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Karim sitzt auf der Bettkante. Er glaubt, draußen ein Geräusch gehört zu haben, was er sich aber auch sehr gut nur eingebildet haben konnte. Ständig hat er Lennes Zimmer mit dem offenen Fenster vor Augen. Die Glaskugel, die so unvermittelt auf der Fensterbank gelegen hat. Erin hat ihn gebeten, auf Lenne aufzupassen, aber wie soll er das vierundzwanzig Stunden am Tag machen? Er wirft einen Blick auf den Wecker neben seinem Bett. Es ist halb zwei. Seine Eltern schlafen schon.

Karim geht zum Fenster. Sein Zimmer zeigt auf die Hexenheide, Lennes Zimmer nicht, das liegt auf der Rückseite des Hauses. Von hier aus kann Karim den Garten nicht sehen.

Er denkt an Rinnie. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, Erin zu fragen, was mit Rinnie passiert ist. Sie wurde doch wohl nicht geopfert? Das soll Lenne nicht passieren! Nicht so was!

Auf bloßen Füßen schleicht Karim die Treppe hinunter. Er geht in die Küche, deren Hintertür zum Garten führt. Durch das Fenster guckt er nach draußen. Lennes Garten grenzt nicht direkt an ihr Grundstück, dazwischen liegt noch eine Wiese. Doch wenn er vielleicht seine Wange an die Scheibe drückt und versucht, so weit wie möglich nach links zu schauen? Nein, er kann Lennes Garten nicht sehen. Der Schlüssel der Hintertür hängt an einem Nagel. Karim nimmt ihn ab, steckt den Schlüssel behutsam ins Schloss und dreht ihn um. Mit der anderen Hand greift er die Klinke und drückt sie ganz langsam runter. Ein kalter Windstoß weht ihm um die Ohren. Karim dreht sich um und geht langsam in den Flur, wo seine Jacke hängt. Zurück in der Küche, zieht er ein Paar Gummistiefel seines Vaters an, die auf der Matte stehen. Sein Vater trägt sie, wenn er im Garten arbeitet, und dementsprechend hängen auch noch ordentlich Erdklumpen dran. In Jacke und Stiefeln geht Karim in die dunkle Nacht hinaus.

»Ich bin ja wohl nicht ganz dicht«, sagt er zu sich selbst. »Wenn man mitten in der Nacht glaubt, ein Geräusch zu hören, dann geht man doch nicht nachsehen! Dann kriecht man einfach ein bisschen tiefer unter die sichere Bettdecke! Aber Lenne …«

Karim tastet sich Schritt für Schritt durch den Garten. Nicht das Törchen aufmachen, denn das quietscht. Einfach nur drüberklettern.

Gebückt, sich so klein wie möglich machend, rennt Karim über die Wiese zwischen den Gärten. Bei Lennes Garten angekommen, steigt er über die niedrige Mauer und kniet sich hinter einen Baumstamm. Von hier aus kann er die Rückseite von Lennes Haus gut überblicken. Er sieht nach oben. Zum Glück ist Lennes Fenster geschlossen. Karim seufzt erleichtert auf.

Dann hört er plötzlich leise flüsternde Stimmen.

Karim macht den Rücken krumm und zieht seine Beine – die in einer viel zu auffälligen gelben Schlafanzughose stecken – so weit wie möglich unter sich.

»Ich will das nicht! Warum? Warum ist das nötig? Ist eines nicht mehr als genug?«

»Nein.«

»Aber wenn dann Vita … du weißt, dass sie … Du kannst das Kind nicht vor Vita beschützen!«

»Natürlich kann ich das. Vita hört immer auf mich.«

»Oh, denkst du? Da irrst du dich aber gewaltig.«

»Erin, geh mir jetzt aus dem Weg!«

»Nein, ich will das nicht. Ich bin damit nicht mehr einverstanden.«

Ein paar Sekunden lang bleibt es still.

