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Alba steht mitten im Garten und zieht fröstelnd einen schweren Umhang enger um sich. Ihre Haare schimmern weiß im Licht des vollen Mondes.

»Du wartest auf uns«, sagt Lenne. Das klingt nicht wie eine Frage.

Alba nickt. »Ich will, dass du mit mir kommst.«

»Ja«, sagt Lenne, als käme das für sie überhaupt nicht überraschend.

»Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«, zischt Karim Lenne ins Ohr.

Alba sieht ihn mit einem Gesicht an, das eher ausdrückt, dass sie selbst nicht glauben kann, was sie nun sagt: »Und du auch.«

»Ich?«, erschrickt Karim, und seine Augenbrauen schnellen hoch.

»Jetzt?«, fragt Lenne. »Jetzt gleich?«

»Das geht doch nicht so ohne Weiteres!«, wendet Karim zitternd ein.

»Es ist doch nur für ein paar Stunden«, sagt Alba ruhig. »Gegen Morgen seid ihr wieder zu Hause.«

»Ich schreibe besser eine Nachricht«, überlegt Lenne. »Stell dir vor, wenn meine Eltern zufällig ein bisschen früher wach werden.« Sie stößt Karim an. »Ich schreibe, dass wir kurz zu dir nach Hause gegangen sind. Das werden sie glauben und bestimmt nicht kontrollieren.«

»Aber Lenne …«, Karim versucht, etwas dagegen vorzubringen, doch ihm fällt nichts ein. Wenn es nur für ein paar Stunden ist, was ist dann dagegen einzuwenden? »Ist es nicht gefährlich?«, fragt er Alba beklommen.

»Vita ist nicht da«, antwortet Alba, »wenn es das ist, worüber du dir Sorgen machst.«

»In Ordnung«, sagt Lenne und schaut auf Karims Schlafanzughose. »Du musst dir noch was anderes anziehen.«

 

Es kommt zu keiner Nachtwanderung über die kalte und finstere Heide. Alba schlägt ihren dunklen Umhang um die beiden, worüber Karim erschrickt. Er ruft: »He!«, um im allernächsten Moment, ganz aus der Fassung gebracht, ein »Boah!« zu murmeln, als er sieht, dass sie Knall auf Fall in einer kleinen dunklen Eingangshalle stehen, die nur schwach von einer Kerze an der Wand erleuchtet wird.

»Wir sind da.« Lenne kichert.

Karim hört Schritte und schaut hoch.

Es ist Erin, die eine knarrende Holztreppe herunterkommt.

»Erin!«, ruft Karim froh. »Du bist noch … äh … ganz unverletzt.« Er wird rot.

»Natürlich. Hast du etwas anderes erwartet?«

»Ja«, sagt Karim ehrlich. »Ich hab gedacht, dass Vita dich … dir was antun würde.«

Alba räuspert sich. »Hexen tun sich gegenseitig nichts, das ist gegen die Gesetze.« Sie starrt vor sich hin. »Was nicht heißen soll, dass es nie jemand gegeben hätte, der gegen die Gesetze verstoßen hat. Aber ein derartiges Vergehen würde bedeuten, dass so jemand von allen Hexenkreisen ausgeschlossen würde. Es sind Regeln, die nicht von ungefähr bestehen. Hexen sind nun mal imstande, allerlei Kräfte zu entfesseln, und die Gesetze sind geschrieben worden, um von vornherein zu verhindern, dass blutige Fehden entstehen, bei denen sich Hexen gegenseitig ernsthaften Schaden zufügen können.«

»Gelten die Gesetze auch für Menschen?«, fragt Karim mit kleiner Stimme. »Oder dürft ihr euch nur gegenseitig nichts tun?«

»Im Prinzip gelten die Gesetze für alle und jeden«, antwortet Erin. »Menschen, Tiere, die Natur, alles. »Ich habe dir schon früher mal erzählt, dass die alten Geschichten über Zauberfrauen, die die schrecklichsten Dinge angerichtet haben, größtenteils auf Lügen beruhen. Auf Lügen, Geschwätz und Hirngespinsten, die Angst, Hass und Neid entsprungen sind. Ursprünglich sind Hexen nicht mehr als weise Frauen, die nichts anderes wollen, als gesund zu machen, was krank ist, zu heilen, was Schmerzen verursacht, zu trösten, wo Kummer herrscht.«

»Und was ist mit Vita?«, fragt Lenne geradeheraus. »Sie kommt mir überhaupt nicht so vor, als würde sie zu dieser Art Hexen gehören!«

»Lasst uns jetzt nicht über Vita reden«, sagt Alba zurückhaltend. »Zu diesem Zweck habe ich euch nicht eingeladen.«

»Wo ist sie eigentlich?«, will Lenne trotzdem wissen und schaut sich ein bisschen nervös um.

