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Lenne und Karim sitzen wieder auf dem Zaun dicht beim Haus.

Lenne, die schon immer eine lebhafte Fantasie hatte, sieht eine wüste Horde auf ihrem Weg zur Müllerstochter über die Heide ziehen, bewaffnet mit Messern und Mistgabeln. Weit voraus ein Mann zu Pferd, Staubwolken wirbeln hinter ihm auf. Die Müllerstochter kann ihn schon von Weitem kommen sehen, sie hört das Trappeln der Hufe. Sie sieht die üble Meute, die ihm mit geballten Fäusten und wutverzerrten Gesichtern folgt. Oder hat sie nicht gesehen, wie er näher kam, und ist von dem jüngsten Sohn überfallen worden? Eine Tür, die aufgerissen wird, eine Gestalt, die ihr den Ausgang versperrt, ein tief gekränkter und nicht besonders liebenswürdiger Mann, der sich durch das Geschrei, das ihm folgt, sicher ist, Beifall zu bekommen, der weiß, dass er jetzt tun und lassen kann, was er will. Was ist ihr da wohl durch den Kopf gegangen?

Die Frau mit den weißen Haaren verändert sich vor Lennes Augen in eine Frau mit langen roten Locken. Eine Frau, die ahnungslos in einem Garten spazieren geht. Sie heißt Ermelinde. Sie trägt ein helles Kleid, das ihr bis auf die Füße reicht. Der tiefe Ausschnitt zeigt ihre bloße Haut, die mit fröhlichen Sommersprossen übersät ist. Die Spitzen an den Enden der langen Ärmel fallen ihr über die Hände, und sie zieht sich den Umhang aus braunem Samt enger um die Schultern. Es ist frisch, es ist noch Frühling, und der Garten ist voller kleiner weißer Frühlingsblumen. Die Frau bückt sich und pflückt ein Frühlingssträußchen. Als sie sich wieder aufrichtet, steht da nur wenige Meter von ihr entfernt eine Frau mit langen offenen Haaren, die ihre Hand nach ihr ausstreckt, ihr winkt, sie ruft. Lenne kennt den Blick, sie weiß, wie sich das anfühlt, von der Frau mit den weißen Haaren gerufen zu werden. Man kann sich nicht weigern, man will sich nicht weigern, man will mitgehen.

Lenne seufzt tief und etwas zitterig auf.

»Was ist los?«, fragt Karim.

»Ich glaub, ich weiß, was mit Rinnie passiert ist«, sagt Lenne einfach so.

»Was!«

»Karim … die Frau bei der Mühle … sie wollte, dass ich mit ihr gehe. Sie hat nicht gefragt, nicht mit ihrer Stimme, aber ihre Augen …«

Karim überläuft ein Schauder. »Sei doch nicht so gruselig!«

»Es hat sich angefühlt, als würde ich hypnotisiert. Wenn du mich nicht festgehalten hättest, dann wäre ich wie ein Schaf hinter ihr hergelaufen.«

»Du glaubst, dass sie Alberdine ist, oder?«

»Du nicht?« Lennes Blick ist hart: Erzähl mir bloß nicht, dass du findest, das alles sei Unsinn! Es ist zu viel. Zu viele eigenartige Ereignisse hintereinander.

Karim macht den Mund auf – und schließt ihn dann wieder.