»Erin!«, erklingt es nun wieder ungeduldig. »Lass das!«

Karim hört Geräusche, die auf eine leichte Rangelei schließen lassen.

»Geh weg!«

»Nein.«

»Du bist langweilig.«

»Das macht nichts. Ich werde alles tun, um dich daran zu hindern.«

»Erin … wir brauchen sie!«

»Das stimmt nicht. Alba, bitte, lass uns noch mal darüber reden. Das Mädchen ist noch nicht zwölf, sie ist das einzige Kind ihrer Eltern … Das kannst du einfach nicht machen.«

Dieses Mal bleibt es länger still.

»Weinst du?«, hört Karim dann eine verwunderte Stimme fragen. »Meine Güte, Erin, nach mehr als vierhundert Jahren … immer noch traurig?«

»Ich habe meinen Vater geliebt.«

»Der Kerl hat nichts getaugt.«

»Und doch habe ich ihn geliebt! Und er mich. Er ist vor Kummer gestorben, nachdem ich verschwunden war, das sagt doch wohl alles, oder? Hättest besser meinen Bruder für seine Untat bestraft! Ich weiß genau, dass mein Vater nicht damit einverstanden gewesen wäre, wenn er erfahren hätte, wie Joannis dich behandelt hat. Der war schon immer ein elender Schuft. Schon als Kind war er ein Quälgeist und hat andere schikaniert. Er hat auf anderen rumgehackt, gelogen und gepiesackt. Er hat die Katze, die Hunde und die Hühner gequält. Ich habe ihn verflucht!«

Karim hört jemanden seufzen. »Na gut, Erin. Wir gehen jetzt wieder zurück. Ich werde noch einmal darüber nachdenken. Aber ich fürchte, dass ich keine andere Lösung finden werde. Du etwa?«

Es bleibt still.

»Weißt du von einem anderen Mädchen hier in der Umgebung, das ihren Platz einnehmen könnte?«

»Willst du etwa, dass ich willkürlich ein Kind aus dem Dorf aussuche, damit es sein Leben für uns gibt? Alba! Du müsstest mich eigentlich besser kennen.«

Karim ballt die Fäuste. Seine Beine zittern wegen der ungewohnten Haltung, in der er da sitzt. Die Stimmen entfernen sich, werden leiser. Ganz vorsichtig versucht Karim, tief Luft zu holen. Sie gehen weg! Gott sei Dank gehen sie weg. Er hätte es nicht viel länger ausgehalten, mit verkrampften Beinen hier hinter dem alten Apfelbaum zu hocken.

 

Karim zieht sich die Bettdecke bis ans Kinn. Ihm wird einfach nicht mehr richtig warm. Mit einem dicken Pullover über seinem Schlafanzug liegt er zitternd im Bett.

Alba zufolge war eines nicht genug. Karim hat mit eigenen Ohren gehört, wie sie das sagte. Rinnie! Sie haben Rinnie mitgenommen. Was haben sie mit ihr gemacht? Ob sie noch am Leben ist? Herr Paul hatte etwas von einem Hexensabbat gesagt. Wann feiern die grausigen Hexen solche Feste? Karim erinnert sich daran, was Marit über Halloween, Allerseelen und Allerheiligen erzählt hat. War für die Hexen vielleicht einer von diesen Tagen ein besonderes Datum? »Da kommen die Geister und Hexen und andere grauenvolle Gestalten aus ihren Ecken und Winkeln gekrochen«, hatte Lennes Mutter gesagt. Dabei hatte sie gelacht. Aber vielleicht war es für einige gar nicht so lustig …

Noch etwas mehr als zwei Wochen, dann ist Halloween, am 31. Oktober. Wenn Rinnie noch lebt, dann haben wir vielleicht noch Zeit, sie zu befreien! Wir müssen etwas tun! Aber wer ist wir, und was müssen wir tun. »Ich«, sagt Karim leise. »Ich muss etwas tun. Vielleicht kann Ermelinde … Erin mir helfen.«

 

Am nächsten Tag sitzt Karim ganz blass in der Schule. Müde gähnt er sich durch die Stunden. In der vergangenen Nacht hat er fast gar nicht mehr geschlafen. Während der langen und öden Mathestunde nickt er immer wieder ein.

