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Dieses Mal ist es Lenne, die nicht eine Minute länger warten kann. Es ist Montagmorgen, die Schule hat gerade angefangen, und die Kinder sitzen noch gar nicht richtig, aber Lenne fuchtelt schon ungeduldig mit der Hand in der Luft herum. »Herr Paul? Herr Paul!«

Herr Paul steht mit einem Stück Kreide in der Hand an der Tafel und will gerade etwas schreiben, doch geduldig dreht er sich zu ihr um und sieht sie fragend an. »Nun sag schon, Lenne.«

»Sind Sie noch mal in der Bücherei gewesen? Bei Frau Hendriks? Wissen Sie jetzt endlich das Ende der Geschichte über die Alberdine?«

Der Lehrer dreht die Kreide zwischen seinen Fingern herum. Sechsundzwanzig Kindergesichter blicken ihn fragend an. Auch wenn sie sich nicht alle so stark wie Lenne für die Hexenverfolgung interessieren, wird doch jede Minute, die von der Mathestunde abgeknabbert wird, dankbar angenommen. Herr Paul lächelt gutmütig. »Na, denn mal los. Ja, Lenne, ich habe mit Frau Hendriks gesprochen. Du solltest dich bei ihr noch mal richtig bedanken, wenn du das Thema so spannend findest, denn sie hat sich wirklich Mühe gegeben, um die ganze Geschichte auf den Tisch zu bringen.« Der Lehrer lässt seine Augen über die erste Reihe gleiten, wo sie einen Augenblick auf Karims Gesicht verweilen, der ihn gespannt ansieht. Dann setzt sich Herr Paul auf die Kante des Lehrertischs. »Also gut, hört zu und gruselt euch. Ich fürchte, dass das ein Stück Geschichte unseres Dorfs betrifft, auf das wir nicht so stolz sein können. Gut, und jetzt zu Alberdine.« Er nickt Karim noch einmal zu, der sich auf seinem Stuhl kerzengerade aufrichtet.

