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»Diese Sonntagnachmittage.« Karims Vater steht am Fenster, sieht nach draußen und seufzt. »Wollen wir ein bisschen Fahrrad fahren?«

Karim verzieht gelangweilt das Gesicht.

»Komm schon, Junge«, feuert sein Vater ihn an und klatscht, froh über seine Idee, in die Hände.

Karims Vater ist einer von den sportlichen Typen: Er spielt Fußball, er spielt Tennis, und jeden Abend joggt er eine Runde. Und obwohl er in einem warmen Land geboren wurde, hat er Schlittschuhlaufen gelernt. Beim Schlittschuhlaufen lässt er so manchen holländischen Käskopp hinter sich, wie er selbst gerne sagt.

»Kommt Mama auch mit?«, fragt Karim. Seine Mutter ist eher der gemütliche Typ. Wenn sie mitkommt, bedeutet »ein bisschen Fahrrad fahren«, irgendwo zu picknicken oder zumindest irgendwo abzusteigen, um ein Butterbrot zu essen, sich auf eine Bank zu setzen oder in den Himmel zu gucken.

Karims Vater schüttelt den Kopf. »Mama muss noch einen Artikel für die Hauszeitung schreiben, die sie monatlich in ihrem Krankenhaus herausbringen. Sie hat es versprochen, sagt sie. Der muss bis morgen fertig sein.«

Karim zieht seine Beine auf die Bank hoch, bohrt in der Nase und guckt eine Zeit lang aus dem Fenster. »Es ist etwas bewölkt.«

»Na und?«, ruft sein Vater. »Bist du nun ein holländischer Junge oder nicht?«

»Nur zur Hälfte«, gibt Karim schlagfertig zurück. »Ich wäre lieber irgendwo anders zur Welt gekommen, irgendwo, wo man sich jeden Tag sonnen und im Meer schwimmen kann.«

»Tja, wenn ich das gewusst hätte«, witzelt sein Vater. Er fasst Karim an beiden Händen und zieht ihn auf die Beine. »Du brauchst etwas mehr Bewegung, du trübe Tasse.«

»Muss das sein?«, stöhnt Karim.

Aber sein Vater lässt sich nicht erweichen, sie gehen Rad fahren. »Mal schön den Wind um die Ohren blasen lassen. Vielleicht kriegst du dann etwas Farbe auf deine blassen Wangen.«

 

Den Schal bis über die Ohren gewickelt, fährt Karim hinter seinem Vater her.

»Kriegst du so überhaupt noch Luft?«

»Ja«, kommt Karims Stimme gedämpft durch die rote Wolle.

»Ja? Also ich würde so ersticken. Du tust ja gerade so, als ob schon tiefster Winter wär! Schau, die Sonne!«

Karim zieht den Schal ein kleines bisschen tiefer, jedoch nicht unter sein Kinn. »Die jetzt gerade hinter einer Wolke verschwindet«, murmelt er.

Das Haus von Karims Familie ist eines der letzten des Dorfs, und nach einer Minute fahren sie bereits über die Felder, wo der Wind ungehindert blasen kann.

»Einfach weitertreten«, sagt Karims Vater. »Davon wird dir von alleine warm.«

»Ich strampel doch schon, so schnell ich kann!«

»Weichei.«

»Ich fahr gleich zurück!«, droht Karim.

»Ist ja gut, ich hör ja schon auf zu meckern.« Karims Vater fährt etwas langsamer und macht ihn unterwegs auf alles aufmerksam, was er an Schönem sieht. »Sieh mal, ein Reiher! Er steht nur auf einem Bein, siehst du das? Schön, da mit der Sonne auf dem Wasser. Schade, dass ich meinen Fotoapparat nicht mithabe.«

»Ja, schade«, stimmt Karim zu. Mit dem Fotoapparat hätten sie zumindest eine Ausrede gehabt, immer mal wieder abzusteigen.

»Schön, wie der Himmel da vorne ganz rosa wird.«

Karim murmelt etwas.

