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Herr Paul ist noch immer nicht auf die Geschichte von der Hexenheide zurückgekommen, obwohl er das doch versprochen hatte. Am Ende der Woche kann es Karim nicht länger aushalten. Am Freitagnachmittag um Viertel vor drei meldet er sich und fragt nach, denn gleich beginnt das Wochenende, und er ist immer noch nicht schlauer.

»Oh, ja.« Der Lehrer nickt. »Das hab ich schon wieder vergessen. Ja, ich war in der Bücherei, und Frau Hendriks hat mit versprochen, das eine oder andere rauszusuchen. Ich habe ihr gesagt, dass es für Geschichte wäre, und da wird sie sich Mühe geben.«

»Also wissen Sie immer noch nichts?«, fragt Karim enttäuscht.

»Geduld, mein Junge, Geduld. Das kommt noch. Warum bist du eigentlich so interessiert daran? Findest du das mit den Hexen so spannend? Erwarte nicht zu viel davon, die Geschichte unterscheidet sich wahrscheinlich in nichts von allen anderen schönen Märchen, die es über Hexen gibt.« Herr Paul verzieht fröhlich das Gesicht.

Karims Gesicht hingegen verfinstert sich. »Das weiß ich auch!«, antwortet er ein bisschen beleidigt.

Der Lehrer macht eine besänftigende Handbewegung. »Ich habe Frau Hendriks extra gefragt, ob sie etwas über die Alberdine heraussuchen kann, von der wir gesprochen hatten. Sie konnte mir zumindest die Auskunft geben, dass in jedem Fall irgendwann eine Frau mit diesem Namen aus dem Dorf verjagt worden ist. Tatsächlich wegen Hexerei. Wahrscheinlich hatte es jemand auf ihr Land abgesehen oder ihr Haus oder ihre Besitztümer. Ihr gehörte ohne Zweifel etwas, was jemand anderes haben wollte, oder aber sie hatte ein paar Eigenschaften, die die Leute nicht so besonders mochten. Ein paar Verdächtigungen, und man sah besser zu, dass man wegkam, bevor man sich auf dem Scheiterhaufen wiederfand.«

»Hatte sie weiße Haare?«, platzt es aus Karim heraus.

Herr Paul hebt die Augenbrauen.

»Na ja … weil … Sie haben doch gesagt, dass ihr Name etwas mit weiß bedeutet, oder?«

»Ich weiß nicht, ob sie dergleichen Banalitäten in den Annalen verzeichnet haben, Karim.«

»Hä?«

»Ich glaube nicht, dass auch aufgeschrieben ist, welche Farbe ihre Haare hatten.« Der Lehrer lächelt. »Vielleicht kann ich dir am Montag ein bisschen mehr erzählen.«

 

Karim sitzt bei Lenne am Küchentisch. Lennes Mutter ist noch nicht zu Hause, und ihr Vater sitzt wie immer oben vor seinem Computer. Lenne und Karim trinken jeder ein großes Glas Cola. Die Keksdose haben sie schon fast zur Hälfte leer gefuttert.

»Glaubst du, dass wir über diese Alberdine noch mehr zu hören kriegen?«, fragt Karim.

Lenne knabbert bedächtig an ihrem Keks. »Du denkst an die Frau, die an der Mühle war, oder?«

Karim wischt ein paar Krümel vom Tisch. Er schweigt.

»Wie soll das denn gehen, du Dummkopf. Die Geschichte handelt von etwas, das vor Hunderten von Jahren passiert ist«, sagt Lenne, doch ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen, als ob sie sich da nicht mehr so sicher wäre.

»Im einen Moment war sie da, im nächsten verschwunden«, erinnert Karim sie. »Viel zu schnell für einen normalen Menschen.«

Lennes Stimme wird noch leiser. »Glaubst du, dass es Hexen gibt?«

»Echte Hexen, meinst du? Mit Besenstiel und so?«, versucht Karim zu witzeln.

Lenne schüttelt den Kopf.

