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»Das ist jetzt aber weit genug«, versucht es Karim. »Lass uns umkehren, komm.« Als er sich umsieht, kann er das Tor noch sehen, und wenn er nun schreien würde, würde sein Vater ihn noch hören.

»Nein, jetzt will ich das Haus sehen«, antwortet Lenne eigensinnig. »Wo wir schon mal hier sind, will ich es auch sehen.«

Da schlängelt sich so etwas wie ein Weg zwischen den dunklen Tannen hindurch. Ein Schlammweg voller Pfützen und Löcher.

»Sieh mal«, sagt Lenne plötzlich und bleibt stehen. »Eine Katze!«

Neben dem Weg liegt ein rechteckiger grauer Stein, und auf ihm sitzt eine Katze mit leuchtend grünen Augen, die sie regungslos anstarrt.

»Ich hab gedacht, dass Hexen immer schwarze Katzen hätten«, murmelt Karim. »Aber die hier ist rot.«

»Sie ist schön!«, meint Lenne. »Ob die sich wohl streicheln lässt? Was meinst du?« Mit kleinen langsamen Schritten geht Lenne auf sie zu. Die Katze bleibt ruhig sitzen. Lenne streckt die Hand aus und krault die Katze unterm Kinn.

»Da steht was auf dem Stein«, bemerkt Karim. »Da ist was eingemeißelt. Ein Kreis oder so was.« Er beugt sich vor und besieht sich das seltsame Zeichen von Nahem. Er fährt mit dem Finger die tiefe Einkerbung nach. »Kannst du erkennen, was das sein soll?«

»Nichts!«, sagt Lenne und zuckt mit den Schultern. »Einfach nur eine Verzierung.«

Karim richtet sich auf und wischt sich etwas Schmutz von den Fingern.

Die Katze springt von dem Stein herunter.

»Jetzt hast du sie erschreckt!«, sagt Lenne ärgerlich.

Die Katze läuft vor ihnen her. Dann bleibt sie stehen und schaut sie mit einem durchdringenden Blick aus ihren grünen Augen an.

Lenne geht noch einmal auf die Katze zu, aber diesmal wartet sie nicht darauf, gestreichelt zu werden, sondern läuft erneut ein Stückchen weiter. Nach einigen Metern bleibt die Katze zum zweiten Mal stehen, und die Darbietung wiederholt sich: umschauen, warten.

»Sie will, dass wir ihr folgen!«, sagt Lenne.

»Also das lassen wir mal schön bleiben!«, protestiert Karim. »Lenne, ich geh jetzt wirklich nicht weiter. Ich geh zurück!«

»Ich nicht«, sagt Lenne entschieden.

»Erinnerst du dich noch an die Krähe?«, ruft ihr Karim nach, und seine Stimme überschlägt sich fast. »Die Krähe, die eigentlich ein kleiner Hund war! Vielleicht ist die Katze …«

»Was?« Lenne guckt ihn über die Schulter herablassend an. »Ein Tiger?«

»Eine Hexe«, flüstert Karim. Und dann trabt er wieder hinter Lenne her. Er fasst sie am Arm und zwingt sie, stehen zu bleiben. »Haben sie nicht früher von Hexen gesagt, dass sie sich in Katzen verwandeln können?« Kaum hat er das ausgesprochen, als ihn eine völlig unerwartete beruhigende Erkenntnis überkommt. Er blickt noch einmal tief in die grünen Augen. Die Katze schließt langsam beide Augen und macht sie wieder auf. »Erin?«, flüstert Karim verwundert. Das Medaillon auf seiner Brust erwärmt sich leicht.

Die Katze dreht sich um und läuft nun zielstrebig vor ihnen her.

Karim und Lenne sehen sich an.

»In Ordnung.« Karim nickt. Er nimmt Lennes Hand fest in seine, und gemeinsam folgen sie der roten Katze, die nun einen Nebenweg einschlägt und entschieden schneller läuft.

»Das Tier bringt uns irgendwo hin«, sagt Lenne wie zu sich selbst.