»Was meinst du?«

»Ja … wunderschön.«

»Ach, dir gefällt auch gar nichts.«

»Mir gefällt eine ganze Menge: Computer spielen … Eis essen … schwimmen.« Karim denkt nach. Was soll er noch alles aufzählen? »Fernsehen, ins Kino gehen, mit einer Gruselgeschichte im Bett liegen.«

»Ja, ja, ja«, brummt sein Vater.

»Wollen wir da beim Wald mal eine Pause machen?«, schlägt Karim faul vor.

»Bei welchem Wald?«

Karim streckt den Arm aus. »Da drüben. Die Bäume mit den orangen Blättern.

»Das sind Eichen. Hast du das gewusst?«

»Nein. Interessant.« Aber nicht wirklich.

»Lass uns noch ein bisschen weiterfahren, wir haben ja noch gar nicht richtig angefangen.«

»Mir reicht es eigentlich schon.«

Ihr Fahrradausflug will einfach kein richtiger Erfolg werden. Karim mault immer weiter, während sich sein Vater begeistert gibt. Endlich beschließen sie, bei einem Café an der Straße anzuhalten, wo im Sommer immer großer Betrieb herrscht, wenn Spaziergänger zum Eisessen herkommen. Doch am Ende eines windigen Herbstnachmittags sitzen gerade mal drei Personen an einem Tisch und essen einen Teller warme Zwiebelsuppe.

Karim bestellt sich heiße Schokolade mit Sahne. Er muss nicht lange warten und bekommt auch noch einen lustigen Keks dazu, der aussieht wie eine hohle Zigarre. Zufrieden löffelt er mit diesem Keks die Sahne von seiner heißen Schokolade. Es ist Glück im Unglück, findet er, dass er zumindest so etwas Leckeres für diese Plackerei bekommen hat. »Fahren wir danach wieder zurück?«, schlägt er vorsichtig vor.

Er ist erleichtert, als sein Vater damit einverstanden ist. Er hat genug von der Maulerei. »Das nächste Mal fahr ich alleine los.«

Das ist mir nur recht, denkt Karim.

 

»Die Sonne ist ja schon fast untergegangen«, stellt Karims Vater erstaunt fest, als sie wieder draußen stehen. »Wie spät ist es denn?« Er blickt auf seine Uhr. »Mensch …« Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Du fährst aber auch so langsam.«

»Ja, gib mir nur die Schuld!« Karim ist empört.

»Na, da hilft nichts, wir müssen einfach ein bisschen durchtreten. Ich habe versprochen, heute Abend zu kochen.«

»Wir können doch auch einfach Pommes holen«, schlägt Karim listig vor und fährt noch langsamer.

Auf halbem Weg gibt es plötzlich einen lauten Knall. Vor Schreck fällt Karim fast vom Fahrrad. »Was war das denn?«

»Verdammt!«, flucht sein Vater und springt vom Rad. »Ein Reifen ist geplatzt.«

»Oh nein!«, jammert Karim. Er steigt ab und sieht nach dem platten Vorderreifen am Rad seines Vaters.

»Verdammt!«, sagt sein Vater noch einmal und sieht sich auf der Straße nach der Ursache für den Platten um.

»Hast du Flickzeug dabei?«, fragt Karim leise, er traut sich fast nicht, die Worte auszusprechen. Und wirklich, wie schon befürchtet, sein Vater hat keines mitgenommen. »Mist!«

»Fahr du schon mal weiter, Karim.«

Karim lässt seinen Blick über die lange Straße schweifen, die sich vor ihm erstreckt. »Auf keinen Fall!«

»Doch, fahr du nur weiter. Ich werde dann halt laufen müssen, es geht nicht anders.«

»Ich fahr bestimmt nicht alleine über die Heide!«

»Junge, jetzt stell dich nicht so an. So weit ist es nicht mehr. Mit dem Rad bist du in einer Viertelstunde zu Hause.«

»Eine Viertelstunde? Mindestens eine halbe Stunde!«

»Wenn du so langsam fährst wie auf dem Hinweg, dann vielleicht, aber wenn du ein bisschen auf die Tube drückst, kannst du leicht in rund fünfzehn Minuten zu Hause sein. Und dann sagst du Mama, dass ich auch bald komme.«

»Das finde ich gruselig!«

»Gruselig?«

»Wenn ich alleine bin.«

»Karim«, sein Vater seufzt, »es ist einfach eine lange Straße. Verirren kannst du dich nicht.«

»Wie lange dauert es zu Fuß?«, will Karim wissen.