»Du hast Angst gehabt«, sagt sie. »Du wolltest so schnell wie möglich da weg.«

»Lenne … gestern … gestern war ich allein auf der Hei…«

»Was? Bist du denn verrückt geworden?«

»Ja, nein, hör mal, das ist durch eine Panne gekommen«, stammelt Karim und erzählt ihr die Geschichte mit dem platten Reifen, seiner einsamen Fahrt mit dem Rad und von dem Licht, das er gesehen hat. »Das ist doch komisch! Jemand mit einer Lampe mitten auf der Heide! Und ich hab im Schatten von dem Busch gesessen, und kein normaler Mensch hätte mich sehen können, aber ich hatte das Gefühl, dass mich jemand sieht. Und ich hab die Lampe näher kommen sehen, auf mich zukommen. Ich bin wie ein Verrückter weggefahren, so schnell ich nur konnte. Mensch, du hättest meine Mutter hören sollen, als mein Vater etwas später nach Hause gekommen ist! Das gab ein Donnerwetter!« Karim sieht Lennes empörten Blick. »Nein, nein, ich hab ihnen nichts erzählt von … na ja, Hexen oder so, auch nichts von seltsamen Lampen. Meine Mutter fand es schon schlimm genug, dass mich mein Vater alleine über die Heide hat fahren lassen!«

Lenne muss die Geschichte erst mal einen Augenblick verdauen. »Hast du geglaubt, dass sie es war?«, fragt sie schließlich. »Die weißhaarige Frau?«

»Sie hat mich überhaupt nicht freundlich angeguckt, da bei der Mühle!«

»Nein, aber wenn das Alberdine ist …« Lenne lacht bitter. »Dann hat sie keine so guten Erfahrungen mit Männern.«

»Hallo!«, ruft Karim beleidigt. »Ich bin elf! Noch bin ich nur ein Junge und kein Mann.«

»Ja, aber trotzdem.« Lenne grübelt eine Weile vor sich hin. »Aber eigentlich ist das komisch … wenn du als Hexe Männer nicht ausstehen kannst, würdest du dann nicht lieber Jungen statt Mädchen opfern?«

Karim verzieht angewidert das Gesicht.

»Das hat Herr Paul doch erzählt, dass Hexen beim Hexensabbat Kinder opfern, oder?«

»Er hat erzählt, dass die Menschen das früher geglaubt haben«, ruft Karim ihr in Erinnerung. »Glaubst du, dass sie das wirklich tun?«

»Was weiß ich. Woher soll ich denn wissen, was eine Hexe will?«

»Also du glaubst, dass Rinnie …« Karim verschluckt sich. Es graust ihn. »Verdammt!«

Lenne antwortet nicht.

»Wie, hm … wie machen sie das dann, was glaubst du?«, fragt Karim. »Wie bringen sie die dann um?«

»Mit einem Messer«, antwortet Lenne prompt. »Mit einem silbernen Messer mit verziertem Griff, auf dem Schnörkel und Zeichen sind, mit einem großen roten Rubin in der Mitte.«

Karims Augenbrauen schnellen hoch.

»Oh … ich … ich hab auf einmal so ein Bild vor mir gehabt«, sagt Lenne und wirkt selbst auch einigermaßen verwundert. »Wahrscheinlich hab ich das mal in einem Buch gesehen oder so, ich weiß es nicht.«

»Oder mit Gift«, überlegt Karim. Die Vorstellung von dem unheimlichen Messer gefällt ihm gar nicht. »Das ist viel sanfter.«

»Wer hat denn gesagt, dass Hexen sanft sein müssen?«

»Ja, und was ist dann mit Ermelinde?«, gibt Karim zu bedenken. »Die Frau mit dem kleinen Hund. Wir haben sie alle beide auf dem Bild erkannt. Gehen wir mal davon aus, dass sie ein und dieselbe Person ist, ohne gleich wieder zu sagen, dass das nicht sein kann. Wenn Alberdine sie entführt hat, warum hat sie sie dann nicht auch geopfert? Und das hat sie offensichtlich nicht, denn sonst hätten wir sie hier nicht vorbeigehen sehen.« Karim schneidet eine Grimasse. »Sie ist jetzt schon vierhundert Jahre alt … und mir kommt sie nicht so schrecklich, hm … tot vor.«

»Vielleicht war sie nicht jung genug, als Alberdine sie entführt hat. Sie war immerhin kein Kind mehr, sie sollte heiraten.«