Alba und Erin wechseln einen schnellen Blick. »Vita ist auf einem … einer Art Fest«, murmelt Alba. Mit raschen Schritten geht sie durch die Halle auf eine Tür zu. »Kommt, wir gehen hier rein.«

Doch Lenne lässt sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen. »Bei einem Hexensabbat?«

Mit raschelnden Röcken dreht sich Alba ruckartig zu ihr um. Ihre Augen sind dunkel.

Lenne blickt jedoch unbeirrt zu ihr auf. »Es ist der 31. Oktober. Oder eigentlich nicht mehr, es ist schon der 1. November. Und an diesem Tag war irgendwas. Meine Mutter hat neulich darüber gesprochen. Allerseelen oder Allerheiligen. Ist das eine besondere Nacht für Hexen? Die Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November? Halloween und so?«

Unerwartet breitet sich ein kleines Lächeln über Albas Gesicht. »Naseweis.« Sie nickt Erin zu. »Habe ich eine vielversprechende junge Dame ausgewählt oder nicht?«

Erin lacht. »Ja, das ist ganz eindeutig Hexenmaterial.«

Lenne kann es nicht sein lassen, die Nase stolz in die Luft zu strecken. In ihren Ohren klingt das nach einem echten Kompliment.

Karim räuspert sich. »Und Rinnie?«, fragt er leise. »Rune, ist die bei ihr?«

»Ja«, sagt Alba knapp.

»Wird sie es überleben?«

Alba macht sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten, sie blickt Karim nur mit einer hochgezogenen Augenbraue überheblich an.

»Na ja, jetzt weiß ich auch nicht mehr«, grummelt Karim und schlurft mit gesenktem Kopf durch die Tür, die Alba für ihn aufhält.

Mit schnellen Schritten kommt Lenne vergnügt hinterher. Sie ist wahnsinnig neugierig, am liebsten würde sie das ganze Haus besichtigen, ein Zimmer nach dem anderen. Leicht enttäuscht bleibt sie stehen. »Oh, ist das eure Küche?« Sie hatte etwas anderes erwartet. Beim Besuch eines Hexenhauses hatte sie sich vorgestellt, nur Zimmer vorzufinden, die voller schwarzer Kessel und Tischen mit vielen Glasflaschen wären, in denen Flüssigkeiten brodelten – eine Art Hexenlabor. Sie hatte nicht daran gedacht, dass Hexen in ihrem eigenen Haus in erster Linie ganz normal wohnen.

Alba zeigt auf einen Tisch, um den sechs Stühle stehen. »Setzt euch.«

Vorsichtig betastet Karim die Schnitzereien, mit denen die Rücklehnen der Stühle verziert sind. Sie wirken sehr alt. Voller Interesse schaut er sich um. Der Raum, in dem sie sich befinden, sieht mehr wie eine altmodische Bauernküche aus. Der Holzboden ist vom Alter schon beinahe grau, und die Dielen knarren bei jedem Schritt. Und auch die Wände sehen sehr alt aus, aus grob gehauenen Steinen gemauert. Der früher einmal möglicherweise weiße Putz bröckelt an einigen Stellen ab. Über sich sieht er eine dunkelbraune Balkendecke, von der Kräuterbüschel zum Trocknen hängen. Seltsamerweise erinnert Karim all das an ein Ferienhaus, und er findet, dass es eigentlich einen ziemlich gemütlichen Eindruck macht. An den Wänden hängen Töpfe und Pfannen aus glänzendem Kupfer und schwarzem Gusseisen. Ob sie darin auch nur eine ganz schlichte Erbensuppe kochen?

Das Einzige, was nicht zu einer normalen Bauernküche passt, ist die schwarze Krähe, die oben auf einem Schrank sitzt und sie mit lautem Krächzen begrüßt.

»Ihr habt hier doch sicher keinen elektrischen Strom, oder?«, fragt Karim und blickt auf die zierliche Lampe, die mitten auf dem Tisch steht.