»Bestimmt eine halbe Stunde!«

Karim schluckt. Er hat auf keine der beiden Möglichkeiten Lust: alleine über die Heide zu fahren oder jetzt noch länger als eine halbe Stunde zu laufen.

»Wenn du jetzt schnell vorausfährst, dann weiß Mama zumindest, dass ich bald komme und nur einen Platten habe. Vielleicht kannst du sie dazu überreden, schon mal mit dem Kochen anzufangen, dann mache ich das Essen nachher fertig. Bitte sie, schon mal den Reis aufzusetzen und eine Zwiebel und ein paar Tomaten zu schneiden. Und jetzt mach schon, Junge.«

Zögernd setzt Karim einen Fuß auf das Pedal. Er beißt sich auf die Lippe und blickt noch einmal auf die lange gewundene Straße, die er vor sich hat.

»Wenn du um die Kurve bist, dann siehst du schon das Dach von unserem Haus«, beruhigt ihn sein Vater.

»Ja, bestimmt ganz weit weg«, sagt Karim durch die zusammengebissenen Zähne, aber er steigt auf und fährt los. Auf den Pedalen stehend, schießt er wie ein Pfeil davon. Kurz vor der Kurve sieht er sich noch einmal um. Sein Vater winkt ihm. Ungeschickt winkt Karim zurück, wobei er einen gefährlichen Schlenker macht.

Das ist kein Radweg, nur eine lange, lange asphaltierte Straße, auf der auch Autos fahren. Aber in diesem Augenblick ist weit und breit kein Auto zu sehen, und daher fährt Karim in der Mitte.

Der Himmel über ihm hat eine unwirkliche gelbliche Farbe angenommen. Es hatte wohl einen ziemlich schönen Sonnenuntergang gegeben, denn es waren rosa Streifen am Horizont erschienen, doch nun ist alles seltsam verfärbt. Karim schaut sich noch einmal um. In der Ferne ist der Himmel orange. »Alles besser als grau«, sagt Karim zu sich selbst. Jedenfalls sieht es nicht so aus, als ob es regnen würde. Aber alles zusammen – der gelbe Himmel, die Stille, die lange, lange Straße – ergibt eine eigenartige Stimmung. Karim schaut sich, als wäre er allein auf der Welt. Wenn doch nur mal ein Auto vorbeikäme und angenehm laut hupen würde.

»Ich kann natürlich auch selbst was machen«, sagt Karim laut. »Singen, zum Beispiel, oder Pfeifen.« Er probiert es mit einem unanständigen Lied, doch nach zwei Zeilen findet er, dass es sehr seltsam klingt. Stell dir mal vor, dass da doch plötzlich jemand am Straßenrand steht, und dann kommt so ein Junge vorbei, der ziemlich laut auf dem Fahrrad unanständige Lieder singt! Außerdem hat er alle Luft in den Lungen nötig, um weiterzustrampeln, denn je länger er fährt, desto schwerer fällt es ihm. »Ich kann langsam nicht mehr«, keucht er. Laut mit sich selbst zu reden ist eigentlich ziemlich komisch. Aber wer ist denn da, der das hören könnte? »Niemand«, murmelt Karim. »Zumindest hoffe ich das.« Scheu blickt er um sich. Er weiß nicht, ob er es nicht doch ganz schön fände, wenn es hier noch einen späten Spaziergänger gäbe. »Das hängt davon ab, was es für ein Spaziergänger ist.« Und natürlich muss er sofort wieder an die Frau mit den weißen Haaren denken. Und daran, was Lenne am Wasser passiert ist. Und an die Frau mit dem seltsamen kleinen Hund. Bei dem es so aussah, als ob er wirklich davongeflogen wäre. Karim schaudert. »Ha! Ha!«, schreit er laut, um seine Ängste zu übertönen. »Solche Sachen gibt es doch überhaupt nicht.« Er tritt noch fester in die Pedale. »Hexen gibt es nicht!«, brüllt er lauthals. Oder sollte man solche Sachen lieber nicht rufen, wenn man gerade ein Stück über die Hexenheide radelt? Furchtsam guckt Karim nach links und nach rechts. Was ist das denn, da weiter vorne? Ist das ein kleiner Baum? Oder ist das ein ganz krummes Wesen mit einem Buckel auf dem Rücken? Es bewegt sich. Aber das kann auch der Wind sein. »Lalala …«, singt Karim, dem keine Worte mehr einfallen. »Lalala …« Oder vielleicht sollte er besser ganz still sein, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das letzte »la …« verschluckt er. Er keucht.