»Was hat Alberdine dann mit ihr gemacht? Sie einfach nur verzaubert?«

»Vielleicht hat sie Gesellschaft gebraucht.«

»Ewig währende Gesellschaft«, murmelt Karim. »Vierhundert Jahre lang.« Er rutscht auf dem Zaun hin und her. »Hör mal … aber dann die Frau im Wasser? Das Gesicht, das du gesehen hast? Wer soll das dann gewesen sein?«

Lenne zuckt mit den Schultern. »Vielleicht entführt Alberdine regelmäßig Kinder, um sie zu opfern, aber manchmal entführt sie aus Versehen eines, das zu alt ist.«

»Aus Versehen? Oder absichtlich. Zur Gesellschaft.« Karim runzelt die Stirn. »Ob Frau Hendriks das nicht auch für uns raussuchen kann, also, ob es da noch mehr gegeben hat, die verschwunden sind?«

»Puh!«, stößt Lenne aus. »Über die Zeit von vierhundert Jahren? In so vielen Jahren werden wohl sehr viele verschwunden sein.«

Karim fasst Lennes Hand. »Aber Lenne …« Er merkt selbst, wie er rot wird. »Du passt doch gut auf, dass du nicht die Nächste bist, ja?«

»Ich nehme mich schon in Acht! Ich werde nicht zum Opferlamm!«

»Du bist elf?«

Lenne nickt. »Beinahe zwölf. Nächsten Monat.«

»Dann bist du sicher noch jung genug.«

»Arg!« Lenne gibt ein würgendes Geräusch von sich, schwingt ihre Beine über den Zaun und springt schnell auf der sicheren Seite auf den Boden. Sie geht zur Straße, um sie zu überqueren. Brav guckt sie nach rechts und dann nach links, wie man es macht, um zu sehen, ob ein Auto kommt. Doch insgeheim sucht sie nach etwas Lockigem, Kupferrotem. War nicht der Grund, weshalb sie sich hier auf den Zaun gesetzt haben, der Frau mit dem kleinen Hund noch einmal zu begegnen? Sie ist nicht gekommen.

»Was denkst du, warum die Frau hier war«, fragt Karim, als könne er Lennes Gedanken lesen, »beim letzten Mal?«

Nachdenklich überquert Lenne die Straße.

Ein Radfahrer schlängelt sich gerade noch um sie herum. »He, kannst du nicht aufpassen?«

Erst auf der gegenüberliegenden Seite beantwortet Lenne Karims Frage. Den Radfahrer scheint sie gar nicht bemerkt zu haben. »Ich glaub … um mich zu warnen.«

»Zu warnen wovor? Vor der weißen Hexe?«

»Oder vor der anderen, der aus dem Wasser. Die Frau mit dem kleinen Hund – sollen wir sie nicht einfach Ermelinde nennen? – wollte nicht, dass ich auf die Heide gehe. Sie hat gesagt, und das ziemlich eindringlich, dass wir nach Hause gehen sollen. Vielleicht will sie nicht, dass mir das passiert, was anderen passiert ist.«

Schweigend gehen sie zu Lennes Haus.

»Kommst du noch mit rein?«, fragt Lenne Karim, als sie am Gartenzaun stehen.

»Oh …« Karim ist erstaunt. Er war automatisch davon ausgegangen, dass sie zusammen noch was Schönes machen. »Ich hab gedacht, dass wir vielleicht das Atlantisspiel weiterspielen.«

»Hm … ja … warum nicht«, murmelt Lenne gleichgültig.

Sie hat den Kopf mit anderen Dingen voll, begreift Karim. Ein Computerspiel ist verglichen damit alberner Kinderkram. Trotzdem folgt er ihr ins Haus. Er glaubt schon zu verstehen, was in ihr vorgeht: Es muss einem schreckliche Angst machen, wenn Hexen um einen herumgeistern, und er erinnert sich an seine eigene Angst bei seiner gestrigen Fahrradfahrt. Er sollte Lenne trösten und ihr sagen, dass alles gut wird. Doch er weiß, dass diese Worte die Sache nicht so richtig treffen.