»Hexen brauchen keine Elektrizität«, antwortet Alba scharf.

»Wenn es nötig ist, lassen wir es ein bisschen blitzen.« Mit diesem Scherz versucht Erin, die Atmosphäre etwas aufzulockern. »Wollt ihr was trinken?«

»Was gibt es denn?«, will Karim wissen.

»Was Warmes«, schlägt Erin vor.

Kurz darauf stehen vier dampfende Tonbecher auf dem Tisch. Karim weiß zwar nicht, was ihnen da vorgesetzt wird, aber es riecht wunderbar nach Zimt und Nelken. Vorsichtig trinkt er einen kleinen Schluck und spürt, wie die Flüssigkeit warm und wohlig durch seine Kehle in den Magen rinnt und sich von dort wie ein kleines Feuer ausbreitet. »Puh!«, schnauft er. »Werde ich davon betrunken?«

»Aber nein«, beruhigt ihn Erin, »nur schön warm.«

Karim rutscht auf seinem Stuhl etwas herum und streckt seine Füße behaglich zum flackernden Herdfeuer hin. »Ihr wohnt hier richtig schön.«

»Das hast du wohl nicht erwartet?«, fragt Erin.

»Nein.« Karim schüttelt den Kopf. »Wir sind hier schon einmal gewesen, aber da haben wir euer Haus natürlich nicht von innen gesehen. Von außen wirkt es wie eine Ruine.« Er erschrickt über das, was er gesagt hat. »Oh, Entschuldigung«, murmelt er schnell.

Alba seufzt. »Ein Grund mehr, eine neue Hexengeneration heranzubilden. Junge Frauen mit Schwung und neuer Energie, das ist es, was dieses Haus braucht. Und nicht nur wegen der Holzkonstruktion.«

Lenne sitzt auf der Stuhlkante. Ihre Augen funkeln. »Und dafür habt ihr mich ausgewählt?«

Alba nickt.

Karim guckt beunruhigt von Alba zu Erin. Versuchen sie jetzt doch, Lenne zu überreden, hierzubleiben?

Erin fängt seinen Blick auf und legt beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. »Wir haben allerdings gleichzeitig darüber nachgedacht, dass es möglicherweise auch an der Zeit für neue Vorgehensweisen ist.« Einen Augenblick schaut sie Alba etwas zaghaft an. »Nicht allein neue, sondern vor allem gesittetere Vorgehensweisen.«

Albas Rücken versteift sich, und in ihre Augen tritt etwas Abweisendes.

Erin spricht schnell weiter. »Die alten Vorgehensweisen verursachen so viel Leid bei Familie und Freunden, wenn eine junge Frau, ein Mädchen, plötzlich verschwindet und niemand weiß, was mit ihr passiert ist …«

»So wie jetzt bei Rinnie«, unterbricht Lenne sie bissig. »Ihre Eltern sind halb wahnsinnig vor Kummer!« Sie nimmt schnell einen Schluck von ihrem Getränk, um zu verdecken, dass sie selbst etwas erschrocken über ihr Verhalten ist. Sie hofft, dass Alba ihr das nicht allzu sehr verübelt, denn die scheint noch so ihre Zweifel an den neuen Vorgehensweisen zu haben, von denen Erin spricht.

Doch Erin nickt und geht sofort darauf ein. »Genau! Und so braucht es überhaupt nicht abzulaufen.« Sie schüttelt den Kopf so heftig, dass die roten Locken hin und her tanzen. »Was ist denn falsch an einem freiwilligen Entschluss? Wenn wir dich fragen würden, Lenne, ob du eine Hexe werden willst, was würdest du dann antworten?«

»Ja!«, sagt Lenne ohne jedes Zögern.

Karim sieht sie besorgt von der Seite an.