Karim nimmt sich noch einen Keks aus der Dose. »Lenne … was ist deine Lieblingsfarbe?«

Lenne macht ein verwundertes Gesicht. »Gelb«, sagt sie dann.

»Und du magst Blumen?«

»Na ja, geht so. Warum fragst du das?«

Karim kaut ein Weilchen auf seiner Unterlippe. »Glaubst du, dass die Frau etwas von dir gewollt hat?«

Lenne rutscht sich ein wenig auf ihrem Stuhl zurück und zieht die Schultern abwehrend hoch.

Karim holt tief Luft. »Du wolltest doch mit ihr mitgehen.«

»Natürlich. Ich war neugierig. Du doch auch, oder?«

»Ich wollte einfach nur so schnell wie möglich von ihr weg!«, hält Karim entgegen. »Du nicht.« Er zögert etwas, weil er nicht die richtigen Worte für das findet, was er sagen will. »Es hat so gewirkt, als wärst du am liebsten sofort mit ihr mitgegangen, wenn ich nicht da gewesen wäre und deine Hand festgehalten hätte.«

Lennes Augen verfinsterten sich. »Ich geh wirklich nicht so mir nichts dir nichts mit einer wildfremden alten Frau mit!«

»Sie war nicht alt«, murmelt Karim. »Hast du ihr Gesicht gesehen? Keine Runzeln, nur die Narbe.« Er schluckt seinen letzten Bissen Keks runter. Ein bisschen davon bleibt ihm in der Kehle stecken. Er hustet und spricht mit rauer Stimme weiter: »Als hätte sie irgendwann einmal kämpfen müssen oder so.«

»Um sich zu verteidigen?«

»Um flüchten zu können.«

»Weil sie verfolgt wurde …«

»Weil sie für eine Hexe gehalten wurde.« Karims Worte und die von Lenne ergänzen sich mühelos. Offenbar haben sie schon die ganze Zeit dieselben Gedanken gehabt.

Mit einer ungeduldigen Bewegung greift Lenne zu der Flasche Cola auf dem Tisch und gießt sich ihr Glas noch einmal voll. »Lächerlich! Solche Dinge gibt es nicht. Karim, man muss uns doch nur mal zuhören, meine ich. Worüber reden wir denn jetzt eigentlich?«

»Über gar nichts«, stimmt Karim sofort zu. »Unsinn. Quatsch. Gelaber. Wer hat damit angefangen?«

»Du.«

»Oh …«

»Wollen wir an den Computer gehen?«

»Ist wahrscheinlich besser.«

Aber es scheint unmöglich, nicht mehr an die weißhaarige Frau und an Hexen auf der Heide zu denken, trotz des spannenden Computerspiels.

»Weißt du«, fängt Karim nach einer Weile wieder an, »ich muss dauernd an Jorinde denken.« Er schiebt die Maus weg. Das Männchen auf dem Bildschirm fällt wimmernd auf den Boden. Tot!

»Hast du gespeichert?«, fragt Lenne.

»Ja, gerade noch.«

Lenne nimmt die Maus und klickt zu dem Augenblick zurück, in dem Karims Männchen noch aufrecht stand.

Doch Karim verschränkt die Arme und lehnt sich zurück. Er traut sich nicht so recht, Lenne anzusehen, als er sagt: »Alle denken, dass Jorinde von irgend so einem gemeinen alten Kerl mitgenommen worden ist. Stimmt’s? Das denken die Leute doch immer, wenn jemand auf diese Art verschwindet.«

Lenne rümpft die Nase und sieht ihn mit einem unangenehmen Gesichtsausdruck an.

»Aber vielleicht … vielleicht ist sie irgendwo … ich meine, die Frau mit den weißen Haaren, die ist mir so vorgekommen, als ob sie dich auch …« Er bringt die Worte nicht raus.

Lenne wedelt mit den Händen. »Komm schon, spiel jetzt weiter.« Es scheint, als ob sie darüber nicht weiter reden wolle.