Marit sitzt am Küchentisch. Sie hat ein großes Messer in der Hand, und vor ihr liegt ein orangefarbener Riesenkürbis inmitten kleiner Klumpen von etwas hellerer Farbe. Sie sieht irgendwie erhitzt aus.

»Was machst du denn da?«, will Lenne wissen.

»Ich versuche, hier ein Gesicht reinzuschneiden, du weißt schon, in einen ausgehöhlten Kürbis.«

»Warum?«

»Das finde ich schön, wenn man den mit einer Kerze darin draußen neben die Haustür stellt. Das passt so richtig zu dieser Jahreszeit.«

Karim zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich. Das Kinn in die Hände und die Ellbogen auf den Tisch gestützt, schaut er eine Weile interessiert zu. »Der sieht ja ziemlich böse aus«, stellt er dann fest.

»Das muss auch so sein«, meint Marit. Sie betrachtet den grimmig eingekerbten Mund, den sie gerade ausgeschnitten hat.

»Bald traut sich niemand mehr zu unserer Haustür rein.« Lenne grinst. Sie holt eine Flasche Limonade aus dem Kühlschrank, um sich und Karim etwas einzugießen. »Ist vielleicht auch besser so«, hört sie Karim murmeln. Mit einem Ruck dreht sie sich zu ihm um.

Karim fängt ihren beunruhigten Blick auf und schämt sich sofort zutiefst. Da sitzt er hier und macht ihr nur noch mehr Angst, als sie schon hat! Und dabei ist er doch gerade mit dem Vorsatz hergekommen, sie wieder etwas fröhlicher zu stimmen.

Marit, die konzentriert mit einem hinterhältigen Schlitzauge ringt, hat mitbekommen, was sie gesagt haben. Und dann erklärt sie in aller Seelenruhe: »Im Gegenteil. Die ausgehöhlten Kürbisse mit einer Kerze darin, die man vor die Haustür stellt, waren ursprünglich dafür gedacht, liebe Verstorbene einzuladen. Habt ihr das gewusst? Solche Traditionen gibt es in einigen Ländern: Halloween, Allerseelen, Allerheiligen. In Mexiko feiern sie Allerseelen. Dann werden alle Toten dazu eingeladen, die Lebenden zu besuchen. Halloween ist ein Fest, das noch von den Kelten stammt. Man feiert es im Herbst, wenn die Tage kürzer und die Nächte länger werden. Der Winter war für die Menschen früher nicht die beste Zeit: wenig zu essen, kalte Nächte. Vielleicht hatten sie auch noch keine Erklärung für die Tatsache, dass die Sonne nur noch so wenig scheinen wollte, und im Dunkeln war es nicht so angenehm, denn dann haben die bösen Mächte freies Spiel. Da kommen die Geister und Hexen und andere grauenvolle Gestalten aus allen Ecken und Winkeln gekrochen.«

Lenne fällt die Limonadenflasche beinahe aus den Händen. »Wa-wann ist das? Die Feste, wann äh … muss dieser Unfug gefeiert werden?«

»Halloween ist am 31. Oktober«, antwortet Marit, während sie in aller Ruhe mit Schneiden und Schnitzen weitermacht. »Allerseelen und Allerheiligen sind am 1. und 2. November. Ich darf das eigentlich noch nicht verraten, aber – ihr wisst ja, dass ich im Elternbeirat von eurer Schule bin – wir haben neulich bei einer Sitzung überlegt, ein großes Fest zu veranstalten. Ein Gruselfest mit Verkleidung. Das gefällt euch doch sicher?« Begeistert blickt sie Lenne und Karim an. »Dieses Jahr fällt der 31. Oktober auf einen Freitag, das ist gut, denn dann könnt ihr am nächsten Tag schön ausschlafen. So ein Gruselfest muss natürlich abends stattfinden, wenn es dunkel ist.«

»Und müssen wir uns dann verkleiden?«, fragt Karim mit gerümpfter Nase. »Ist das nicht mehr was für die ganz Kleinen?«

»Nein, Karim, doch nicht, wenn alle anderen als Gespenst oder Monster oder Hexe gehen! Richtig schön unheimlich!«, sagt Marit.