»Auch wenn das bedeuten würde, dass du dann auf einmal deiner Familie und deinen Freunden Lebewohl sagen müsstest, ohne eine Nachricht zu hinterlassen?«

Lenne zögert und runzelt die Stirn. Sich von ihren Eltern verabschieden? Gar nicht daran zu denken. Schon allein die Vorstellung daran! Und Karim und Malika und all die anderen Freunde …

»Warum macht ihr das immer auf diese Art?«, will Karim wissen. »Warum dürfen die, hm … neuen Hexen, oder wie ihr das nennt …, warum dürfen die niemanden darüber informieren, wohin sie gegangen sind und warum?«

»Von alters her war das schon so«, antwortet Alba. »Es war früher ziemlich selbstverständlich, dass man so etwas nicht an die große Glocke hängte. Hexen waren wirklich nicht beliebt. Die Leute hätten innerhalb kürzester Zeit alles niedergebrannt, und den Hexen wäre nichts erspart geblieben.«

»Aber die Zeiten haben sich doch sicher geändert, oder?« Karim zuckt mit den Schultern. »Heute kommen Hexen doch nicht mehr auf den Scheiterhaufen. Das war früher.«

»Dann erzähl mir doch mal, Karim«, sagt Alba mit einem säuerlichen Lächeln, »was die Menschen denn heute mit einer Hexe machen würden?«

Karim öffnet den Mund und macht ihn dann wieder zu. Er hat keine Ahnung.

»In eine Irrenanstalt sperren.« Lenne lacht mitfühlend.

»So ist es«, bestätigt Alba. »Bevor du dich versiehst, steckst du in der Psychiatrie. Es ist ein anderes Problem entstanden. Die Menschen glauben nicht mehr an Hexen.«

»Aber ihr könnt doch zeigen, dass ihr Hexen seid?«, fragt Karim. »Ihr könnt es doch beweisen. Mit all den Dingen, die ihr fertigbringt, zum Beispiel über dem Boden schweben und so – Erin hat mir ein paar von den Dingen gezeigt –, damit könnt ihr doch zeigen, dass es so ist?«

»Das nennen die Leute dann eine optische Täuschung«, meint Alba. »Zaubertricks.«

»Aber doch nicht alles? Manche Sachen sind einfach nicht möglich«, wendet Karim ein, »zumindest wenn du keine Hexe bist.«

»In dem Fall taucht schnell ein anderes Problem auf: Plötzlich wollen alle sofort der Hexenwelt beitreten.« Alba beugt sich vor. »Stell sie dir vor, all die Menschen, die auf einmal über dem Boden schweben wollen. Es käme hier zu einem Massenauflauf!«

Karim zuckt mit den Schultern. »Wäre das denn so schlimm?«

»Es wäre schrecklich! Innerhalb kürzester Zeit würde es hier nur so wimmeln von Ausflüglern, albernen Zuschauern und Touristen. Ganz zu schweigen von all den sklavischen Anhängern. Ganz schnell wirst du eine Sekte und hast Tausende von Anhängern, die dir blindlings folgen und wollen, dass du Regeln und Vorschriften aufstellst, an die sie sich halten können, die mit großen dummen Augen hinter dir hertrotten, ohne selbst nachzudenken.« Alba nimmt einen großen Zug aus ihrem Becher und verschluckt sich beinahe in ihrer Leidenschaft, mit der sie ihren Abscheu vor derartigen Dingen zum Ausdruck bringen will. Sie stellt den Becher mit einem Knall wieder auf den Tisch. »Wie Erin schon gesagt hat, Hexen sind von alters her weise Frauen! Und vor allem eigenwillige Frauen. Selbstständig, sachkundig und intelligent. Deshalb ist das, was Vita mit Rune macht, auch in jeder Beziehung so falsch, und jede Hexe, die die alten Gesetze unterschrieben hat, wird das sofort bestätigen. Hexen wurden immer schon mit großer Sorgfalt ausgewählt. Wir rufen nicht so mir nichts dir nichts irgendjemanden.«

Lenne rutscht auf die Stuhlkante vor. Sie grinst. »Also bin ich intelligent und eigenwillig?«

»Vor allem das Letztere«, brummt Karim.

»Eigenwilligkeit ist eine sehr gute Eigenschaft bei einem Menschen.« Erin lacht. »Du musst immer selbst nachdenken und dich fragen, wie du selbst etwas findest. Niemals etwas einfach klaglos hinnehmen und niemals Befehle befolgen, bevor du dir nicht deine eigene Meinung darüber gebildet hast.«

Karim trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Er findet das, was Erin sagt, gut, doch was ändert das an dem, was sie mit Lenne vorhaben? »Und was sind das für neue Vorgehensweisen, von denen ihr vorhin gesprochen habt?«, will er wissen. »Lenne kann von mir aus so eigenwillig sein, wie sie will, aber ich will nicht, dass sie von heute auf morgen plötzlich verschwindet, um eine Hexe zu werden!«

