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Am nächsten Tag gehen Lenne und Karim wieder über die Heide, und gegen Ende der Woche ist es für sie fast wieder normal geworden, genauso wie früher den kürzeren Weg zu nehmen. Doch sie sind klug genug, das niemandem zu erzählen.

»Meine Mutter würde einen Koller kriegen, wenn sie das wüsste«, sagt Lenne und sieht sich schnell noch einmal um, bevor sie über den Stacheldraht steigt. Niemand da, der sie beobachtet?

»Und meine erst.«

»Zum Glück haben wir keine reichen Eltern.«

Karim macht ein verwundertes Gesicht. »Was hat das denn damit zu tun?«

»Na, Rinnies Familie hat total viel Geld. Die haben doch die ganzen Läden!«

»Ja und? Es ist doch gar kein Brief wegen Lösegeld oder so gekommen. Bei einer solchen Entführung kommt doch immer einer von diesen Briefen, das weißt du doch, dass man irgendwo einen Sack mit Geld hinlegen muss, sonst kriegt man sein Kind nicht wieder. Bei Rinnie war das nicht so.«

»Vielleicht kriegen wir solche Sachen nur nicht zu hören«, meint Lenne. »Die erzählen uns doch nicht alles.«

»Ich hab auch nichts davon in der Zeitung gelesen. Da ist es nirgends um Geld gegangen.«

»Hast du die Matheaufgaben schon alle fertig?«, wechselt Lenne schnell das Thema. Sie hat überhaupt keine Lust, über Rinnie zu reden, wenn sie gerade über dieses einsame Stück der Heide gehen.

»Nein.«

»Wollen wir diese langweiligen Hausaufgaben nicht gleich zusammen machen?«

»Bei mir zu Hause oder bei dir?«

»Bei dir«, sagt Lenne. »Dann kriege ich wieder den leckeren Tee von deinem Vater. Außerdem hilft er immer bei diesen blöden Aufgaben, das macht meine Mutter jetzt gar nicht mehr. Sie sagt nur noch, dass ich das nun mal lernen muss, dieses Dividieren. Bah!«

Plötzlich hören sie ein Knacken aus dem Birkenwald.

Karim bleibt stehen. »He, hast du das gesehen?« Er boxt Lenne gegen den Arm.

»Was?« Lenne läuft vor lauter Schreck ein kalter Schauer über den Rücken.

»Ein Eichhörnchen«, antwortet Karim.

Lenne boxt ihn fest zurück. »Mein Gott! Ich erschreck mich zu Tode, du Idiot.«

Karim grinst.

»Das ist nicht lustig!«, meint Lenne.

»Aber natürlich. Eichhörnchen sind richtig lustig.« Karim biegt vom Weg ab und geht ein paar Schritte zwischen den Bäumen hindurch. »Was hat ein Eichhörnchen bei Birken verloren? Eichhörnchen fressen doch schließlich Bucheckern und so was.«

»Die stehen weiter vorne«, Lenne streckt den Arm aus. »Buchen.« Sie kratzt sich im Nacken und zögert. »Oder vielleicht waren das auch Eichen …«

Karim läuft noch ein Stückchen weiter. »Ich kann es nicht mehr sehen.«

Lenne stampft ungeduldig mit den Füßen. »Kommst du noch mal zurück?«

»Vielleicht war es gar kein Eichhörnchen«, murmelt Karim. »Hast du es nicht gesehen?«

»Nein. Jetzt komm schon.«

»Ich hab was Rotbraunes gesehen. Meiner Meinung nach war das ein Eichhörnchenschwanz.« Karim späht an den Baumstämmen hoch.

»Karim!« Lenne ballt ihre Hände zu Fäusten.

Karim wirft ihr über die Schulter einen boshaften Blick zu. »Vielleicht war das ein Kidnapper mit roten Haaren.«

»Tu du mal nicht so witzig. Und wenn du vielleicht versuchst, mir Angst zu machen …«

Wieder hören sie Zweige knacken.

