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Karim hat Lenne einen Brief geschrieben und ihr den in den Briefkasten geworfen.

 

Hallo Lenne,

seit Dienstagnachmittag sind ein paar Dinge passiert, die ich jetzt nicht alle erzählen kann. Ich habe mit Erin gesprochen (das ist Ermelinde, und das erkläre ich dir irgendwann später), und du musst dich in Acht nehmen, Lenne!!! Die kahlköpfige Hexe ist gefährlich! Sie heißt Vita, und Erin sagt, ich darf ihren Namen nicht einmal laut aussprechen. Geh nicht so ohne Weiteres mit Alba mit, vielleicht kann sie dich gar nicht vor Vita beschützen, das habe ich sie selbst sagen hören!!! Wenn du wieder mit mir redest, kann ich alles erklären.

Karim

 

Was Besseres ist ihm nicht eingefallen. Er hofft, dass sie den Brief liest und nicht gleich zerknüllt und in den Papierkorb schmeißt.

Als er am Donnerstagmorgen zur Schule geht, sieht er, wie Lennes Vater Noud gerade aufs Fahrrad steigt. »Na, Karim«, sagt Noud, »Verkehrt ihr im Moment nur noch schriftlich miteinander? Marit hat mir von eurem Streit erzählt. Blöd von Lenne, dass sie nicht mit dir reden will. Marit hat ihr gestern Abend eine ordentliche Standpauke gehalten. Aber ich denke doch, dass ihr inzwischen wirklich zu alt dafür seid, euch wegen Murmeln zu streiten.«

Karim sieht ihn unsicher an. »Hat Lenne das gesagt? Dass wir wegen Murmeln Streit hätten?«

»Ja, du willst eine Murmel haben, von der sie sagt, dass sie ihr gehört.«

»Hm … ja.«

Kopfschüttelnd fährt Noud auf dem Rad davon, doch vorher gibt er Karim noch lachend einen herzlichen Klaps auf die Schulter.

Karim will gerade wieder gehen, als er Lennes Stimme hört. Überrascht blickt Karim auf, denn er hatte angenommen, dass Lenne wieder extra früh von zu Hause weggegangen ist, um ihm nicht zu begegnen. Es war ihm gar nicht mehr in den Sinn gekommen, bei ihr zu klingeln.

Lennes Gesicht ist immer noch verschlossen, doch sie geht neben ihm her. »Danke für den Brief«, murmelt sie.

Karim spürt, wie sich ein freudiges Gefühl in ihm ausbreitet. Er grinst Lenne zögernd an. Doch dann verschwindet das Grinsen schnell wieder von seinem Gesicht, und er stößt Lenne in die Seite. »Ich muss dir ein paar Sachen erzählen. Ich soll dir sagen, warum es so gefährlich ist.« Er berichtet Lenne auf die Schnelle alles von der Begegnung mit Erin und seinem nächtlichen Besuch in Lennes Garten.

»Hm«, brummelt Lenne, »du hast ganz schön Mut.«

»Ich hab eine Heidenangst gehabt.« Karim seufzt. »Aber die …«, er will den Namen nicht aussprechen, »die … Kahlköpfige, vor der musst du dich in Acht nehmen.« Und dann erzählt er Lenne mit einiger Überwindung von seinen Gedanken wegen der kommenden Festtage.

Lenne runzelt die Stirn. »Du glaubst also, dass Rinnie noch irgendwo ist, dass sie jedenfalls noch lebt?«

»Vielleicht.«

»Wenn das so ist, dann müssen wir was tun«, sagt Lenne entschieden. Sie bleibt stehen. »Aber Karim, ich komm einfach nicht dagegen an, dass ich mit Alba gehen will. Ich kann es nicht erklären, aber es ist …«

»Nein, lass mal«, winkt Karim ab. »Erin hat auch so was gesagt. Wenn du gerufen wirst, dann musst du einfach. Es ist so, als wärst du hypnotisiert, nur irgendwie anders.«

»Ich kann wirklich nichts dagegen machen, es geht einfach nicht.«

»Ich nehme dir das doch nicht übel. Was weiß ich denn schließlich davon?«

Lenne streckt zögernd die Hand aus.

Karim nimmt sie sofort. »Willst du das Medaillon sehen?«

Lenne nickt eifrig.