»Also, äh …« Lenne räuspert sich und schluckt. Dann wirft sie schnell einen Blick auf den Kalender, der an der Wand hängt, und unternimmt den Versuch, fröhlich zu lächeln, als sie sagt: »Dann muss ich mich ja beeilen, mein Hexenkostüm zusammenzubasteln.«

 

Karim stapft hinter Lenne die Treppe nach oben. Sie hatten da unten am Küchentisch nur einen schnellen Blick wechseln müssen, um sich zu verständigen, dass sie über das hier zu zweit reden müssten, ohne dass Lennes Mutter ihre Nase dazwischen hat.

»Meine Güte, ist das kalt hier!« Lenne fröstelt, als sie in ihr Zimmer kommen. »Oh, kein Wunder, das Fenster ist ja auch auf.«

»Mach mal schnell zu.« Karim nickt und reibt sich fröstelnd über die Arme.

»Das macht meine Mutter morgens immer auf, um die Bude zu lüften. Aber sie vergisst fast immer, es nach einer Stunde oder so wieder zuzumachen. Ich hab schon so oft zu ihr gesagt, dass …«

Karim hat sich auf Lennes Schreibtischstuhl plumpsen lassen. Er nimmt ein Heft in die Hand, um es sich anzusehen. Es dauert ein bisschen, bis ihm auffällt, dass sie sich mitten im Satz unterbrochen hat. »Was ist denn? Was hast du da?«

Lenne hat etwas von der Fensterbank genommen. Sie dreht sich zu Karim um, den Gegenstand auf ihrer ausgestreckten Hand.

»Eine Murmel?«, fragt Karim. »Oje, hast du die immer noch? Ich hab meine schon lange nicht mehr. Ich hab sie an … Was ist denn jetzt?« Lenne macht so ein komisches Gesicht. Was ist denn so Seltsames an Murmeln? Karim steht auf und kommt näher. »Die ist aber groß! Die ist echt schön, hör mal. Kein Wunder, dass du die aufgehoben hast.«

»Ich hab überhaupt nichts aufgehoben«, flüstert Lenne. Sie starrt die grüne gläserne Kugel auf ihrer Handfläche an. Sie ist viel größer als alle Murmeln, die sie früher jemals besessen hat. Sie ist so groß wie ein Tischtennisball, und sie ist schwer, viel schwerer, als man erwarten würde. »Die ist nicht von mir. Ich hab sie noch nie vorher gesehen.«

»Ein Geschenk von deiner Mutter?«, überlegt Karim. »Das ist auch keine richtige Murmel, glaube ich. Vielleicht soll sie einfach was Schönes sein, um sie irgendwo hinzulegen.« Er streckt seine Hand danach aus. »Darf ich mal?«

»Nein!«, entfährt es Lenne wie ein schriller Schrei. Sie schließt die Finger um die Glaskugel und drückt sie in einer schützenden Bewegung fest an sich.

Karim sieht sie fassungslos an, und Lenne guckt genauso fassungslos zurück. Was hat sie dazu getrieben?

»Warum denn nicht?«

»Ich darf sie doch wohl kurz mal anschauen?«

»Ich weiß es nicht.« Lennes Augen sind groß und verwirrt. »Nein«, sagt sie noch einmal.

