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»Papa, gibt es auf der Heide Wölfe?«, fragt Karim seinen Vater morgens beim Frühstück.

»Fängst du jetzt schon wieder mit der Heide an. Wölfe, Eichhörnchen … Was hast du bloß?«

»Nichts!«, sagt Karim und gießt sich einen kräftigen Schuss Milch auf seine Cornflakes. »Aber ich … ich kann die Heide sehen, das weißt du doch, aus meinem Fenster oben. Und es kommt mir manchmal so vor, als würde ich, äh, da Tiere rumlaufen sehen und so.« Das ist nicht gelogen, und so muss er seinem Vater nichts von dem kürzeren Weg erzählen, den er und Lenne nun ein paarmal gewählt hatten.

»Kannst du aus deinem Fenster oben Eichhörnchen auf der Heide erkennen?« Sein Vater lacht. »Dann hast du die besten Augen, die je ein Mensch gehabt hat, Junge.«

»Na ja, und wie ist es mit Wölfen?«, fragt Karim so ganz nebenbei.

»Wölfe gibt es in den Niederlanden doch schon lange nicht mehr.«

»Ein Fuchs«, sagt Karims Mutter. »Es könnte ein Fuchs gewesen sein, den du gesehen hast.«

Karim stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. Natürlich, ein Fuchs! Dass er daran nicht früher gedacht hat. Füchse sind rotbraun. Und es könnte sehr gut sein, dass sie genau wie Hunde Augen haben, die im Dunkeln aufleuchten. Er lächelt seine Mutter an.

Seine Mutter lächelt zurück und fragt sich, womit sie dieses strahlende Lächeln ihres Sohnes verdient hat. Sie steht auf und schaut auf ihre Uhr. »Verdammt, ich komme schon wieder zu spät. Karim, soll ich dich zur Schule fahren?«

Karim deutet auf seine Cornflakes, er hat noch nicht einen Löffel davon gegessen. »Nein, ich hole Lenne gleich ab.«

 

Lenne wartet an der Kreuzung auf ihn.

»Weißt du, was es war?«, ruft er schon von Weitem.

»Was?«

»Gestern. Weißt du, was es war, was ich gesehen hab?« Mit dem Erzählen wartet er, bis sie nebeneinander herlaufen. »Das Eichhörnchen, das war ein Fuchs.«

»Ein Fuchs?« Lenne zieht die Augenbrauen zusammen.

»Das Rotbraune, was ich gesehen hab.«

»Du hast doch gesehen, wie es auf einen Baum verschwunden ist?«

»Nicht auf einen Baum, hinter einem Baum.«

»Du hast nach oben geguckt.«

»Hm, ja … danach.« Karim überlegt kurz. »Der Schwanz von einem Fuchs, der kann doch gut bis … na, sagen wir mal … also ungefähr so hoch kommen?«

»Natürlich nicht.« Lenne lacht laut auf. »Das wäre dann ja ein Riesenfuchs gewesen. Füchse sind doch nur so klein, Mann!« Mit den Händen zeigt sie, welche Größe sie meint.

»Woher weißt du denn das schon wieder?«

»Das weiß doch jeder«, sagt Lenne selbstbewusst.

»Aber ich hab seine Augen gesehen«, erzählt Karim. »Gestern Abend, als ich aus dem Fenster geguckt hab.«

Lenne blickt ihn argwöhnisch mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Fuchsaugen, genau wie Hundeaugen.«

Lenne schüttelt den Kopf. Sie versteht ihn nicht.

»Hundeaugen im Dunkeln – hast du die schon mal gesehen? Dass die aufleuchten und grün werden, das weißt du doch.«

»Oh … das, ja. Das hab ich schon mal gesehen.«

»Also«, Karim macht ein triumphierendes Gesicht, »das hab ich gestern Abend von meinem Fenster aus gesehen. Genau beim Birkenwald, zwei knallgrüne Augen, und die haben mich angeguckt.«

»Wie bitte?« Lenne bleibt stehen. »Die haben dich angesehen?«

»Na ja«, Karim wird etwas unsicher. »Jedenfalls hat es so ausgesehen.« Er räuspert sich. »Genauso hat es ausgesehen.« Über seinen Augen bildet sich eine Falte. »Ist eigentlich ziemlich verrückt.«

»Ein Fuchs, der sich auf die Heide setzt und dich ansieht. Mitten in der Nacht.«

»Nein, abends, es war am Abend«, stammelt Karim.