»Ich bin bereit, ein Experiment zu wagen«, sagt Alba. »Erin hat es geschafft, mich zu überzeugen, es zumindest einmal zu versuchen. Ich werde dich nicht rufen, Lenne. Ich lasse dir selbst die Wahl. Auf jeden Fall warten wir noch ein paar Jahre. Wenn du dann so um die achtzehn Jahre alt bist, dann werden wir noch einmal sehen, ob du noch immer Hexe werden willst.«

»Ach, verdammt«, murrt Lenne enttäuscht. »So lange muss ich warten?«

»Das hindert dich doch nicht daran, in der Zwischenzeit heimlich zu üben«, flüstert Erin mit einem verschwörerischen Lächeln. »Du musst ja immerhin wissen, ob du später Ja oder Nein sagen willst.«

»Üben?« Lenne setzt sich prompt wieder gerade hin.

»Wenn du ausgetrunken hast, dann wollen wir dir was zeigen.«

»Kann ich das auch sehen?«, fragt Karim ein bisschen eifersüchtig.

Erin nickt. »Dieses eine Mal schon.« Sie streicht ihm beruhigend durch die Haare. »Komm mal mit.«

 

Erin und Alba gehen den beiden voraus in ein kahles, nahezu leeres Zimmer.

Da steht ein kleiner hoher Tisch an der Wand, und darauf liegen einige seltsame Gegenstände.

Lenne läuft gleich neugierig darauf zu. »Das kenne ich«, sagt sie und zeigt auf ein Wandbild mit einem Stern in einem Kreis. »Das hab ich schon früher mal gesehen.«

»Auf dem Boden ist noch einer.« Karim zeigt darauf. »Hat das was zu bedeuten?«

»Das ist ein Pentagramm«, erzählt Erin. »Der Stern mit den fünf Zacken steht für die fünf Elemente: Wasser, Erde, Feuer, Luft und Geist.«

Karim rümpft die Nase. »Und warum liegt da ein Messer auf dem Tisch?«

»Das ist für den symbolischen Gebrauch. Damit schneiden wir nichts und niemanden«, beruhigt ihn Erin. »Das ist kein Mordwerkzeug, wie du vielleicht gedacht hast. Damit schneiden wir nicht einmal Kräuter oder Pflanzen, dafür haben wir das hier.« Sie zeigt auf das Messer an der Kordel, die sie um die Hüfte trägt. »Das ist ein ganz normales Messer, das täglich gebraucht wird, wenn wir Kräuter und dergleichen sammeln. Das einzig Gefährliche daran ist, dass wir es unheimlich scharf geschliffen haben. Manche Zweige und Stängel sind nun mal total hart.«

»Und der Becher?«, fragt Karim weiter.

»Ein silberner Kelch, um daraus bei den Ritualen zu trinken.« Erin nimmt ihn vom Tisch. »In ihm wurde noch nie, aber auch wirklich niemals ein Gebräu angemischt, das für Mensch oder Tier giftig ist. Das musst du mir einfach glauben.«

Karim spürt eine Hand auf der Schulter. »Nun sei mal nicht so nervös und misstrauisch«, sagt Alba. »Es ist gegen unsere Gesetze, etwas oder jemanden zu töten.«

»Das ist ein Mörser«, bemerkt Lenne und streicht mit ihren Fingern über eine glatte tiefe Steinschale. »Wir haben zu Hause auch einen, damit kannst du die Sachen ganz fein zerstampfen«, und sie zeigt Karim den Stößel. »So was kannst du einfach im Laden kaufen. Meine Mutter macht darin Sambal aus rotem Pfeffer.«

»Ich glaube, dass sie in dem hier ganz andere Sachen zubereiten«, schnaubt Karim.

»Das spielt doch keine Rolle.« Lenne guckt Karim finster an. »Du nervst, Karim, hör auf damit.«

Aber Karim hat inzwischen einen Besen entdeckt, der in einer Ecke des Raums gegen die Wand gelehnt steht. Es ist ein altertümlicher Reisigbesen, genau wie die, die er aus den Märchenbüchern kennt. Er zeigt darauf. »Ha! Also fliegt ihr doch auf Besen durch die Luft!«

»Warum sollten wir?« Alba schüttelt den Kopf. »Dafür brauchen wir nun wirklich keinen Besen. Dieser Besen ist schlicht dafür da, den Kreis auf dem Boden zu fegen.«

»Und dann ist das hier sicher auch kein Buch mit Zaubersprüchen!«, sagt Karim und tippt auf ein altes dickes Buch mit Ledereinband. Er schaut Erin herausfordernd an.