Das offene Fenster, denkt Karim. Er geht hin und schaut hinaus. Im Garten ist nichts Besonderes zu sehen. Die Apfelbäume wiegen ihre kahlen Zweige im Wind, ein einsamer Eimer rollt träge hin und her. Ein hölzerner Blumenkasten, aus dem sich im letzten Sommer orange blühende Kletterpflanzen nach oben gerankt haben, steht jetzt voll Wasser. Die Wasseroberfläche kräuselt sich unter einem Windstoß. Im Sommer findet Karim den Garten immer schön. Lennes Eltern haben nie viel daran machen wollen, und so ist er unverändert geblieben und noch voller lustiger alter Dinge. Eine schwarze Pumpe, aus der schon lange kein Wasser mehr kommt, eine krumme Leiter, die völlig überwuchert ist und früher sicher gebraucht wurde, um die Äpfel zu pflücken. Es gibt einen kleinen gepflasterten Platz voller Risse und Sprünge, aus denen Moos wächst, und der ganze Garten ist von einer grauen, bröckeligen Trockenmauer umgeben, die noch nie eine Kelle voll Mörtel gesehen hat. Jetzt im Herbst hat der Garten etwas Trauriges. Karim denkt unwillkürlich an das, was Lennes Mutter gesagt hat: die Tage kürzer und die Nächte länger, Kälte und Dunkelheit, nicht die beste Zeit.

Er dreht sich zu Lenne um, die noch immer mitten im Zimmer steht und die Glaskugel an ihre Brust gedrückt hält, als ob sie ihr liebster Besitz wäre. »Die ist hier hingelegt worden«, sagt er mit gedämpfter Stimme, »Von jemandem …« Er deutet nach draußen. Er weiß es plötzlich ganz sicher. Lennes Zimmer liegt im ersten Stock, und das Fenster befindet sich einige Meter über dem Boden. Die einzige Leiter in der Nähe ist das alte Ding, das von Efeu überwuchert im welkenden Gras liegt. Wer sollte also von außen an Lennes Fensterbrett kommen können? An der Murmel ist etwas sehr Unheimliches, Lennes Verhalten ist nicht normal, so benimmt sie sich sonst nicht. Karim hat bei Lenne noch nie eine so ungesunde Habgier erlebt, sie hatte noch nie Probleme mit dem Teilen gehabt. Aber jetzt umklammert sie den Glasgegenstand wie ein besitzergreifendes kleines Kind, mit einem Gesicht, als würde sie ihn sofort anspringen, sobald er auch nur den geringsten Versuch unternehmen würde, ihn ihr abzuluchsen. Karim hat keine jüngeren Brüder oder Schwestern – er ist ein Einzelkind genau wie Lenne –, aber er erinnert sich auf einmal an die kleinen Neffen von Lenne, die im letzten Sommer zu Besuch waren und sich um jedes Spielzeug gestritten haben. Man brauchte ihnen nur ein Spielzeugauto zu zeigen, und schon fingen sie an zu schreien: »Das ist meins! Das ist meins!« Dasselbe kann man jetzt auch in Lennes Augen erkennen. Und das beunruhigt Karim. Das beunruhigt ihn mehr als alle Gruselfeste zusammen. »Lenne?« Ganz vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, streckt Karim eine Hand in ihre Richtung aus. Es würde ihn nicht verwundern, wenn sie gleich anfinge, zu fauchen wie eine Wildkatze.

Lenne geht einen Schritt zurück.

»Ich fasse sie nicht an«, sagt Karim beschwichtigend. »Ich will sie nur mal angucken, in Ordnung?« Er sieht an Lennes Bewegungen, dass sie sich wirklich bemüht, ihren Verstand zu gebrauchen, um einfach ihre Hände zu öffnen und ihm zu zeigen, was sie da hat. Sie beißt sich auf die Lippen und zwinkert wütend mit den Augenlidern. Langsam kommt Karim noch etwas näher. »Sieh mal, du kannst sie doch weiter festhalten, ich lege meine Hände auf den Rücken, und ich fummele an nichts rum. Lass mich einfach nur mal gucken.«

Zögernd öffnet Lenne ihre Hände.