»… dann ist dir das gelungen.« Lenne läuft hinter Karim her. Mit ein paar großen Schritten ist sie bei ihm und packt ihn an der Jacke. »Und jetzt kommst du mit.«

Ein plötzlicher Windstoß lässt die Blätter der Bäume rascheln. Karim und Lenne blicken gleichzeitig nach oben. Die kleinen gelben Blätter scheinen zu zittern und aufgeregt zu flüstern. Der Himmel darüber ist strahlend blau und keine Wolke in Sicht.

»Da … da kann einem doch ganz … schwindelig von werden … wenn du da lange hinguckst«, murmelt Lenne, und sie starrt wie hypnotisiert weiter nach oben zu den sich flirrend bewegenden knallgelben Blättern vor dem porzellanfarbenen Hintergrund.

Karim muss ein plötzlich aufkommendes Gähnen unterdrücken. »Ja …«, bestätigt er mit einem tiefen Seufzer. Es ist, als ob der Wind ein pfeifendes Geräusch macht, und die Ohren gehen ihm davon zu. Er schüttelt den Kopf und zwinkert mit den Augen.

Lenne steht da wie erstarrt, noch immer in derselben Haltung, den Kopf in den Nacken gelegt. Das pfeifende Geräusch verwandelt sich in eine weiche Stimme, eine Stimme, die ruft, eine Stimme, die ihren Namen kennt.

Lenne … Lennehhh.

»Lenne … Lenne!«

»He … was?« Lenne erschrickt und fällt beinahe um.

»Was machst du da?«, fragt Karim.

»Ich?« Lenne sieht ihn verwundert an. »Ich mache nichts.«

»Du hast plötzlich die Arme in die Luft gestreckt.«

»Was? Wie kommst du denn da drauf?« Sie hält ihre Hände vor sich und betrachtet ihre zitternden Finger. »Das hab ich überhaupt nicht gemacht. Ich hab meine Hände in den Jackentaschen gehabt.«

»Ja, erst schon, aber dann nicht mehr. Ich hab es doch ganz genau gesehen. Plötzlich hast du ganz seltsam dagestanden und die Arme geschwenkt.«

»Das hast du dir ausgedacht.«

»Wirklich nicht!« Karim guckt sie entrüstet an. Langsam merkt er, wie sich eine eklige Gänsehaut vom Nacken aus über seinen ganzen Körper ausbreitet. Er packt Lenne am Arm und zerrt sie aus dem Birkenwald raus. »Komm, wir gehen nach Hause.«

»Au, du kneifst mich!«

Karim lässt nicht los.

»Karim, du kneifst mich, hab ich gesagt!«

Karim bleibt stehen. »Du hast dich echt ganz komisch benommen, Lenne. Als wolltest du gleich losfliegen oder so, und du hast die Augen nach allen Seiten verdreht.«

»Jetzt benimm dich mal wieder normal!«

»Ich? Du bist es, die sich komisch benimmt.« Er lässt Lennes Arm los und schaut ihr tief in die Augen. »Das war ganz schön gruselig.«

Ein schwerer Windstoß lässt die Äste der Birken knacken, und plötzlich bricht mit einem lauten Knall ein dicker Ast ab. Aus dem Augenwinkel sieht Lenne, wie er herabstürzt, und sie packt Karim am Arm und reißt ihn mit einem Ruck zur Seite.

Mit einem lauten Krachen stürzt der Ast direkt neben ihnen in einen Haufen früh abgefallener welker Blätter. Wenn Lenne nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre, hätte der Ast Karim im Nacken getroffen.

Mit ängstlichen Augen gucken sich die beiden einen Moment lang an und rennen dann gleichzeitig los. Ohne ein Wort zu verlieren, laufen sie, bis sie die Heide hinter sich gelassen haben und vor dem Holzzaun bei Karims Haus stehen.

Mit zitternden Knien klettern sie über den Zaun.

Als sie auf dem Gartenweg zur Haustür gehen, fangen beide an zu kichern.