Nach der Schule kommt ihm Jesse, ein Klassenkamerad, hinterhergelaufen. »He, Karim, hast du Lust zu spielen?«

»Huwaas?«, gähnt Karim zur Antwort.

»Wollen wir irgendwas Schönes zusammen machen?«

Karim wirft einen Blick auf Lennes Rücken, der weiter voraus immer kleiner wird.

»Bei mir?«, fragt Jesse. »Oder bei dir?«

»Hm … gehen wir zu mir«, sagt Karim schnell und geht rasch hinter Lenne her. Diese Dreckshexen! Sie bestimmen sein ganzes Leben! Er wäre lieber mit Jesse gegangen, denn Jesse hat tolles Spielzeug, einen superschnellen Computer, und er kriegt bei Jesse zu Hause immer Chips und Kekse. Aber Karim muss auf Lenne aufpassen, er kann sie nicht allein nach Hause gehen lassen.

»Mann, was gehst du so schell!« Jesse lacht. »Hast du es eilig?«

»Ja, mir … ist kalt«, antwortet Karim. Wie er es schon erwartet hat, läuft Lenne geradewegs auf die Stelle zu, wo der Stacheldraht heruntergetreten ist, und steigt zielbewusst darüber. Voller Panik schaut Karim sich um. Diesmal ist keine Erin da, um sie zurückzuhalten. »Gehen wir da lang? Das ist kürzer.«

»Ist mir egal«, sagt Jesse.

»Eigentlich haben unsere Eltern uns das verboten, aber Lenne und ich gehen immer so.«

»Ihr beiden lauft doch sonst immer zusammen. Warum geht sie denn jetzt ganz alleine? Habt ihr Streit?«

»Ein bisschen«, murmelt Karim. Er steigt über den Stacheldraht und läuft mit großen Schritten hinter Lenne her.

Lenne hat schon längst gemerkt, dass sie hinter ihr herkommen, mehrmals schon hat sie über die Schulter zu den Jungen zurückschaut. Jetzt verschwindet sie gerade im Birkenwald.

Karim legt einen Sprint ein.

»Warte!«, ruft Jesse. »Spielen wir Fangen? Hättest du mal früher sagen sollen!« Und plötzlich rast er wie ein Hase auf und davon. Jesse ist beinahe einen Kopf größer als Karim und hat lange Beine. Außerdem spielt er seit Jahren Fußball. In weniger als einer halben Minute hat er Lenne eingefangen und bringt sie zum Stolpern. Lachend geht er auch selbst mit ausgestreckten Beinen zu Boden. »Und jetzt?«, fragt er Karim, als der ihn eingeholt hat.

»Verdammt noch mal, lass mich los!«, zischt Lenne.

»Der Kitzeltod«, keucht Karim. Er hält es für das Beste, weiter so zu tun, als wäre das ein Spiel.

Aber Lenne reißt sich los.

Als Karim sieht, dass sie die richtige Richtung einschlägt, beschließt er, es gut sein zu lassen.

Mit steif vor der Brust verschränkten Armen und einem bösen Gesicht stiefelt Lenne nach Hause.

Als Jesse und Karim zum Zaun kommen, sieht Karim zu seiner Erleichterung, dass das Auto von Marit gerade die Straße entlanggefahren kommt.

»Hallo, Lenne«, ruft Marit beim Aussteigen. »Heute bin ich mal schön früh nach Hause gekommen.«

Stur geht Lenne an ihr vorbei. Bevor sie um die Ecke zur Küchentür abbiegt, wirft sie Karim noch einen vernichtenden Blick zu. Karim spürt, wie er starr bis auf die Knochen wird. Mit solchen Augen müsste sie eine sehr erfolgreiche Hexe werden, denkt er zitternd.