»Sie«, verbessert Karim. »Sie bringt uns irgendwo hin.«

Nach ein paar Schlenkern und Windungen endet der Pfad plötzlich bei einem steinernen Schuppen. Die Wände des alten, etwas schiefen und abgesackten Gemäuers sind von einem Weinstock überwuchert, der im feurigsten Rot und Orange leuchtet. Die Katze springt auf eine Fensterbank und scheint sofort mit den Farben des Weinstocks zu verschmelzen.

»Was ist das für ein Schuppen?«, flüstert Karim Lenne ins Ohr. Fragend schaut er die Katze an, doch die rote Mieze scheint sich ganz darauf zu konzentrieren, ihre linke Hinterpfote zu lecken.

Dann hören sie Geräusche aus dem Schuppen. Die Tür steht offen, und Lenne geht zögernd ein paar Schritte näher heran, um hineinspähen zu können.

Auf dem Boden des kleinen Gebäudes liegt Stroh, und es scheint nicht zum Wohnen gedacht zu sein. Lenne sieht einen Tisch, der voller Tontöpfe steht. Und auf dem Boden neben dem Tisch steht ein Eimer mit roten Äpfeln.

Plötzlich erscheint ein Mädchen auf der Bildfläche, ein Mädchen mit ungepflegten braunen Haaren, die ihr bis über die Schultern hängen. Sie bückt sich, hebt einen Apfel vom Boden auf und legt ihn wieder in den Eimer. Erstaunt betrachtet Lenne das graubraune Gewand, das das Mädchen trägt. Es erinnert Lenne an Mönchskutten, die sie von Bildern kennt. Über den Rücken des Gewands hängt eine spitze Haube wie die Kapuze an einer Regenjacke. Das Gewand selbst ist grob und einfach, doch um die Hüfte trägt das Mädchen einen feinen Gürtel, der mit Goldfäden bestickt zu sein scheint, die im warmen gelblichen Licht einer Lampe aufleuchten.

»Gleich kommt sie noch und bietet uns einen Apfel an«, haucht Karim Lenne ins Ohr.

»Warum glaubst du das?«

»Früher nie Schneewittchen gelesen?«

»Pffft«, stößt Lenne aus.

Das Mädchen hat sie gehört, blickt auf und sieht ihnen direkt ins Gesicht.

Und dann tritt Lenne erschrocken einen Schritt zurück. »Rinnie?« Sie schlägt sich eine Hand vor den Mund. Sie hatten recht, Rinnie ist hier! »Rinnie!«

Das Mädchen kommt näher, widerwillig, wie es scheint. Sie guckt Lenne hochmütig an. »Suchst du jemanden?«

»Rinnie!«, sagt Lenne zum dritten Mal. »Du bist es wirklich!«

»Ich weiß nicht, wen du meinst. Ich heiße Rune.«

»Aber Rinnie … ich bin es, Lenne, aus deiner Klasse.« Lenne tritt einen Schritt vor, sodass sie im Licht steht.

Der überhebliche Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens ändert sich allerdings nicht. »Ich heiße Rune, hab ich doch schon gesagt.«

»Ja, und meine Oma kann fliegen«, schnauzt Karim. »Sag doch einfach, dass Rune dein Hexenname ist.«

Das Mädchen erstarrt.

»Von mir aus kann ich dich ruhig Rune nennen«, sagt Lenne.

»Ich weiß nicht, wie ihr mich hier habt finden können, aber ich kann euch nur raten, ganz schnell wieder nach Hause zu gehen!« Drohend kommt Rune einen Schritt näher »Verschwindet von hier!«

Um Lennes Mund bildet sich ein eigenartiger Zug. »Hast du vielleicht gedacht, dass du die einzige Auserwählte wärst?«, fragt sie verächtlich. Sie holt die grüne Kugel aus der Jackentasche und lässt sie vor Runes Augen aufsteigen. »Wer hat dich ausgesucht? Wer hat dich gerufen? Vita oder Alba?«

Rune wird blass.

»Na?«, bedrängt Lenne sie weiter.

»Vita natürlich, sie ist die Mächtigste«, antwortet Rune.