»Jetzt darf ich nur ihren Namen nicht laut aussprechen«, sagt Karim verschwörerisch, während er das Schmuckstück unter seinen Klamotten hervorzaubert. »Wer weiß, sonst steht sie plötzlich vor uns – wegen nichts.«

»Das ist bestimmt sehr alt«, meint Lenne, nachdem sie das Medaillon von allen Seiten betrachtet hat.

»Mindestens vierhundert Jahre«, sagt Karim.

»Oh, ja, natürlich.«

»Hast du die Glaskugel noch?«

»Ja, was hast du denn gedacht!« Lenne holt sie aus der Innentasche ihrer Jacke. »Und, Karim, guck mal, was ich damit kann.« Sie legt die Kugel auf ihre ausgestreckte Hand und starrt sie eindringlich an.

Karim zwinkert. »Lenne, sie schwebt!«

»Das hab ich gemacht!«, sagt Lenne stolz.

Karim tritt einen Schritt zur Seite und betrachtet seine Freundin mit neuen Augen. Er schluckt. »Ich will ja wirklich nicht meckern, aber … meiner Meinung nach bist du schon eine Hexe!«

Lenne steckt die Kugel wieder in ihre Tasche. »Aber sonst kann ich noch gar nichts.«

»Vielleicht, wenn du gut übst.« Karim lacht nervös. »Wer weiß, was du dann noch alles anstellen kannst!«

»Dich in einen Frosch verwandeln?«, schlägt Lenne kichernd vor.

»Mach das lieber mit Herrn Paul«, sagt Karim. »Dann fällt die Schule aus.«

 

»Was können wir denn tun, Karim?«, fragt Lenne, als sie am Nachmittag am Zaun stehen, wo sie Erin begegnet sind. »Angenommen, dass Rinnie da irgendwo ist, irgendwo auf der Hexenheide, wie können wir ihr dann helfen?«

Karim klettert auf den Zaun. »Weißt du, ich hab nachgedacht … Die Hexen müssen doch irgendwo wohnen, oder?«

»Bestimmt.«

»Sie werden doch da irgendwo ein Haus haben?«

»Erzähl mir bloß nicht, dass du da hingehen willst.«

»Fällt dir was Besseres ein? Das ist bestimmt der Ort, wo sie Rinnie gefangen halten.«

Lenne zupft nachdenklich ein Fetzchen Haut von ihrer Lippe. »Wenn ich jetzt nur so tun würde, als ginge ich mit Alba mit? Und sobald ich dann dort bin … irgendwo … mache ich mich auf die Suche nach Rinnie?«

»Bist du total bekloppt? Du hast selbst gesagt, dass du nicht widerstehen kannst, wenn Alba dich ruft. Der grausige Zirkus mit ihren Augen! Das hast du bei der Wassermühle selbst gesagt! Du wärst wie ein Schaf hinter ihr hergelaufen. Das waren deine eigenen Worte. Nein, Lenne, wenn du erst einmal mit ihr gegangen bist, dann bist du genauso ausweglos gefangen wie Rinnie.«

»Und wenn ich vorher übe mit der …«

»Mit was?«

Lenne holt die grüne Kugel aus ihrer Jackentasche und betrachtet sie. »Wer weiß schon, was ich alles damit machen kann.«

»Bilde dir bloß nichts ein«, meint Karim. »Alba wird dir doch nicht einfach so ein Ding geben, wenn du damit plötzlich über jede Menge Kräfte verfügst. Sie passt schon auf. Sie braucht dich, hab ich sie sagen hören. Setz dir nur nichts in den Kopf, Lenne. Versprich mir, dass du nichts Dummes machst!«

»Nur, wenn du mir dasselbe versprichst, Karim«, gibt Lenne zurück. »Du gehst nicht alleine auf die Suche nach einem Hexenhaus auf der Heide, Karim!«

»Nein … nein, in Ordnung.« Er weiß, dass das nicht so ganz überzeugend klingt, und sieht, wie ihn Lenne misstrauisch ansieht. »Nicht alleine, auf keinen Fall«, fügt er dann aufrichtiger hinzu. »Noch ein Tag, und dann haben wir eine ganze Woche Herbstferien – massenhaft Zeit, um auf die Suche zu gehen.«

Lenne zieht die Augenbrauen zu einem missbilligenden Stirnrunzeln zusammen.