»Alberdine war die Tochter eines Müllers, das einzige Kind, keine Brüder und Schwestern. Ihre Mutter war im Wochenbett bei Alberdines Geburt gestorben. Solche Dinge sind damals leider ziemlich häufig passiert. Alberdine wohnte zusammen mit ihrem Vater in der Mühle, und es war selbstverständlich, dass sie als einziges Kind das alles einmal erben würde. Deshalb wollte so mancher junge Mann aus dem Dorf sie nur allzu gerne heiraten. Müller war ein guter Beruf, da hatte man praktisch eine Garantie auf ein gutes Einkommen. Viele Menschen waren sehr arm und lebten von dem kleinen Stück Land, das sie besaßen, oder sie waren Tagelöhner oder betrieben einen kleinen Handel. Doch Alberdine, eigensinnig, wie sie war, wies einen Heiratskandidaten nach dem anderen ab. Nun hat am Rand von unserem Dorf eine reiche Familie gewohnt. Diese Familie hatte eine Tochter und immerhin fünf Söhne. Sie besaßen wohl viele Ländereien und Grundstücke, doch wenn man das Ganze unter so vielen verteilt, dann bleibt für jeden nicht so viel übrig. Der Vater von all den Söhnen fasste daher den Plan, den Jüngsten mit Alberdine zu verbinden, denn dann war der Junge gut untergebracht und die Familie um einen neuen, reizvollen Besitz reicher. Als der Müller dann eines Tages starb, blieb Alberdine allein zurück. Innerhalb kürzester Zeit stand der reiche Herr mit seinem Sohn vor der Tür. Und nicht etwa, um ihr ein freundliches Angebot zu machen, glaubt das nur nicht. Er verlangte, dass sie seinen Sohn heiraten sollte, Punkt und Schluss. Doch Alberdine, störrisch und eigensinnig, verwies ihn von ihrem Land. Der reiche Herr wollte jedoch auf keinen Fall weichen, daher machte Alberdine sein Pferd scheu, das Tier floh, stolperte über eine Baumwurzel und brach sich ein Bein. Doch das hätte sie besser nicht tun sollen. Zu jener Zeit wurden nämlich vor allem vermeintliche Hexen beschuldigt, Pferde scheu zu machen. Im Handumdrehen machten die wildesten Gerüchte im Dorf die Runde, wozu die reiche Familie zweifellos kräftig beigetragen hatte, rachsüchtig, wie sie war. Der älteste Sohn derselben Familie war verheiratet und seine Frau schwanger. Als diese dann eine Fehlgeburt hatte, wurde sofort mit anklagendem Finger auf Alberdine gezeigt. Sie hätte das noch ungeborene Kind verflucht, behauptete die Frau, die das Kind verloren hatte! Sie waren sich auf dem Markt begegnet, und wer weiß, vielleicht hatte Alberdine die schwangere Frau, von der sie wusste, dass sie zu der Familie gehörte, die ihr das Leben schwer machte, einfach nur unfreundlich angesehen. Aber die schwangere Frau hat das für den bösen Blick gehalten und jedem, der es hören wollte, erzählt, dass sie von diesem Augenblick an gespürt habe, wie die Frucht versteinerte, die sie in ihrem Schoß trug. Nach einiger Zeit wurde ein großer Bogen um die Mühle gemacht, und Alberdines Einkünfte ließen kräftig nach. Kindern wurde verboten, sich in der Nähe der Mühle aufzuhalten und dort zu spielen, denn es wurde erzählt, dass Hexen bei ihrem Hexensabbat Kinder opferten. Nun kam auch noch der unglückselige Umstand hinzu, dass es im Sommer eine Missernte gab. Das lag zweifellos daran, dass jenes Frühjahr total verregnet war, doch es war natürlich viel einfacher, einer Person die Schuld daran zu geben. Und natürlich war es Alberdine, die vermeintliche Hexe, auf die ganz schnell wieder gezeigt wurde. Und eines Abends brach die Hölle los. Ein Kind war verschwunden, es hatte draußen gespielt und war nicht zum Abendessen nach Hause gekommen. Die Menschen strömten scharenweise zusammen. Alberdine hatte das Kind mitgenommen, das wussten sie genau! Bauern mit ihren Rechen und Mistgabeln, Dorfleute mit Messern und schreiende Mütter, die selbst kleine Kinder hatten – sie alle zogen als wüster Haufen zur Mühle. Vorneweg ein paar Leute mit Fackeln, die alles niederbrennen wollten. Letzteres wurde vom jüngsten Sohn der reichen Familie verhindert. Die Mühle in Brand zu setzen schien ihm dann doch eine Sünde. Er wollte natürlich seine Chance nutzen und sich die Mühle unter den Nagel reißen. Alberdine hatte Glück – na ja, was man so Glück nennt – und konnte der wütenden Menge entkommen. Der jüngste Sohn war auf einem Pferd vorausgeritten, fühlte sich wegen der Menge, die hinter ihm herkam, besonders mutig und zerrte Alberdine an den Haaren aus der Mühle. Doch Alberdine war eine starke junge Frau und kämpfte um ihr Leben. Dann floh sie in die Felder und war verschwunden. Natürlich konnte sie sich danach im Dorf nicht mehr blicken lassen. Die Leute hätten sie auch nachträglich noch auf den Scheiterhaufen gezerrt. Ach ja, das Kind, das vermisst worden war, kam vergnügt und munter wieder nach Hause, denn es war einfach nur in einem Heuhaufen eingeschlafen. Es hatte natürlich keine Ahnung von dem Unheil, das es unabsichtlich angerichtet hatte. Und die vornehme Familie war um eine Mühle reicher: Nimm dir, was du kriegen kannst. Ja, Karim, was ist denn?«

Karim lässt seine Hand wieder sinken, und seine Finger zittern ein bisschen. »Herr Paul, die Mühle, war das eine Wassermühle?«

»Oh, hm, ja, hab ich vergessen, das zu erwähnen? Ja, das war die Wassermühle, ihr wisst ja, gleich hinter dem Dorf. Die gibt es immer noch. Ich glaube, das Amt für Denkmalschutz kümmert sich mittlerweile um sie. Sie werden die Mühle in Kürze instand setzen und für Besucher öffnen.«

Karim guckt zur Seite und fängt Lennes Blick auf. Sie starrt ihn an. Nichts erzählen, scheint sie mit ihren Augen sagen zu wollen. Nein, das hatte Karim auch nicht vor. Es ist eine viel zu abgedrehte Geschichte, und wer würde sie überhaupt glauben?