»Ach, ja?«, sagt Lenne scharf »Oder meinst du vielleicht, dass sie die Boshafteste ist?«

»Was weißt du denn schon davon, du Baby.«

»Zufällig bin ich aber zwei Monate älter als du, Rinnie Munter.«

»Ich heiße Rune!«, zischt das Mädchen und hebt beide Hände in die Höhe. Da liegt ein Gift in ihren Augen, und Lenne und Karim können spüren, dass sie das lähmen und umbringen könnte.

Gleich macht sie etwas, denkt Karim ängstlich, gleich spricht sie eine Verwünschung über uns aus. »Äh …«, schaltet er sich ein. »Äh … Lenne, lass uns gehen.«

Lenne scheint sich auch nicht zu trauen, dagegen anzugehen. Sie schnappt sich die Glaskugel aus der Luft und dreht Rune gleichzeitig den Rücken zu. »Von mir aus«, sagt sie und verlässt sofort die eigenartige Szenerie.

Die rote Katze springt von der Fensterbank und trabt neben ihnen her.

Als sie wieder an der Weggabelung stehen, sieht sich Lenne noch einmal um. Rune ist ihnen nicht gefolgt. »Siehst du sie noch?«, fragt Lenne Karim.

»Nein.« Karim schüttelt den Kopf. »Ich glaube, sie ist wieder reingegangen.« Er geht weiter zurück zum Tor, doch dann sieht er, wie Lenne plötzlich in die andere Richtung geht. »Nicht, nein!«, ruft er fassungslos. »Das ist doch nicht dein Ernst! Du wirst dich doch jetzt nicht noch weiter umsehen wollen!«

»Nur ganz kurz«, besänftigt Lenne ihn. »Nur mal schauen, wohin dieser Weg führt.«

Die rote Katze läuft ihr direkt vor die Füße, und Lenne wäre beinahe gestolpert. Sie geht noch ein paar Schritte weiter, und die Katze kriecht ihr wieder vor die Beine. »Jetzt geh doch mal zur Seite, du verrücktes Biest!« Lenne macht noch einmal ein paar Schritte, aber jetzt springt die Katze fauchend und zischend mitten auf den Weg.

Karim ist Lenne gefolgt. »Sie will nicht, dass du weitergehst«, sagt er eindringlich.

Lenne schaut angestrengt zwischen den Bäumen hindurch. »Das Haus!«, flüstert sie leise und stößt Karim in die Seite.

Er steht jetzt neben ihr.

Versteckt hinter tief herunterhängenden Zweigen betrachten sie beide eine Weile das graue alte Gebäude.

Früher muss es einmal ein schönes, vielleicht etwas düsteres Haus gewesen sein, mit hölzernen Läden vor den Fenstern, einer Steintreppe, die zu einer hohen Eingangstür hinaufführt, und einem zierlichen Satteldach. Doch nun ist der Putz schmutzig und hat Risse, und die schmalen Leisten der Fensterläden sind hier und da gesplittert und zerbrochen. Einige der Läden fehlen ganz oder hängen schief in ihren Scharnieren, und irgendwo liegt einer in Stücke zerbrochen auf dem Boden.

Karim packt Lennes Arm und zeigt zum Schornstein oben auf dem Dach. Rauch steigt auf. »Sie sind zu Hause«, murmelt er heiser und zieht Lenne mit sich zurück zum Tor. Die rote Katze schlägt noch einmal giftig mit dem Schwanz und geht dann steifbeinig auf den Hauseingang zu. Sie steigt die Treppe hoch, versteckt sich hinter einer Säule und verwandelt sich in die Frau mit den roten Locken.

»Die anderen sollen das bestimmt nicht wissen«, meint Karim und nickt. »Sie hat es heimlich gemacht. Hast du das gesehen? Die anderen haben das mit dem Katzentrick nicht mitbekommen. Durch ihn hat sie uns heimlich Rinnie gezeigt, und jetzt will sie, dass wir wieder weggehen.«

Lenne und Karim schauen Erin nach, wie sie schnell durch die Eingangstür ins Haus verschwindet.

»Und jetzt gehen wir zurück«, sagt Karim zum soundsovielten Mal.