Lenne legt spöttisch die Hand auf seine Stirn. »Aber sonst geht’s dir gut?«

»Aber das war wirklich so. Und meine Mutter sagt, dass es hier Füchse gibt. Also hab ich einen gesehen, denke ich. Und der Fuchs hat mich gesehen … das weiß ich genau.« Karim versucht es sich wieder vorzustellen. Die grünen Augen, die genau in seine eigenen zu blicken schienen. Aber wie war das bei der Entfernung möglich? Ein Schauer läuft ihm über den Rücken.

Lenne wirft ihm einen besorgten Blick zu.

Karim guckt an ihr vorbei zum etwas entfernten Birkenwald. »Heute Morgen, hm … wie üblich über die Straße?«

»Mir egal.« Lenne lacht ihn aus.

 

Im Unterricht kommen Karim und Lenne nacheinander dran, um das Ergebnis einer ihrer Matheaufgaben zu nennen. Die Ergebnisse von beiden sind glücklicherweise richtig, was aber kein Zufall ist, denn das waren genau die Aufgaben, die Karims Vater für sie ausgerechnet hatte, um es ihnen einmal vorzuführen. Hinter dem Rücken von ein paar Klassenkameraden lachen sich Karim und Lenne an.

»Was ist so lustig, Karim?«, fragt der Lehrer.

Das Lachen verschwindet aus Karims Gesicht.

»Wie viele Aufgaben hast du denn richtig?«

Karim stiert in sein Heft. »Hm …« Er tut so, als müsste er schnell nachzählen. Wer weiß, vielleicht würde es der Lehrer damit gut sein lassen. Aber nein, er fragt noch einmal. »Drei«, antwortet Karim wahrheitsgemäß.

»Junge, solche Aufgaben hast du im letzten Jahr auch schon gehabt!« Der Lehrer seufzt. »Karim, sammel die Hefte mal ein, von allen. Ich möchte mit eigenen Augen sehen, wie ihr zu diesen Ergebnissen gekommen seid. Legt alle eure Hefte an die Tischkante.«

Karim steht auf und geht durch das Klassenzimmer, um alle Hefte einzusammeln. Als er zu Lenne kommt, verzieht sie das Gesicht. Aber was hätte er denn tun sollen? Als ob es seine Schuld wäre, dass Herr Paul nun alle Hefte sehen will.

Als er durch die hinterste Reihe geht, fällt sein Blick auf die Pinnwand. Da hängt das Foto von Rinnie. Er geht schnell vorbei, doch als er sich von der Pinnwand abwendet, hat er das Gefühl, dass sich der Blick des Mädchens in seinen Rücken bohrt. Das Bild von den grünen Augen auf der dunklen Heide erscheint wieder vor ihm. Schnell dreht er sich wieder um und starrt mit einem unbehaglichen Gefühl ein paar Augenblicke lang auf das Foto. Für den Bruchteil einer Sekunde hätte er fast geschworen, dass die Augen auf dem Foto genauso leuchtend grün waren.

Das ist doch totaler Unsinn, ruft er sich selbst zur Ordnung. Wie komme ich denn auf die Idee?

»Karim«, ertönt die Stimme des Lehrers, »beeilst du dich etwas?«

»Hm, ja … ich bin schon fertig.«

 

Nach der Schule rennt Karim schnell hinter Lenne her.

»Du willst doch sicher nach dem Fuchs suchen?«, erkundigt sich Lenne.

»Nein, nein«, sagt Karim und schüttelt heftig den Kopf. Keinesfalls will er schon wieder über die Heide laufen!

»Oh, dann ist ja gut, denn ich muss erst mal in die andere Richtung.« Lenne klopft auf ihren schweren Rucksack. »Ich muss in die Bücherei, meine Bücher zurückbringen. Die sind alle schon überfällig.«

»Soll ich mit dir gehen?«, schlägt Karim vor. Er versucht, es lässig klingen zu lassen, denn Lenne braucht nicht zu wissen, dass er ein bisschen Angst davor hat, alleine entlang der Heide nach Hause zu gehen.