»Was war das denn jetzt?«

»Woher soll ich das wissen? Einfach ein dummer Zufall!«

»Mann, hast du eine Angst gehabt!«

»Von wegen! Du hast selbst Angst gehabt.«

»Quatsch. Ich hab mich nur erschrocken.«

»Ja, ich auch.«

Schulterzuckend gehen sie ins Haus.

 

Lenne trinkt den glühend heißen Tee in kleinen Schlucken. An der Tasse wärmt sie sich die Hände.

»Papa«, fragt Karim, »weißt du, ob es auf der Heide Eichhörnchen gibt?«

»Auf der Heide? Ihr seid doch nicht etwa auf der Heide gewesen?«

Lenne schneidet Karim eine Grimasse. Blödmann! Warum fängst du jetzt mit der Heide an?

Karim beugt sich schnell vor, um einen Bleistift aufzuheben, der ihm zuvor runtergefallen ist. Seine Wangen glühen. Wenn er das abstreiten will, muss er knallhart lügen. Als er sich wieder aufrichtet, sagt er: »Ich frag doch nur, ob es da Eichhörnchen gibt!«

In diesem Augenblick kommt seine Mutter ins Wohnzimmer. Sie hat ihre Jacke noch an. »Hab ich euch über die Heide reden hören?«, fragt sie ihren Mann stirnrunzelnd, während sie sich mit einer ungeduldigen Handbewegung eine hellblonde Locke aus der Stirn streicht.

»Lass mal!«, ruft Karim und wedelt verärgert mit den Händen durch die Luft. »Ich frag doch nur, ob es hier in der Nachbarschaft Eichhörnchen gibt.«

Seine Mutter wirft ihre Jacke über einen Stuhl. »Ist für mich auch noch Tee da?«

Karims Vater gießt ihr eine Tasse ein. »Bist du müde? War auf der Arbeit wieder so viel zu tun?«

Lenne und Karim sehen sich an. Zum Glück beginnt Karims Mutter stöhnend von dem Druck zu erzählen, unter dem die Krankenhausabteilung steht, in der sie arbeitet, und keiner der beiden Eltern kommt auf Karims Frage zurück.

Lenne beugt sich über ihr Heft und schreibt etwas. »Kommt bei deiner Rechnung dasselbe raus?«, fragt sie und schiebt Karim ihr Heft hin.

Karim liest, was da steht: TROTTEL! Er grinst. Und doch hätte er gerne eine Antwort auf seine Frage gehabt. Hatte er sich das Eichhörnchen vielleicht doch nur eingebildet?

 

Als Karim abends in seinem Bett liegt, fällt es ihm schrecklich schwer, sich auf sein Buch zu konzentrieren. Es will einfach nicht funktionieren. Gestern Abend fand er die Geschichte noch so spannend, und jetzt interessiert ihn die ganze Handlung überhaupt nicht mehr.

Er legt das Buch weg und knipst die Nachttischlampe aus. Auf dem Rücken liegend starrt er ins Dunkel. In seinem Zimmer ist es nicht so stockfinster, dass er nichts mehr sehen könnte. Durch das Licht der kleinen Laternen, die neben dem Gartenweg stehen und einen schwachen Schimmer an seine Zimmerdecke werfen, kann er die Gegenstände im Raum gerade noch erkennen.

Warum hatten sie heute Mittag eigentlich solche Angst, Lenne und er? Es war doch gar nichts passiert, oder? Ein Knacken von brechenden Ästen und Zweigen hört man oft im Wald. In der Natur leben so viele Tiere, die man meistens nicht sieht, wohl aber hört. Nichts, um sich davon erschrecken zu lassen.

Karim weiß nun wirklich nicht mehr, ob er tatsächlich ein Eichhörnchen gesehen oder sich das nur zusammenfantasiert hat. Ein paar Sekunden später, als er zwischen den Bäumen stand, konnte er das kleine Tier nirgends mehr entdecken. Er hatte auch nicht wirklich ein Eichhörnchen erkannt, sondern aus dem Augenwinkel wahrgenommen, wie sich etwas Rotbraunes bewegte, das wie der Blitz hinter einem Baumstamm verschwunden war.