»Ich meine in der Bücherei«, sagt Karim schnell. »Na ja, auch schon auf der Heide. Vielleicht kriege ich meine Eltern dazu, mal mit mir dort spazieren zu gehen. Ganz einfach spazieren gehen. Und dabei gucke ich mich gut um.«

»Meine Mutter will in den Herbstferien wegfahren«, murmelt Lenne. »Irgendwohin. Und dazu hab ich nun überhaupt keine Lust.«

Karim wird munter. »Mensch, vielleicht ist das gerade gut! Dann bist du zumindest weit weg und in Sicherheit. Und ich kann inzwischen die Dinge etwas genauer unter die Lupe nehmen.«

»Ohne dass ich dabei bin? Ich will die Dinge auch unter die Lupe nehmen.«

»Ich erzähle dir doch alles, was ich entdeckt habe, wenn du wieder zurück bist.« Karim findet das gar keine so schlechte Idee. Es würde ihn ganz schön erleichtern, wenn Lenne ein Stück weiter weg wäre, irgendwo, wo die Hexen sie nicht erreichen können. Er ist ganz erschöpft davon, immer auf sie aufpassen zu müssen. Er hat den Eindruck, dass er für einen Jungen von elf Jahren eine ziemlich schwere Aufgabe übernommen hat. Er fühlt sich verantwortlich. Jedenfalls nach dem Gespräch mit Erin. Nachts kriegt er fast kein Auge mehr zu. Und tagsüber versucht er ständig, Lenne im Auge zu behalten. »Wann fahrt ihr?«

»Nicht vor Montag. Am kommenden Wochenende haben meine Eltern so ein paar Feiern, auf die sie gehen müssen.«

Also nur noch drei Tage, denkt Karim bei sich. So lange hält er wohl noch durch.

Lenne klettert hoch und setzt sich mit dem Rücken zur Heide neben ihn auf den Zaun. Geistesabwesend spielt sie mit der Glaskugel in ihren Händen. Sie nimmt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und sieht hindurch. Dann lässt sie sie vorsichtig los. Die grüne Glaskugel bleibt einfach in der Luft hängen.

Karim schaut mit gemischten Gefühlen zu. Er findet es großartig, verwunderlich, bezaubernd und zugleich unheimlich und ein Vorzeichen von etwas noch viel Seltsameren, das ganz bestimmt noch kommen wird. Er traut sich nicht, den Mund aufzumachen, weil er befürchtet, Lennes Konzentration zu stören. Wenn er plötzlich etwas zu ihr sagen würde, würde die Kugel möglicherweise auf dem Asphalt zersplittern, denn immerhin ist sie ja aus Glas.

Lenne hält ihre Hand unter die grüne Murmel. Sie zwinkert, die Kugel fällt ihr auf die Handfläche. Sie schließt die Finger darum und murmelt etwas, das Karim nicht versteht. Dann lässt sie sie erneut in der Luft hängen.

Nervös blickt sich Karim nach der Heide um. Wer weiß, ob dieses Ding nicht so etwas ist wie sein Medaillon, und vielleicht ruft Lenne damit, ohne es zu wissen, die Frau mit den weißen Haaren herbei. Gleich würde sie hinter ihnen stehen, aber das sollten sie nicht abwarten! »Lenne, hör jetzt auf.«

»Warum? Es ist gerade so schön.«

Die Sonne scheint auf die grüne Glaskugel, und Karim sieht wieder die grünen Strahlen. Hier sind sie weniger gut zu erkennen als in Lennes Zimmer, in dem es nicht so hell war. Im vollen Tageslicht erscheinen sie nur als blasse Streifen. »Lass uns doch wenigstens reingehen«, sagt Karim. »Ob zu mir oder zu dir, ist mir egal, aber mach das bitte nicht hier draußen.«

»Auch okay«, brummt Lenne, »aber gehen wir zu dir, bei mir ist niemand zu Hause.« Sie lacht Karim etwas mitleidig an. »Bei dir zu Hause ist es bestimmt sicherer mit deinem Vater am Küchentisch.«

»Du darfst sie ihm aber nicht zeigen.«

»Hör mal, ich bin doch nicht schwachsinnig.« Lenne steckt die Kugel wieder weg und rennt zu seiner Haustür.

Karims Vater hat sie schon kommen sehen. »Hallo Lenne!«, ruft er erfreut, als er die Tür öffnet, »kommst du zum Teetrinken?«

Karim, der gerade selbst die Tür aufmachen wollte und den Schlüssel schon in der Hand hat, steckt ihn wieder ein und seufzt. Wenn sein Vater dabei ist, können sie sich erst mal nicht weiter unterhalten.