»Sie war so schrecklich unheimlich!«, bleibt Karim bei der Sache.

»Aber nein, sie war überhaupt nicht unheimlich. Sie hat ein sehr freundliches Gesicht gehabt.«

»Freundlich! Nennst du das freundlich? Sie hat geguckt, als könne sie mich erwürgen!«

»Ja, dich vielleicht, aber mich nicht.«

Patsch! Karim schlägt die Faust in die offene Hand. »Genau das meine ich doch!«

Lenne schiebt ihren Stuhl zurück, und die Stuhlbeine kratzen quietschend über den Holzboden. »Na gut, dann spielen wir nicht weiter. Lass uns was anderes machen. Wollen wir rausgehen?«

 

»Wir gehen nicht über die Heide!« Karims Stimme überschlägt sich. »Lenne! Nicht! Komm jetzt, los! Nicht hier entlang!«

Lenne rennt lachend vor ihm her. Sie wirft einen Blick über die Schulter zurück und streckt ihm die Zunge raus.

»Lenne! Bleib doch stehen!«

Sie rennt auf den Holzzaun zu und klettert darüber.

Karim stürzt sich auf den Zaun, greift zu und erwischt gerade noch Lennes Kapuze. »Bleib hier!«

Lachend lässt sich Lenne gegen den Zaun fallen. »Mein Gott, hast du eine Angst, was? Schisser! Weichei!« Als sie sich ausgelacht hat, klettert sie auf den Zaun. Mit baumelnden Beinen bleibt sie da sitzen, und als sie Karim von der Seite ansieht, zuckt das Grinsen noch immer um ihren Mund.

Karim klettert neben sie. Es fällt ihm schwer, mitzugrinsen, eine Art Lächeln hängt wie eine säuerliche Grimasse um seine Mundwinkel.

Mit dem Rücken zur Straße blicken sie gemeinsam über die Heide vor ihnen.

Es geht ein starker Wind, und alle Bäume biegen sich nach links, ihre Äste zeigen wie tastende Arme in dieselbe Richtung.

»Da ist doch nichts Unheimliches, oder?«, fragt Lenne und deutet mit dem Kopf in Richtung Heide.

»Aber auch nichts Gemütliches«, brummt Karim. »Selbst wenn du nicht an Hexen glaubst. Die peitschenden Äste und der graue Himmel …«

»Da ist er rot.« Lenne zeigt dahin, wo der Himmel sich verfärbt. »Ist das schön!«

Schweigend sitzen sie noch eine Weile nebeneinander, bis das Geräusch von näher kommenden Schritten die Stille durchbricht.

Karim springt sofort vom Zaun und dreht sich gehetzt zur Straße um. Wer ist da? Mehr oder weniger hatte er die Frau mit den weißen Haaren erwartet.

Doch sie ist es nicht. Es ist zwar eine Frau mit langen Haaren, jedoch von roter Farbe und lockiger Struktur. Erleichtert stößt Karim den Atem aus. Sie ist einfach eine Frau, die ihren kleinen Hund ausführt. Karim beugt sich über den Zaun, um ihn zu streicheln.

»Sagt mal, Kinder«, fragt die Frau, »ihr hattet doch nicht etwa vor, auf der Heide zu spielen, oder?« Sie sieht sie besorgt an.

»Aber nein«, antwortet Lenne und schneidet Karim eine Grimasse. »Das würden wir uns nicht trauen.«

»Dann ist ja gut.« Die Frau nickt. Sie streicht sich mit einer etwas fahrigen Bewegung eine Locke weg, die vor ihren Augen hängt.

Karim bemerkt, dass ihre Augen grün sind, aber überhaupt nicht widerwärtig, sie gleichen in keinster Weise den unheimlichen Augen, die er neulich abends von seinem Fenster aus gesehen hatte. Sie haben die Farbe von Weinflaschen, dunkel und doch auf eine merkwürdige Art hell, als ob man, wenn man sie gegen das Licht halten würde, hindurchsehen könnte.

