6

 

 

file not found: 06.eps

 

 

 

 

 

Am Ende des Nachmittags hat Lehrer Paul eine Viertelstunde übrig. »Was wollen wir machen?«, fragt er. »Soll ich eine Geschichte erzählen?«

Karims Hand schießt blitzartig nach oben. Er wirft Lenne von der Seite einen leicht verlegenen Blick zu und fragt dann: »Wissen Sie was über eine Hexenheide?«

Der Lehrer runzelt die Stirn. »Eine Hexenheide? Nein. Noch nie davon gehört.«

Enttäuscht lässt sich Karim mit ausgestreckten Beinen wieder in seinen Stuhl sacken. »Dann stammen Sie sicher nicht hier aus der Gegend.«

Herr Paul bemerkt Karims Enttäuschung und schaut ihn überrascht an. »Aber sicher.«

»In der Bücherei hängen alte Fotos«, sagt Karim. »Auf einem davon sieht man die Heide, und darunter steht: die Hexenheide

»Das sagt mir nichts …« Herr Paul blickt nachdenklich vor sich hin. »Aber Hexen hat es hier in der Umgebung viele gegeben, darüber gibt es auch Geschichten, die habe ich früher oft gehört. Aber bevor ich euch irgendwelchen Unsinn erzähle, werde ich noch ein bisschen herumstöbern. Na ja, Unsinn bleibt das mit den Hexen natürlich doch. Aber früher sind Frauen schon wegen irgendwelcher Kleinigkeiten in Verdacht geraten. Das ist dann meistens nicht so gut für sie ausgegangen.«

»Wissen Sie was über eine Hexe, die Alberdine hieß?«, fragt Karim. Er hat sich wieder etwas aufrechter hingesetzt.

»Alberdine … hm, nein. Ich erinnere mich dunkel an eine Hexe mit Namen Albina, das schon. Ich glaube, das bedeutet weiß, aber so ganz sicher bin ich da nicht, Albina – oder war es Alba? Hm, ja … irgend so was. Eine weiße Hexe? Obwohl Alb in den alten germanischen Sagen, glaube ich, auch Elfe bedeuten konnte, ein überirdisches, nicht göttliches Wesen. Alb. Ich habe irgendwann mal den Namen Albin gehört, und das bedeutet Freund der Elfen.« Er sieht Karim lächelnd an. »Bringt dich das irgendwie weiter?«

Ob Karim damit etwas anfangen kann? Er sitzt vor Aufregung zitternd auf seinem Stuhl! Er traut sich kaum noch, Lenne anzusehen, aber dann tut er es doch. Eine weiße Hexe! Er denkt an die langen schlohweißen Haare der Frau bei der Wassermühle.

»Warte mal, jetzt fällt mir was ein.« Der Lehrer trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ich habe mich einmal gründlicher mit der Geschichte dieses Dorfs befasst, und da bin ich auf die Geschichte einer Frau gestoßen, die mit Schimpf und Schande aus dem Dorf vertrieben worden ist. Aber, Mensch, das muss schon drei- oder vierhundert Jahre her sein. Vielleicht noch länger.« Er blickt sich lachend in der Klasse um. »Also, Mädchen, werdet jetzt mal nicht unruhig, an einen solchen Unsinn glauben wir heutzutage nicht mehr. Die Frau ist zweifellos der Hexerei verdächtigt worden, das war die häufigste Beschuldigung, wenn sie dich wie die Pest gehasst haben, weil du – als Frau – zu schlau oder zu selbstbewusst warst. Ob sie Alberdine geheißen hat, Karim, das weiß ich nicht mehr. Nur, wenn sie aus dem Dorf verjagt worden ist, dann wird sie sicherlich irgendwo auf der Heide gelandet sein, denn viel mehr als Heide gab es damals in der Umgebung nicht. Wie bist du eigentlich an den Namen gekommen, Alberdine

»Den hat die Frau in der Bücherei genannt.«

»Na, dann frag sie doch noch mal. Oder weißt du was, vielleicht kann ich selbst heute Nachmittag mal bei ihr vorbeigehen. Findet ihr es schön, solche Geschichten zu hören? Na ja, die bringen euch auch noch ein bisschen Geschichte bei, allerdings vermengt mit einer ganzen Menge Unsinn.«

Lenne hat währenddessen immer finsterer vor sich hin gestarrt. Sie sitzt angespannt mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihrem Stuhl.

Da klingelt es, und alle stürmen aus dem Klassenzimmer.