Karim bleibt stehen, wo er ist. Er sieht nichts Eigenartiges an der Kugel, außer dass sie einfach irgendwie besonders ist. Was macht man damit? Für eine Murmel ist sie zu groß. Sie ist zu schwer und zu empfindlich, um damit Ball zu spielen. Sie besteht aus leuchtend grünem Glas. »Halt sie doch einmal gegen das Licht«, schlägt er Lenne vor. Behutsam schiebt er sich um Lenne herum. »Nein, ich mache nichts, ich will mich nur hinter dich stellen, um einmal durch die Kugel zu gucken.«

Die Glaskugel fängt einen Sonnenstrahl ein, der durch das Fenster hereinfällt. Sofort werden nach allen Seiten grüne Lichter reflektiert. Das ist seltsam, denkt Karim. Er würde es verstehen, wenn die Kugel geschliffen wäre wie ein Diamant. Doch wie kann so eine glatte runde Form den Lichtstrahl auf diese Art brechen und in alle Richtungen reflektieren? Grüne Strahlen tanzen durch Lennes Zimmer und werfen an alle Wände zuckende Lichtflecke. Nervös schließt Lenne ihre Hände schnell wieder um die Kugel. Sie macht ein abweisendes Gesicht, als sie dann sagt: »Ich denke, dass du jetzt wieder gehen musst.«

»Du willst, dass ich gehe?« Karim bleibt der Mund offen stehen. »Aber wir wollten doch … Ich hab gedacht, dass wir noch …«

Lenne lässt sich auf ihr Bett fallen und kriecht nach hinten, bis sie mit angezogenen Beinen in der Ecke sitzt, die Glaskugel in ihren geschlossenen Händen. »Ich will, dass du gehst.«

Karim will noch etwas sagen, weiß aber nicht, was. Er betrachtet die seltsame Szene. Das ist nicht gut. Das ist überhaupt nicht gut! Hier passiert etwas ganz Unheimliches. Ihm wird klar, dass es keinen Sinn hat, noch irgendetwas zu Lenne zu sagen. Er dreht sich um, geht aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu.

In der Küche blickt Marit verwundert auf, als er an ihr vorbeikommt. »He …«

Karim geht weiter.

»Karim, habt ihr Streit oder so was?«

»Weiß-nich«, nuschelt Karim. »Lenne …« Nein, er kann es Marit nicht erzählen. »Lenne hat eine Stinklaune«, lügt er ein bisschen. Dann zuckt er die Achseln und geht aus der Küche.

Im Vorgarten bleibt er stehen. Unschlüssig blickt er zurück Richtung Küchenfenster. Ob Marit ihn sehen kann? Nein, wahrscheinlich nicht.

Er schleicht dicht an der Mauer nach hinten in den Garten. Unter Lennes Fenster bleibt er stehen. Das Fenster steht immer noch auf, doch Lenne sitzt ohne Zweifel mit ihrer eifersüchtig bewachten Kugel auf dem Bett. Karim bückt sich und betrachtet den Boden unter dem Fenster. Ist hier jemand langgegangen? Es wäre möglich, doch in den Laubhaufen ist nichts davon zu erkennen.

An Lennes Fenster vorbei verläuft ein Regenrohr vom Dach bis auf den Boden. Ist die Glaskugel vielleicht auf die Fensterbank gekommen, indem jemand an dem Regenrohr hochgeklettert ist? Die einzige andere Möglichkeit wäre die, dass es jemand war, der … fliegen kann.

Karim geht zu der alten Holzleiter hinten im Garten. Nein, die ist seit Jahren nicht von der Stelle bewegt worden. Er geht weiter bis zu der niedrigen Mauer und setzt sich mit dem Rücken zum Haus darauf. Die Aussicht von hier ist ganz anders als von dem Zaun, auf dem sie am Nachmittag noch gesessen haben, auf der anderen Straßenseite. Hier gibt es nicht die endlosen Heideflächen, die Sicht auf dieser Seite wird von einem dunklen Tannenwald begrenzt. Das ist nicht die Hexenheide. Nicht dass das etwas ausmachen würde, denkt Karim. Hexen können auch laufen, das hat er selbst gesehen. Und wenn sie nicht laufen, dann fliegen sie wahrscheinlich. »Sie können von allen Seiten kommen«, flüstert er ganz leise.