»Wie heißt Ihr Hund?«, fragt Lenne.

»Kira.« Der kleine Hund spitzt die Ohren, als er seinen Namen hört.

»Hübsch, so ein rabenschwarzes Hundemädchen«, meint Karim. »Nur kann man ihre Augen fast nicht sehen.«

Die Frau blickt nervös zum Himmel. »Es ist schon fast dunkel. Müsst ihr nicht allmählich mal nach Hause gehen?«

Lenne runzelt die Stirn. Was mischt sich diese Frau denn da ein!

»Na … ich will hier ja nicht rummeckern, aber … ich fände es doch schöner, wenn ihr auf der anderen Seite vom Zaun spielen würdet.«

Karim und Lenne sehen sich an und kichern ein bisschen. Was für eine komische Person!

»Es ist nicht sicher auf der Heide«, sagt die Frau dann scharf.

Karim macht Anstalten, brav über den Zaun auf die andere Seite zu klettern.

»Weil es da spukt?«, fragt Lenne spöttisch. Sie schiebt ihre Hände tief in die Jackentaschen und bleibt da stehen, wo sie gerade steht.

»Ach … nein.« Die Frau lächelt und schüttelt ihre roten Locken nach hinten. »Davor, dass es hier spukt, braucht ihr keine Angst zu haben.«

»Wovor denn dann?«, bohrt Lenne weiter. »Vor Hexen vielleicht?«

Die junge Frau bekommt große Augen. Ihre rosigen Wangen scheinen eine Spur dunkler zu werden.

»Lenne, motz hier nicht so rum«, sagt Karim leise. »Komm jetzt hinter dem Zaun weg. Außerdem wird mir kalt, ich will nach Hause.«

»Vor Hexen«, wiederholt die Frau mit einem Hüsteln.

Karim neigt den Kopf ein bisschen zur Seite. Er hört kein Fragezeichen. Vielleicht sollte er noch ein bisschen warten. Vor Hexen? Das könnte man gut sagen, um dann etwa fortzufahren mit: Hexen gibt es doch gar nicht! Aber die Worte der Frau klingen mehr wie eine Bestätigung als eine Frage.

Die grünen Augen der Frau blicken an Karim und Lenne vorbei auf einen Punkt irgendwo in der Ferne. »Bitte«, sagt sie dann weich. »Tut mir den Gefallen, und geht jetzt irgendwo anders hin.«

Ein heftiger Windstoß pfeift durch die Bäume auf der Heide. Die Frau wendet sich hastig ab, und ohne jeden Abschiedsgruß geht sie mit kleinen schnellen Schritten davon.

Eine Weile sehen Lenne und Karim ihr noch hinterher.

»Na, sag mal!«, murmelt Lenne, als die Frau dann an die Stelle der Straße kommt, wo sie eine scharfe Kurve nach links macht.

Kurz bevor sie außer Sicht gerät, sieht Karim, wie sie die Leine des Hundes losmacht. Damit er endlich frei rumlaufen kann, vermutet Karim, als er plötzlich etwas nach oben flattern sieht. Karim bleibt der Mund offen stehen, und er hört, wie Lenne neben ihm scharf einatmet.

»Was war das denn?«

Lenne wackelt mit dem Kopf hin und her, als könne sie nicht glauben, was sie eben gesehen hat. Dann lacht sie laut auf. »Das war aber auch ein Zufall. Der Hund rennt in das Gebüsch rein, und die Krähe flattert heraus. Als ob die ein und dasselbe wären … als ob der Hund sich in eine Krähe verwandelt hätte!«

»Das hat er auch!« Die Worte kommen stotternd aus ihm heraus.

»Karim, Junge, immer schön auf dem Boden bleiben, ja!« Grinsend klettert Lenne über den Zaun.

Karim, einfach froh darüber, dass Lenne bereit ist mitzugehen, will nichts mehr verderben. »Wer zuerst an unserem Haus ist!«, ruft er.