Der schwere Ast, der heruntergebrochen war – das war schon verrückt. Aber im Herbst passieren solche Dinge schließlich immer wieder. Pech, dass er gerade druntergestanden hatte. Oder in jedem Fall druntergestanden hätte, wenn Lenne nicht gewesen wäre.

Lenne … ja, Lenne hatte sich schon seltsam benommen. Da konnte einem doch mulmig werden …

Oder hatte sie ihn auf den Arm nehmen wollen? Das sähe ihr ähnlich. Karim lacht leise. Wetten, dass sie ihn mit ihrem eigenartigen Flattern der Arme und den verdrehten Augen einfach zum Narren gehalten hatte? Oder vielleicht war ihr vom Starren in die Blätter, die sich oben über ihrem Kopf bewegten, auch etwas schlecht geworden. Sie hatte schon früher einmal gesagt, dass ihr davon schwindelig wird.

Er sieht sie wieder vor sich. Und dann kriegt er plötzlich wieder eine Gänsehaut. Er kriecht tief unter seine Bettdecke und zieht sie bis zum Kinn hoch.

Er denkt an Rinnie. Doch was auch immer mit Rinnie passiert ist, kann doch damit nichts zu tun haben? Oder ist vielleicht mit ihr so was passiert, wie heute Mittag mit Lenne? Vielleicht hat sie auch zu lange raschelnde Blätter angesehen und ist dann ohnmächtig geworden, irgendwo mitten auf der Heide. Aber ohnmächtig werden ist eigentlich nicht so schlimm, irgendwann kommt man von selbst wieder zur Besinnung. Und dann hätte sie doch einfach nach Hause gehen können. Sie ist bestimmt nicht irgendwo auf der Heide liegen geblieben. Die Polizei hatte damals mit wild schnüffelnden Hunden die ganze Heide abgesucht. Ein ohnmächtiges Mädchen, das da lag, hätten sie mit Sicherheit gefunden.

Karim schlägt die Bettdecke zurück und steigt aus dem Bett. Er zittert vor Kälte, aber irgendetwas zwingt ihn, aus dem Fenster zu gucken. Widerwillig geht er zu den dunkelblauen Vorhängen und zieht sie zögernd ein Stück zurück, gerade weit genug, um durch den Spalt spähen zu können.

Von seinem Fenster aus sieht er auf die Heide. Tagsüber kann er etwas entfernt den kleinen Wald sehen, den er nun wieder mit Lenne jeden Tag durchquert. Aber jetzt ist es dunkel.

Karim legt seine Stirn an das kalte Glas und starrt in Richtung Birkenwald. Der Mond steht hell am Himmel, sodass er die Umrisse der Bäume erkennen kann. Sonst nichts. Oder doch? Sein Blick wird von etwas Merkwürdigem angezogen, ein Stück links von der Baumgruppe. Er kneift die Augen zusammen und schaut noch einmal genau hin. Es sieht aus wie zwei kleine grüne Lichter. Da muss er plötzlich an den Hund von seiner Tante denken. Wenn sich der Hund unter den Tisch legt und man die Tischdecke hochzieht, um darunter zu gucken, leuchten die Augen des Hundes manchmal in der gleichen Weise auf. Zwei leuchtende grüne Murmeln, die einen aus dem Halbdunkel anstarren. Die Gänsehaut, die Karim inzwischen bekannt ist, überzieht plötzlich wieder seine Arme, und erschrocken macht er einen Schritt zurück. Schnell zieht er die Vorhänge zu und reibt sich über die Arme. Doch die Gänsehaut verzieht sich nicht, sondern kriecht ihm bis in den Nacken. Es fühlt sich an, als würden sich die Haare auf seinem Kopf senkrecht aufstellen.

Mit einem großen Sprung ist er im Bett und zieht sich die Decke bis über den Kopf.

Morgen geht er bestimmt nicht über die Heide, sondern bleibt brav auf der Straße! Dann muss er zwar zehn Minuten länger laufen, aber auf den Weg zwischen den Bäumen hindurch kriegen ihn keine zehn Pferde mehr!