Der setzt sofort Wasser auf. »Du trinkst bestimmt wieder diese ekelige Cola«, sagt er zu seinem Sohn. Dann wendet er sich an Lenne. »Karim weiß nicht, was gut ist.« Er gibt ein bisschen frische Minze in die Teekanne.

Lenne hat sich inzwischen ganz gemütlich am Küchentisch niedergelassen.

Na ja, denkt Karim, vielleicht braucht sie mal kurz etwas Normales, Alltägliches. Mal eine halbe Stunde keine Hexenkünste. Er setzt sich neben sie und schaut aus dem Fenster, da hat er plötzlich eine schlaue Idee. »Papa«, sagt er und setzt sich etwas aufrechter hin, »weißt du, ob es irgendwelche Häuser gibt, da draußen?« Er deutet mit der einen Hand in Richtung Hexenheide. »Du joggst doch da immer wieder.«

»Ich laufe auch schon mal über die Heide, ja. Warum?«

»Nur so. Wohnen da Leute auf der Heide?«

»Nicht dass ich wüsste.« Karims Vater macht ein verwundertes Gesicht und schüttelt den Kopf.

»Aber hast du da mal Häuser gesehen?«, bohrt Karim weiter.

»Mal überlegen … ja, da stehen wohl ein paar kleine Gebäude. Da gibt es eine Holzhütte für einen Waldwächter, oder wie ihr das nennt, einen Aufseher. Da sehe ich nie jemanden. Ich glaube, das ist ein Treffpunkt für Führungen oder so was.« Karims Vater gießt das kochende Wasser über die Minze, kommt mit der vollen Kanne an den Tisch und setzt sich hin. »Und da ist ein Schafstall, auch aus Holz, aber sehr groß. Dazu gehört ein echter Schäfer mit einer Schafherde. Es ist ein schöner Anblick, wenn sie draußen sind. Sie halten die Heide in gutem Zustand, ist mir erzählt worden. Sie fressen das Gras und andere junge Pflanzen ab, die man nicht haben will, wodurch die Heide so bleibt, wie sie ist. Ohne die Schafe würde sie zu Grasland oder Wald oder so werden, das weiß ich auch nicht so ganz genau.«

Er will noch mehr über die Heide erzählen, aber Karim fragt ungeduldig dazwischen.

»Aber das meine ich alles nicht. Ich will wissen, ob da auch Menschen in richtigen Häusern wohnen.«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe zumindest nie … aber warte mal …«

Karims Augen werden groß und erwartungsvoll. »Ja? Was?«

»Ich erinnere mich, dass ich einmal an einem Tor vorbeigekommen bin. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, wozu das um Himmels willen gut sein soll, wozu es wohl gehörte. Ich habe ein paar Mauerteile gesehen, dunkel und alt. Und dazwischen das wackelige Tor. Alles war von Efeu überwuchert. Es liegt ein bisschen geschützt zwischen ein paar Bäumen, mitten in so einer Ansammlung von dunklen Tannen, du weißt schon, wie es immer mal wieder so Wäldchen auf der Heide gibt.«

»Sollen wir mal einen Spaziergang dahin machen?«, schlägt Karim sofort vor. »Nächste Woche haben wir Herbstferien.«

Sein Vater blickt ihn erstaunt an. »Spazieren gehen? Du? Karim, hast du Fieber?« Er lacht.

Tief in Gedanken versunken wirft Lenne drei Zuckerstücke in ihren Becher und rührt lange um. Dann fällt ihr plötzlich etwas ein. »Wir sitzen an einer Hausarbeit für die Schule, Karim und ich. Über die Geschichte der Hexenheide. So ist sie früher genannt worden. Das ist natürlich Unsinn, aber es wäre schön, wenn wir was finden würden, ein Haus oder so.« Sie wechselt einen schnellen Blick mit Karim. So eine kleine Lüge, die muss doch erlaubt sein? »Oder die Überreste von einem Haus. Vor allem, wenn es schön unheimlich aussieht, können wir vielleicht davon noch ein Foto machen, das wir in die Arbeit einkleben!«

Karim trinkt einen Schluck von seiner Cola und sieht Lenne unter seinen Augenbrauen hervor amüsiert an. Junge, Junge, die kann aber auch lügen, dass sich die Balken biegen! »Ja, das würde bestimmt Spaß machen. Geht das, Papa, dass wir nächste Woche mal dahingehen?«