Doch dieses Mal sagt sie: »Da stehen wirklich Sprüche und Rezepte drin.«

Karims Augenbrauen schnellen hoch. »Oh … boah …«, schnauft er verdutzt. »Also gibt es wirklich Zaubersprüche?«

»Aber ja doch.« Erin schiebt das Buch auf dem Tisch etwas weiter nach hinten, sodass er und Lenne nicht mehr drankommen. »Du darfst sie nur niemals anwenden, um jemandem etwas Böses anzutun. Daher sind sie auch nicht so ohne Weiteres für jede beliebige Anfängerhexe geeignet. Und lange nicht alle Hexenkreise haben ein derartiges Buch, nur die ganz alten.«

Alba zieht vorsichtig die Samtdecke zurecht, die auf dem Tisch liegt. »Es gibt viele Hexenkreise, die Bücher haben, die diesem hier äußerlich gleichen. Viele Hexen sind in der Naturheilkunde bewandert, kennen sich aus mit Pflanzenkunde und Heilkräutern und deren Wirkung auf den menschlichen Körper. Was hier liegt, ist etwas ganz anderes.« Sie sieht Lenne eindringlich an. »Es gibt nur ganz wenige Hexen, die jemals in das alte Buch der Beschwörungen schauen durften. Und so wird es auch nicht eines der ersten Dinge sein, mit denen du es hier zu tun bekommst. Ich fürchte, dass du dich auf einige Jahre Studium gefasst machen musst, bevor du dich jemals mit diesem Buch beschäftigen kannst.«

»Oh«, sagt Lenne leise. »Hm, ja … das verstehe ich, glaube ich jedenfalls.« Dennoch bleiben ihre Augen sehnsüchtig auf das Buch gerichtet.

Karim stellt sich neben sie. Er kann Lennes Faszination gut nachfühlen. Er lässt seinen Blick noch einmal über die Gegenstände gleiten, den Mörser, den Kelch und das dicke Buch. Links und rechts stehen zwei Leuchter mit Kerzen, die zunächst noch nicht brennen, aber er versucht sich vorzustellen, wie ein Hexenritual wohl aussehen könnte, wenn die Kerzen brennen, der Kelch mit einem magischen Trank gefüllt ist und das Buch aufgeschlagen in der Mitte liegt. »Werden Männer niemals Hexen?« Er seufzt.

»Selten«, antwortet Erin, zwinkert ihm aber zu. »Dann muss man schon ein ganz außergewöhnlicher Junge sein. Doch das kommt schon vor. Willst du das denn?«

»Stell dir das mal vor«, sagt Karim und greift nach Lennes Hand. »Dann sind wir später zusammen über hundert Jahre alt und trinken von den Tränken, damit wir zusammen durch die Luft fliegen. Und uns kaputtlachen!« Er grinst breit. »Aber sehr gern würde ich auch einfach nur Pilot werden«, fügt er dann nachdenklich hinzu.

»Pff!«, stößt Lenne aus. »Du willst ja eigentlich bloß fliegen, das ist alles.«

»Ja, eigentlich schon«, gibt Karim zu. Er kann es sich nicht so richtig vorstellen, wie er endlos durch die Wälder trottet und Kräuter sammelt. Er dreht sich um und betrachtet das kahle Zimmer noch einmal ganz genau. »Habt ihr nicht auch so einen schwarzen Kessel? Ich hab gedacht, den hätten Hexen immer. So einen Zauberkessel.«

»Draußen«, sagt Alba. »Aber das ist kein Zauberkessel. Er wird gebraucht, um Feuer darin zu machen oder Wasser einzufüllen.« Sie bedeutet ihnen mitzukommen und geht zu einer Außentür, die auf einen Innenhof führt. »Schau, da steht er. Für ein paar Rituale braucht man Feuer oder Wasser.«

»Reicht der offene Herd in der Küche dafür nicht aus?«, will Lenne wissen.

Erin schüttelt den Kopf. »Es ist oft besser, bestimmte Dinge an der frischen Luft zu machen, weil dabei zum Beispiel unangenehme Dämpfe freigesetzt werden, die du nicht im Haus haben willst.«

Alba geht zum Kessel, beugt sich über ihn und ordnet ein paar Äste und Zweige neu an, die darin liegen. Dann blickt sie auf. »Erin?«

Erin nickt und geht ins Haus.

