, kräftige Kerle und übermütig. Sie hatten ein Feuer gemacht. Als sie dann merkten, dass sie es nicht mehr kontrollieren konnten, sind sie schnell auf ihren Mopeds weggefahren und haben das um sich greifende Feuer zurückgelassen. Ich habe das Feuer gebannt, indem ich einen Hexenring darum gelegt habe, einen feuchten Ring aus Schwämmen und Pilzen, die dort aus dem Boden geschossen sind, wo ich mein Elixier hingetröpfelt hatte.« Erin legt ihre linke Hand an den Baumstamm, an den Karim sich gelehnt hat. Dann blickt sie nach oben, hebt ihre rechte Hand und eine Kastanie fällt hinein. Erin neigt ihren Kopf.

Verwundert schaut Karim hoch. Es war so, als hätte der Baum ihr die Kastanie geschenkt, und Erin hätte sich dafür mit einem Kopfnicken bedankt. Erin gibt Karim die Kastanie. »Das ist eine Marone«, sagt sie, »die kannst du essen. Willst du noch eine?« Das Ritual wiederholt sich. »Ist das schlecht, was ich mache? Ist das unheimlich? Du kannst das Wort Hexerei gebrauchen und damit böse Taten meinen. Aber was ist falsch an dem, was ich mache? Ich lösche das zerstörerische Feuer, ich banne das Fieber, ich lindere Kummer mit süßen Tränken, ich stille Schmerz mit Salben und Ölen, und das alles kann ich schnell machen, sehr schnell, wenn es nötig ist.«

Karim spürt wieder einen leichten Lufthauch, den er schon einmal gespürt hat, einen Lufthauch, der nicht mehr ist als eine kleine Luftbewegung. Erin stellt einen silbernen Kerzenleuchter vor seine Füße. Darin brennt eine kleine Kerze.

»Wo hast du denn den so schnell hergeholt?« Karim lacht nervös.

Erin hält die zweite Kastanie in die Flamme. Sie scheint das Feuer an ihrer Hand nicht zu spüren und sich auch nicht zu verbrennen. Dann holt sie ein Messer unter ihrem Umhang hervor. Das Messer hängt an einer Kordel um ihre Hüfte.

Karim starrt auf das Messer. Der Griff ist mit feuerroten Steinen besetzt und zierlich gearbeitet. Er denkt an die Worte, mit denen Lenne vor einiger Zeit ein ähnliches Messer beschrieben hat. Es ist genau so, wie sie es beschrieben hat. Sollte sie das Messer schon vorher einmal gesehen haben? Vielleicht in einem Traum …

Erin macht ein paar schnelle Bewegungen und ein paar zielsichere Schnitte in die Kastanie. Dann pellt sie die Schale ab und hält die Kastanie Karim hin. »Iss«, sagt sie nur.

Zögernd nimmt Karim die Kastanie.

»Oder magst du keine gerösteten Kastanien?«

»Ich hab sie noch nie vorher probiert.« Karim beißt ein kleines Stückchen ab. »Doch, gut. Schmeckt ein bisschen wie Bucheckern. Die sammele ich manchmal im Wald.« Mit einem Bissen isst er den Rest der Kastanie auf. Ein seltsames Gefühl breitet sich von seinem Magen im ganzen Körper aus. Erschrocken starrt Karim Erin an. »Was … was hast du mit dem Ding gemacht?« Er legt die Hand auf seinen Bauch. »War da was drin?«

Erin lächelt geheimnisvoll. »Ein kleines bisschen Zauberkraft vielleicht?«, sagt sie mit einem Zwinkern.

Karim steht auf. Er fühlt sich, als würde ein Feuer in seinem Inneren brennen. Es ist nicht unangenehm, es ist warm und unbändig. Er schaut Erin tief in die grünen Augen. »Ich werde dafür sorgen, dass alles gut wird«, sagt er entschieden. »Mit Rinnie und mit dir und mit … mit … allen und jedem!« Er breitet die Arme weit aus. »Ich werde Lenne gegen Vita beschützen, ich werde dir helfen, Erin!«

»Sieh mal an«, sagt Erin, den Kopf ein bisschen schräg gelegt, und ein Lächeln spielt um ihren Mund. Sie legt eine Hand auf Karims Kopf. »Und jetzt geh du mal nach Hause. Genug geredet. Deine Mutter fragt sich sicher schon, wo du bleibst.«

Karim dreht sich um.

»Willst du dich nicht kurz bedanken?«, fragt Erin.

»Oh, äh … danke schön«, sagt Karim.

»Nicht bei mir.« Erin klopft leicht gegen den Stamm der Kastanie. Ein bisschen beschämt wendet sich Karim an den Baum. »Danke schön«, murmelt er. So etwas Idiotisches hat er noch nie gemacht. Da rede ich einfach mit dem Baumstamm, denkt er unbehaglich. Dann kichert er.

Aber Erin nickt ihm zufrieden zu. »Geh«, sagt sie weich und gibt ihm einen leichten Schubs in den Rücken.

Karim will sich in Bewegung setzen, um wieder durch die Gärten zu seinem Haus zu gehen, doch im nächsten Augenblick steht er vor seiner eigenen Hintertür. Das hat kaum eine Sekunde gedauert. Karim bleibt der Mund offen stehen. »Oh, also so fühlt sich das an, wenn man etwas rasend schnell tun kann«, stammelt er. Ob er das noch einmal schafft? Er konzentriert sich auf sein Zimmer, kneift die Augen fest zu und versucht, es vor sich zu sehen. Funktioniert das auf diese Art? Als er die Augen wieder aufmacht, steht er jedoch noch immer vor der Hintertür. Nein, so funktioniert der Trick nicht. Es war sicher der kleine Schubs in den Rücken, den Erin ihm gegeben hat. Schade.