Lenne ist eine der Ersten, die die Schule verlässt.

»Lenne!« Karim rennt ihr nach. »Lenne, was ist denn?«

Sie bleibt stehen und sieht ihn mit einer Wut in den Augen an, die Karim nicht begreift.

»Hab ich was falsch gemacht?«

»Wie die alle reden, erst die Frau in der Bücherei und jetzt auch Herr Paul, dass das alles Unsinn und dummes Zeug wäre. Und dann lachen sie auch noch, wenn sie erzählen, dass es mit diesen Frauen meistens ganz obermies zu Ende gegangen ist!«

»Ja, na ja … das hab ich zu der Frau in der Bücherei doch auch schon gesagt, dass ich die Sache mit dem Ertränken überhaupt nicht lustig finde«, beeilt Karim sich zu sagen.

Lennes Blick bohrt sich in seine Augen. Eine halbe Minute stehen sie sich wortlos gegenüber.

»Ja … stimmt«, sagt Lenne schließlich besänftigt. »Du bist schon in Ordnung, Karim.«

»Oh, vielen Dank.« Karim reckt sein Kinn. »Und wer bist du eigentlich, um mich so zu beurteilen?«

Lenne dreht sich abrupt um – ihr dunkelblonder Pferdeschwanz peitscht Karim beinahe ins Gesicht – und geht einfach weg. Er wartet ein paar Augenblicke, bis er ihr folgt. Es geht ihm gegen die Ehre, ihr wie ein Schoßhündchen nachzulaufen, daher sieht er zu, dass er ein oder zwei Meter Abstand zu ihr hält, obwohl er eigentlich viel lieber wie üblich neben ihr gehen würde. Karim mag es überhaupt nicht, Streit zu haben, aber Lenne braucht auch nicht zu denken, dass sie einfach alles zu ihm sagen kann.

Inzwischen ist Lenne bei dem verbogenen Stacheldraht angekommen. Karim sieht, wie sie zielbewusst darübersteigt, und er will schon den Mund aufmachen, um ihr etwas zuzurufen. Er möchte lieber nicht mehr über die Heide gehen, erst recht nicht nach der Begegnung mit der weißhaarigen Frau an der Mühle. Aber er kann Lennes Gesicht schon vor sich sehen, wenn er das sagen würde – sie würde ihn einen Angsthasen nennen und auslachen. Zögerlich folgt er ihr. Und wenn er das nur macht, um sie zu beschützen, redet er sich ein. Stell dir doch mal vor, wenn ihr was passiert!

Lenne macht nicht den Eindruck, als bräuchte sie Schutz, so energisch, wie sie weitergeht. Ohne jede Scheu läuft sie durch den Birkenwald. Der graue Nebel, der über der Heide liegt, ist so dicht, dass man nur die Stämme der nächsten Birken erkennen kann, dahinter verschwindet alles im Nebel, der so dick wie Erbsensuppe ist.

Während Karim ihr hinterhergeht, laufen ihm kalte Schauder über den Rücken. Er ist noch nicht am ersten Baum vorbei, als er über eine Wurzel stolpert und der Länge nach hinschlägt. Lenne schaut sich nicht einmal um. Hat sie nicht gehört, wie er hingefallen ist? Ziemlich wütend rappelt Karim sich wieder auf. Noch während er sich den Sand von den Kleidern klopft –, was für ein Glück, dass es heute nicht geregnet hat! – wird seine Aufmerksamkeit von etwas Gelbem angezogen. Er schaut nach rechts, um zu sehen, was es ist. Unwillkürlich muss er plötzlich an all die Zeitungsberichte denken, die vor einigen Monaten erschienen sind.

Jorinde Munter. Am Tag ihres Verschwindens trug sie ein gelbes T-Shirt und Jeans. Die Leute wurden gebeten, nach einem Mädchen in diesem gelben Kleidungsstück die Augen offen zu halten.

Bei dem Abstand kann Karim nicht erkennen, was es ist, aber das Gelb hebt sich leuchtend von der braunvioletten Heide und dem Grau der Birkenstämme dahinter ab. Unsicher bleibt er stehen. Er will wissen, was es ist, er muss hingehen und nachsehen. Soll er Lenne rufen? Aber Lennes schwarze Jacke ist inzwischen nur noch ein Fleck im Nebel, der sich etliche Meter vor ihm herbewegt. Und er hat keine große Lust, hier auf der Heide herumzuschreien. »Ich mach das jetzt einfach«, sagt er zu sich selbst und rennt auf den gelben Gegenstand zu.