»Was passiert jetzt?«, fragt Karim, plötzlich wieder misstrauisch.

»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest«, ist die einzige Antwort, die Alba geben will.

Als Erin – nach etwa einer Minute – wiederkommt, trägt sie eine Schale mit ein bisschen Glut vor sich her.

Die hat sie bestimmt aus dem Herdfeuer geholt, vermutet Karim. Er sieht zu, wie die Glut in den schwarzen Kessel kommt. Im Gegensatz zu seiner Erinnerung an Lagerfeuer, die nicht brennen wollen, schießen hier die gelben Flammen praktisch sofort hoch. »Also, das sind auch keine normalen Äste, die darin liegen«, bemerkt er. Dann zieht er tief die Luft ein. Ein angenehm würziger Geruch geht von dem Feuer aus.

Erin zeichnet mit einem herumliegenden Ast einen Kreis in die feuchte Herbsterde und darin einen Stern. »Das kannst du immer und überall machen«, sagt sie zu Lenne. »Mit Kreide, mit Steinen oder einfach in den Sand oder die Erde zeichnen, wie ich es jetzt mache.« Sie legt ihre Hände auf Lennes Schultern und lässt sie sich außerhalb des Kreises hinsetzen. »Du sollst dich hierdurch nicht verändern, es passiert nichts Unheimliches mit dir. Es ist ein magisches Zeremoniell. Vielleicht hilft es dir zu entscheiden, ob du wirklich eine Hexe werden willst, es hilft dir, darüber nachzudenken. Wir wollen dir einen eigenen Namen geben.«

»Einen Hexennamen?«, fragt Lenne hingerissen.

»Du darfst ihn dir selbst ausdenken, das ist meistens das Beste. Aber wir können dir auch einen geben, wenn dir selbst keiner einfällt.«

Lenne denkt so tief nach, dass sich eine Falte auf ihrer Stirn bildet. »Puh!«, murmelt sie. »Bestimmt heiße ich dann für immer so, und ich kann ihn dann nicht mehr ändern?«

»Besser nicht«, antwortet Erin. »Und es ist am günstigsten, wenn du dich für einen Namen entscheidest, der ein bisschen deinem eigenen Namen gleicht – was den Klang betrifft –, dann bleibst du ziemlich dicht bei dem, was du gewohnt bist.«

Nachdenklich blickt Lenne zum dunklen Himmel hoch. »Wie viel Zeit habe ich, um darüber nachzudenken?« Sie seufzt. Der Wind treibt eine schwarze Regenwolke vor den Vollmond. Als sie vorbeigezogen ist, scheint das Licht der runden weißen Scheibe am Himmel auf sie nieder, und im Innenhof wird es auf einmal heller. Lenne fährt aus ihren Gedanken auf. »Luna!«, ruft sie entschlossen.

Alba und Erin blicken einander überrascht an. »Bist du dir sicher?«, fragte Erin mit einem Lächeln.

Lenne nickt.

»Das ist der Name, den auch wir für dich überlegt haben«, sagt Alba leise.

Lenne dreht den Kopf zu Karim. »Luna heißt Mond«, erklärt sie ihm. »Es ist ein Name, den ich mal irgendwo gelesen habe, und ich fand ihn immer schön.«

Erin weist Lenne an, um den Kreis zu laufen, drei Runden links herum, drei Runden nach rechts. Danach muss sie sich mitten in den Stern stellen.

Alba wirft etwas ins Feuer, das prasselt und Funken stieben lässt.

Es riecht nach Feuerwerk, denkt Karim. Der Geruch ist genau wie der von Krachern in der Silvesternacht. Alba murmelt etwas, was Karim nicht versteht. Fasziniert blickt er von Lenne zu Alba, zu Erin und wieder zu Lenne. Es scheint nichts Seltsames mit seiner Freundin zu passieren, und das beruhigt ihn wieder. »Luna!«, hört er dreimal zwischen den unverständlichen Worten herausklingen. Und dann strahlt Lenne, ein begeistertes Lächeln tritt auf ihr Gesicht.

»Ich weiß es sicher«, murmelt sie. »Ich weiß es ganz sicher!«

Karim zittert, vor Kälte oder vor Anspannung.