»Aber es ist noch nicht zu Ende«, fährt der Lehrer auf einmal unerwartet fort. »Denn nur wenige Wochen später verschwand die einzige Tochter des reichen Kerls, dessen Familie sich die Mühle so geschickt angeeignet hat. Sie war ein schönes Mädchen, heißt es in der Geschichte, und die Familie hätte sie gerne mit einem wohlhabenden Mann verheiratet, der ihr schon einige Zeit den Hof gemacht hat. Doch kurz bevor die Hochzeit stattfinden sollte, war sie von einem auf den anderen Tag verschwunden. Sie wollte nur ein wenig im Garten spazieren gehen. Und wenn ich Garten sage, dann müsst ihr euch so etwas vorstellen wie den Park hier mitten im Dorf und nicht eure eigenen Gärtchen hinter dem Haus. Plötzlich war sie weg. Niemand weiß, was passiert ist. Wer weiß, vielleicht hatte sie einfach keine Lust, den reichen alten Kerl zu heiraten, und hat schlichtweg die Beine in die Hand genommen, wer kann das schon sagen? Aber euch ist natürlich schon klar, was die Menschen hier im Dorf darüber erzählt haben: Das musste das Werk der Hexe sein! Die Rache der Alberdine! Durch die reiche Familie ist alles durcheinandergebracht worden, durch ihr Zutun wurde sie aus dem Dorf vertrieben, deshalb holt sie noch zu einem letzten Schlag gegen sie aus: Vom jüngsten Sohn der Familie belästigt, ermordet oder entführt die Müllerstochter seine Schwester.«

Nun ist es wieder Lenne, die sich meldet. »Wie hieß die Tochter?«

»Oh, das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ich habe den Namen schon mal irgendwo gelesen …«

Karim hält sich zurück. Er könnte den Lehrer einfach fragen: Herr Paul, hieß sie vielleicht Ermelinde? Aber er weiß nicht, ob Lenne ihm das übel nehmen würde, sie scheint alles für sich behalten zu wollen.

»Die Geschichten über Alberdine, die Hexe, sind noch weiter ausgeschmückt worden«, erzählt der Lehrer weiter. »Die Menschen damals liebten Gruselgeschichten, denn solche Erzählungen waren immer gut, wenn man im Gasthaus behaglich am warmen Herdfeuer saß. Mancher müde Reisende, der mit einem großen Krug Bier dabeisaß, hat die Möglichkeit genutzt, sich in eine Runde einzubringen, indem er erzählte: ›Was? Ob ich heute Abend auf der Heide eine Hexe gesehen habe? Aber ja, immer wieder. Ich habe eine seltsame Erscheinung mit langen weißen Haaren vor uns über die Heide irren sehen. Sie ist vor uns hergeschwebt, ihre Haare flatterten im Wind, und sie hat laut kreischend Verwünschungen ausgestoßen. Aber wir haben uns die Finger in die Ohren gestopft, zu Gott gebetet und sind tapfer weitergeritten!‹ Und dann bekam man vom Wirt ein zweites Bier spendiert und ein drittes, wenn man die Geschichte noch einmal erzählte und immer schöner und fantastischer, denn das war gut für die Kundschaft, die noch ein Stündchen länger blieb, um noch mehr zu hören.«

»Ich finde das total traurig«, erklingt Malikas Stimme aus der zweiten Reihe. Lenne dreht sie zu ihr um. »Du etwa nicht? Für Alberdine, meine ich. So aus dem Haus vertrieben zu werden! Und dann ohne Geld und sonst irgendwas über die Heide zu wandern. Die ist bestimmt vor Hunger umgekommen.«

»Hexen können nicht verhungern«, sagt Lenne leise.

Malika grinst. »Ja … stimmt!«

»Also Kinder«, witzelt Herr Paul, »nicht einfach auf der Heide spielen, denn bevor ihr es euch verseht, werdet ihr von einer Hexe entführt und verschwindet für immer!« Ihm ist schnell klar, dass er etwas Falsches gesagt hat, als es plötzlich unbehaglich still wird. Eine ganze Reihe Kinder drehen sich unwillkürlich zu dem Foto hinten im Klassenzimmer an der Pinnwand um.

»Ja, nun ja … hm, ihr sollt natürlich sowieso nicht draußen auf der Heide herumlaufen.« Herr Paul hüstelt verlegen.

»Und im Handumdrehen wirst du dann selbst beschuldigt, eine Hexe zu sein«, durchbricht Malika unbeschwert die Stille. Sie grinst.

Die meisten Kinder lachen schon wieder erleichtert.

Aber Lenne sitzt immer noch umgedreht auf ihrem Stuhl und starrt mit zusammengekniffenen Augen auf das Foto von Rinnie. Worte aus der Erzählung des Lehrers geistern ihr durch den Kopf: Hexensabbat, entführte Kinder, geopfert, Wassermühle, eine Hexe mit langen weißen Haaren …