»Wenn du möchtest«, meint Lenne und zuckt die Achseln.

»Mensch, wie viele hast du denn da?«, fragte Karim und zeigt auf den Rucksack.

»Sechs.«

»Und die hast du alle schon durch?« Karim liest nicht besonders viel, ein Buch pro Monat vielleicht, und wenn es ein bisschen dicker ist, kann es auch länger dauern.

Lenne nickt. »Alle.«

In der Bücherei sagt Lenne der Frau, die hinter der Theke steht, freundlich Guten Tag, und sie erwidert:

»Hallo, Lenne, da bist du ja wieder.«

Karim schlendert eine Weile an den Regalen mit Büchern entlang. Er selbst ist in der Bücherei immer nach fünf Minuten fertig, aber Lenne braucht erheblich länger.

Mit den Händen in den Jackentaschen trödelt Karim an einer Wand mit Fotos vorbei. Meistens hängen da Bilder, die er sich eigentlich nicht anschaut, Kunst interessiert ihn nicht so sehr. Doch er sieht, dass die Fotos, die dieses Mal hier hängen, alte Aufnahmen aus der Umgebung sind. »Was ist das diesmal für eine Ausstellung?«, fragt er die Frau an der Theke.

»Oh, das ist die alte Fotosammlung von Frau Sachs. Sie ist ins Pflegeheim gekommen, und beim Aufräumen ihrer Wohnung hat ihre Tochter all die alten Fotos gefunden. Sie hat uns gefragt, ob wir daran interessiert wären, und da haben wir die schönsten ausgesucht und aufgehängt. Und das hat eingeschlagen, das ganze Dorf ist schon mal zum Gucken vorbeigekommen. Man kann noch alles darauf erkennen, du musst nur genau hinsehen.«

Karim geht einen Schritt näher ran. Ja, das ist der Dorfplatz, und offensichtlich gab es da früher eine Pumpe. Die ist heute nicht mehr da. Und daneben eine Fassade mit der Aufschrift Lebensmittel. Da ist jetzt der große Supermarkt. »Lenne!«, ruft er plötzlich so laut, dass er selbst darüber erschrickt und einige Leute ärgerlich aufblicken. Oh, stimmt ja, in einer Bücherei muss man immer etwas leiser sein. Lenne kommt verwundert näher. »Euer Haus!« Er zeigt darauf.

»Ach herrje.«

»Das war früher ein Bauernhof.«

»Ja, das weiß ich. Das haben mir meine Eltern erzählt.«

»Sieh mal, die hatten auch Hühner.«

»Die hatten nicht nur Hühner. Wo jetzt unsere Küche ist, da war früher ein Stall mit an die vierzig Kühen und auch noch ein paar Ziegen«, weiß Lenne.

»Schade, der Stall ist nicht mit auf dem Bild.«

Karim geht ein Stückchen weiter. Einige der Fotos sind wohl schon sehr alt. Man kann sie kaum noch schwarz-weiß nennen, sie sind eher braungelb, so sehr haben sie sich verfärbt, und manche haben hässliche Flecken. »He, die Heide.«

»Wo?«

»Hier, auf dem. Das sieht aus wie unser Birkenwald, nur noch kleiner.«

»Da sind noch mehr Fotos von der Heide«, sagt Lenne. »Ich versteh nur nicht … diese Unterschrift … Karim, lies doch mal, was hier steht.«

Es ist eine kleine und krakelige Unterschrift. Karim beugt sich vor. »Die Her… Herenheide?«

Lenne schüttelt den Kopf. »Das ist ein x … die Hexenheide?«

Sie rümpfen beide die Nase und sehen sich an.

»Gruselig«, sagt Lenne schließlich, »eine Hexenheide!« Sie überlegt kurz und dreht sich dann plötzlich um. Mit großen Schritten stiefelt sie entschlossen auf die Theke zu. »Frau Hendriks, warum heißt die Heide auf dem einen Foto die Hexenheide

Frau Hendriks sieht sie lachend an. »Ach, Kind, das kommt von den alten Geschichten. Kennst du die nicht?«

Lenne zieht die Augenbrauen hoch.