Erin legt ihren Arm um ihn. »Ja, hier draußen ist es kalt. Wir gehen wieder rein. Es ist fertig. Du kannst aus dem Kreis heraustreten, Luna. Du hast nun deinen eigenen selbst erwählten Namen.«

Sobald Lenne außerhalb des Kreises ist, läuft Karim schnell zu ihr hin. Er greift nach ihrer Hand. Seine eigene ist in der kühlen Nachtluft eiskalt geworden, doch Lennes fühlt sich warm an. »Hallo, Luna!«, sagt er fröhlich. In Lennes Augen blitzt es auf, und er erschrickt kurz. Vielleicht ist während des Rituals doch irgendetwas mit ihr passiert? Ihre Augen sind heller als sonst, selbst hier im Dunkeln sind sie intensiver grün, als er sie jemals gesehen hat.

Sie gehen wieder ins Haus, wo ihnen Alba erneut etwas Warmes zu trinken gibt, um die Kälte der Herbstnacht zu vertreiben, die ihnen unter die Kleider gekrochen ist.

Lenne trinkt gierig.

Karim fällt auf, dass Alba und Erin ständig bedeutungsvolle Blicke wechseln.

»Ich glaube, du hattest recht«, sagt Erin ein wenig erschüttert zu Alba.

Mit leicht schräg gelegtem Kopf blickt Alba Lenne prüfend an, die mit vorgerecktem Kinn und kerzengerade am Tisch sitzt. »Und ich glaube, dass du recht gehabt hast.« Sie nickt Erin zu. »Die alten Vorgehensweisen waren bei dieser jungen Dame überhaupt nicht nötig. Einige Glückliche werden einfach als Hexe geboren.« Sie lacht. »Ich weiß gar nicht, ob ich es überhaupt wagen kann, sie anzulernen. Ich fürchte, sie hat das Zeug dazu, zur mächtigsten Hexe der westlichen Halbkugel zu werden! Wir werden sehr bald von ihr in den Schatten gestellt werden, Erin.«

Plötzlich rückt Lenne ihren Stuhl etwas nach hinten und greift in ihrer Jackentasche nach der grünen Murmel, die sie wie immer ständig bei sich trägt. Sie holt sie hervor und legt sie sie vor sich auf die Tischplatte. »Sieh mal«, sagt sie zu Alba, »das hab ich mir selbst beigebracht. Ich konnte es fast sofort, vom ersten Tag an, an dem ich sie bekommen hab.« Sie richtet ihre leuchtend grünen Augen auf die Murmel, und langsam hebt die Kugel vom Tisch ab.

Karim hat schon oft gesehen, wie Lenne das gemacht hat, doch an den Gesichtern von Alba und Erin kann er erkennen, dass die das nicht erwartet hatten.

Langsam fängt die Kugel an, sich zu drehen, und schießt grüne Funken durch die spärlich erleuchtete Küche.

»Meine Güte«, flüstert Erin, »ich glaube, ich muss in eine sicherere Gegend umziehen!« Sie sagt das lachend, aber an ihren Augen kann man sehen, wie erstaunt sie ist.

Und dann wird der Friede brutal gestört.

Die Küchentür wird aufgerissen und eine riesige Gestalt wirft einen dunklen Schatten über den Holzboden.

Lennes Konzentration wird schlagartig unterbrochen, und die grüne Kugel schlägt mit einem Knall auf der Tischplatte auf. Karim hört ein schauderhaftes Geräusch von brechendem Glas und sieht, wie die grüne Kugel auseinanderbricht.

»Nein!«, schreit Lenne und packt die zwei Hälften mit beiden Händen. Sie schneidet sich an den scharf ausgezackten Rändern, und ein Tropfen Blut rinnt langsam über ihre Hand.

»Aha«, hört Karim die widerliche Stimme Vitas durch die Küche peitschen, »wird hier ein Fest gefeiert, an dem ich nicht teilnehmen soll?«

Erin springt auf. »Was machst du denn hier?«

»Ha! Ich frage besser, was ihr hier gerade macht, findest du nicht auch? Na? Kann mir das vielleicht jemand erklären?« Dann wendet sich Vita abrupt Karim zu. Mit zwei Schritten ist sie bei ihm, packt ihn am Arm, und ihre Finger klammern sich mit eisernem Griff um sein Handgelenk. Sie reißt ihn vom Stuhl hoch. »Aber erst will ich noch mit dem hier abrechnen!«