Zum Glück ist Lenne nun endlich damit einverstanden.

Von den grauen Dachpfannen des Satteldachs krächzt ihnen eine schwarze Krähe nach.

 

Der Rückweg zu Karims Haus verläuft still. Es hat angefangen, leicht zu regnen, und Karim und Lenne gehen schweigend dicht nebeneinander unter einem Regenschirm, während Karims Vater den Regentropfen trotzt und sie ständig ermahnt, etwas zügiger zu gehen.

Erst in der Sicherheit von Karims Zimmer bricht es aus den Kindern heraus. »Sie war verändert«, sagt Lenne. »Sie war unheimlich verändert.« Sie sprechen über Rinnie. »Ich war nie besonders mit ihr befreundet, aber wir sind immer ganz gut miteinander ausgekommen. Hast du mitgekriegt, wie sie mich angeguckt hat, als ich ihr meine Glaskugel gezeigt habe? Sie hat ja beinahe Feuer gespuckt.«

»Mit ihren Augen.« Karim nickt. »Unheimlich.« Er denkt kurz nach. »Sie ist bestimmt von der unheimlichen Kahlköpfigen bearbeitet worden.«

»Vita«, flüstert Lenne, die sich immer noch nicht traut, den Namen laut auszusprechen. »Was will sie wohl von Rinnie? Will sie nur eine Hexe aus ihr machen, oder hat sie … noch etwas anderes mit ihr vor?«

»Rinnie scheint das Erste zu denken. Sie hat sich auch nicht so benommen, als ob sie so furchtbar gern gerettet werden wollte. Und sie hat immerhin einen Hexennamen bekommen.«

»Aber vielleicht hat Alba ihr den gegeben. Oder Vita tut gegenüber den anderen nur so. Ich trau der Sache nicht, Karim. Du etwa?«

Karim schüttelt mutlos den Kopf. »Mich graust es bei der Kahlköpfigen. Du hast ihr Gesicht gesehen – im Wasser. Du hast ganz schreckliche Angst vor ihr bekommen.«

»So, wie die geguckt hat … so gemein, so falsch. Sie hat mich bestimmt als so ein Opfer angesehen, von denen Herr Paul gesprochen hat.«

»Wir müssen Rinnie befreien«, sagt Karim zögernd. »Ja?«

»Wie denn?«

»Müssen wir das ihren Eltern nicht erzählen?«

»Ja, eigentlich schon. Aber …«, Lenne verzieht schmerzlich das Gesicht, »noch nicht. Lass uns damit noch mal kurz warten. Ich meine, wie macht man so was? Ihre Tochter wird von einer Hexe gefangen gehalten? Dann glauben sie es natürlich nicht. Und wenn sie dann wissen, wo sie ist, gehen sie mit Polizeiwagen und heulenden Sirenen drauflos. Einfach weil sie meinen, dass es so ein Bösewicht ist, der sie da festhält. Sie werden uns nicht glauben, dass es sich um echte Hexen handelt. Und wer weiß schon, was Vita mit Rinnie anstellt, wenn sie die alle kommen sieht!«

»Ich fürchte, das Schlimmste«, sagt Karim düster.

»Du musst Erin fragen«, meint Lenne. »Die wird uns doch wohl helfen können?«

»Jetzt?«, fragt Karim und tastet unter dem Pullover nach dem Medaillon.

In diesem Augenblick ruft jemand unten an der Treppe.

»Lenne, du sollst kommen«, sagt Karim. »Ich glaub, das sind deine Eltern.«

Lenne steht von der Luftmatratze auf. »Mist«, murmelt sie. »Was sollen wir machen?«

»Muss ich warten, bis du zurück bist?«

»Ja, natürlich, bevor du irgendwas unternimmst. Stell dir vor, wie gefährlich das wird! Aber Erin kannst du doch sicher schon um Rat fragen?«

Karim nickt. »Das mache ich. Ich weiß nur noch nicht wann. Vielleicht heute Abend, vielleicht morgen.«

»Na gut.« Lenne seufzt. »Bis dann in ein paar Tagen.«