»Also, das sind Geschichten, die sind noch viel älter als die Fotos hier«, erklärt die Frau. »Vielleicht sind sie schon Hunderte von Jahren alt, all die verrückten Erzählungen. Versuch dir mal vorzustellen, wie es in dieser Gegend früher, in der Zeit vor der Straßenbeleuchtung und Neonreklame, ausgesehen hat. Das hier war nur ein kleines Dorf mit einem Gasthaus, wenigen Häusern und ein paar Bauernhöfen drumherum. Und dann die ausgedehnte Heide mit dunklen Wäldern und allem, puh … da wäre man nicht so einfach spazieren gegangen, wie es die Leute heute geruhsam mit ihren Hunden am Sonntagnachmittag tun! Darüber ist unten im Archiv das eine oder andere zu finden.«

»Kann ich da auch hin, in das Archiv?«, fragt Lenne.

»Nein«, ist die Antwort. »Da können wir nicht einfach irgendwelche Kinder drin rumkramen lassen.«

Lenne macht ein beleidigtes Gesicht.

»Es gab damals auch noch keine öffentlichen Beförderungsmittel«, fährt die Frau fort. Offensichtlich hat sie selbst regelmäßig und in aller Ruhe in dem Archiv rumgekramt. »Es verkehrte da so eine Art Postkutsche zwischen den Dörfern, ab und zu jedenfalls. Oder man ist mit einem Bauernkarren losgezogen oder zu Pferd. Mehr gab es nicht. Und nirgendwo Laternenpfähle. Na, da könnt ihr euch ja wohl vorstellen, dass natürlich die verschiedensten unheimlichen Geschichten die Runde gemacht haben. Die Menschen waren damals noch so einfältig, du meine Güte, an alles haben sie geglaubt, an Hexen und Gespenster, so verrückt, wie ihr sie euch gar nicht vorstellen könnt.« Sie lächelt.

»Aber erklären Sie uns doch das mit der Hexenheide«, bohrt Lenne ungeduldig weiter.

»Wie meinst du das? Warum genau sie so geheißen hat? Tja, da fragst du mich was. Gott, ja, ich bin immer mal wieder auf diese Erzählungen gestoßen … Na, sie haben wohl gedacht, dass da auf der Heide Hexen leben!« Die Frau starrt ein paar Sekunden grübelnd vor sich hin. »Da war was mit einer … meine Güte, wie hieß das Weibsbild nur …« Die Frau trommelt ärgerlich mit den Fingern auf die Theke. »Ich komme doch einfach nicht auf den Namen, wie blöd.«

»Der Name einer Hexe?«, fragt Karim, der mittlerweile dazugekommen ist.

»Karfunkel?«, schlägt Lenne vor und kichert. »Eukalypta? Griselda?«

Die Frau schnippt ungeduldig mit den Fingern. »Ja, irgend so was! Nein … nicht Griselda … hm … Aberdina! Alberdine, das war es. Ja, die wurde der Hexerei verdächtigt.«

»Was ist mit ihr passiert?«, will Lenne wissen.

»Na, sie wird wohl auf dem Scheiterhaufen gelandet sein oder so. Die Menschen waren damals nicht so zart besaitet. Oder vielleicht haben sie sie auch ertränkt.« Frau Hendriks lächelt noch einmal über das ganze Gesicht, als ob sie das für einen guten Witz halten würde.

»Das find ich aber nicht zum Lachen«, murmelt Karim mit gerunzelter Stirn. »So was macht man doch nicht!«

»Ach ja, das sind doch alles nur Geschichten«, sagt die Frau abwiegelnd. »Da wird schon ein wahrer Kern drinstecken, aber was im Lauf der Jahre alles dazuerfunden worden ist, das kann man doch nicht mehr zurückverfolgen.«

»Na vielleicht schon, wenn man in das Archiv darf«, brummt Lenne mit enttäuschtem Gesicht.

»Tja …« Frau Hendriks zieht die Schultern hoch. Sie blickt auf den kleinen Stapel Bücher, den Lenne im Arm hat. »Bist du schon fertig mit Suchen?«

»Hm, ja, ich denke, dass ich diesmal nur die hier mitnehme.«