Nicht auszudenken, wenn es tatsächlich ein Stück von Jorindes T-Shirt ist! Ob er dann in die Zeitung kommt? Klassenkamerad von Jorinde findet einen Teil ihres T-Shirts. Er sieht die Schlagzeile schon vor sich.

Doch als er näher kommt, erkennt er zu seiner Enttäuschung, dass es nichts anderes ist als eine blassgelbe Blume. Anstatt sich gleich wieder umzudrehen, machen Karims Füße noch ein paar Schritte, bis er dicht vor der Blume stehen bleibt. Karim verzieht ärgerlich den Mund. Verdammt, nun war die ganze Mühe umsonst.

Schon verrückt, so eine blassgelbe Blume im Oktober. Selbst im Sommer hat er diese Sorte nie auf der Heide gesehen, doch zu dieser Jahreszeit ist das schon sehr seltsam. Er kniet sich neben die Blume, um sie besser betrachten zu können. Ob er sie abpflücken soll?

Während er die Hand nach dem Stängel ausstreckt, spürt er, dass er beobachtet wird. Seine Hand bleibt in der Luft schweben, als er ruckartig den Kopf hebt. Ängstlich blickt er in den Birkenwald, und seine Nackenhaare sträuben sich, doch es ist nichts zu sehen.

Langsam steht er auf. Da ist jemand, irgendwo zwischen den Bäumen, irgendwo in diesem weißen Nebel, da ist er sich ganz sicher.

Die Augen ununterbrochen auf den Birkenwald gerichtet, geht er langsam ein paar Schritte zurück. Er wird gemustert, und der Blick von dem, der ihn ansieht, ist nicht freundlich. Er würde es später nicht begründen können, warum er das so genau weiß, aber er spürt, dass er besser zusieht, dass er hier wegkommt. Er traut sich nicht, dem – was es auch sein mag – den Rücken zuzukehren. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre schnell davongerannt, doch statt wegzulaufen, bleibt er instinktiv dem Wald zugewandt, ohne zu zwinkern, ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Er kann nicht erkennen, wo er die Füße aufsetzt.

Wenn ich jetzt wieder stolpere, bin ich der Dumme, denkt er. Ich darf nicht hinfallen. Tastend bewegt er abwechselnd den linken, dann den rechten, dann wieder den linken Fuß, immer weiter zurück.

Sobald er den Wald hinter sich hat und der Abstand zwischen ihm und den letzten Bäumen so groß ist, dass die gelbe Blume nur noch wie ein Punkt wirkt, wagt er es, sich umzudrehen und wie der Blitz hinter Lenne herzurasen, die inzwischen längst am Zaun auf der anderen Seite der Heide ist.

Außer Atem kommt Karim am Holzzaun an. Lenne ist gerade drübergeklettert. Keuchend wirft er sich über die splittrigen Latten und wäre auf der anderen Seite beinahe schwer auf die Straße gestürzt.

»Was machst du denn da?«, fragt Lenne verwundert.

»Die Blume«, keucht Karim. »Hast du die Blume nicht gesehen?«

»Welche Blume?«, fragt Lenne und schlägt die Kapuze zurück, die sie sich über den Kopf gezogen hatte.

Karim rappelt sich auf. Mit zusammengekniffenen Augen guckt er Lenne an, starrt auf die Kapuze. Nein, mit diesem schwarzen Ding, das sie über dem Kopf hatte, hat Lenne natürlich nichts gesehen. Auch wenn sie vielleicht zur Seite geblickt hätte, hätte sie nichts anderes gesehen als den Rand ihrer Kapuze.

Da kommt ihm ein eigenartiger Gedanke: Sollte die Blume für Lenne bestimmt gewesen sein? Sie hätte hinschauen müssen, sie hätte die Blume sehen müssen, er hätte sie darauf aufmerksam machen müssen, und dann …

Karim kratzt sich nachdenklich an der Nase. Und dann … was?

»Du guckst so komisch«, sagt Lenne.

Eine Blume als Lockmittel? Karim schüttelt den Kopf. Das ist wirklich zu idiotisch, um noch länger darüber nachzudenken, wie kommt er bloß auf solche lächerlichen Ideen!

»Oh, hm … ja …«, murmelt er, »ich … ich bin ein bisschen blöd gefallen.«

»Trottel«, sagt Lenne. Aber wenigstens lacht sie wieder über ihn.

Karim lacht zurück. »Machen wir die Hausaufgaben zusammen?«