Ein merkwürdiges Geräusch weckt seine Aufmerksamkeit. Es kommt von oben, aus der Luft. Eine Hexe auf dem Besenstiel. Nein, so was kommt nur in Märchen vor. Es ist ein seltsames Geräusch. Eine Hexe ohne Besenstiel. Können Hexen fliegen? Was für eine dumme Frage, Hexen gibt es nicht, also können sie auch nicht fliegen. Es ist der Wind. Nein, der Wind ist das nicht. Karims Hände klammern sich um den Lenker. Ängstlich sieht er einen kurzen Augenblick nach oben. Es ist ein lang gestrecktes V, das durch die Luft fliegt. Erleichtert bricht Karim in Lachen aus. Gänse! Er schlingert und wäre beinahe gestürzt. »Besser auf den Weg achten«, ermahnt er sich.

Er sieht das Dach von seinem Haus, genau wie es sein Vater gesagt hat. Und es ist gar nicht mehr so weit weg. Die kleinen Lampen im Garten sind schon an, er kann den schwachen Lichtschein erkennen.

Auf der anderen Seite der Straße sieht er noch ein Licht. Auch aus einem Garten? Nein, das kann doch gar nicht sein. Auf der Seite gibt es keinen Garten. Da stehen keine Häuser. »Gegenüber von unserem Haus ist doch gar nichts«, murmelt er vor sich hin. »Nur der Zaun und dahinter die Heide. Erst wieder ein ganzes Stück weiter, wo die van Siegmans wohnen, da ist wieder ein Garten. Aber ohne Lampen.« Doch es ist ein Licht, das er da sieht. Es hebt sich klein und gelb von der Heide ab. »Steht da jetzt ein Laternenpfahl?« Das Licht bewegt sich. Laternenpfähle bewegen sich nicht.

Karim fährt noch etwa einen Meter weiter. Er kriegt eine Gänsehaut auf den Armen, und die kommt nicht von der Kälte. Unter seinem dicken Schal spürt er den Schweiß im Nacken.

Ein Irrlicht. Wo hat er das denn schon wieder gelesen? Irrlichter, das war etwas, an das die Menschen früher geglaubt hatten. Irrlichter waren Elfen oder andere sonderbare Wesen, die die Menschen mit ihrem Schein ins Moor gelockt haben.

Und auch, wenn man nicht an solche Dinge glaubt, ist eine Lampe, die sich auf der stillen Heide bewegt, etwas sehr Unheimliches!

Aus einer plötzlichen Regung heraus springt Karim vom Rad und zieht es mit sich von der Straße weg. Hinter einem dunklen Strauch duckt er sich. Da läuft jemand. Mitten auf der Heide. Jemand mit einer Lampe …

»Ich warte einfach auf meinen Vater«, flüstert Karim leise. »Ich bleibe hier ganz still sitzen, und dann kommt mein Vater gleich hier entlang.« Eine halbe Stunde, hat sein Vater gesagt, eine halbe Stunde mindestens, um die Strecke nach Hause zu laufen. Wie lange dauert es dann noch, bis er hier ist?

Vielleicht ist es einfach ein Spaziergänger, der dort läuft. Ein einsamer Spaziergänger.

Aber wer geht denn um diese Uhrzeit noch auf der Heide spazieren? Noch jemand mit einer Reifenpanne? Aber da gibt es gar keinen Fahrradweg. Ist das vielleicht jemand, der sich verlaufen und nun den Weg ins Dorf wiedergefunden hat?

Karim überlegt. Wenn man tagsüber auf der Heide spazieren geht, nimmt man doch keine Lampe mit. Ist das jemand, der absichtlich bei Dunkelheit über die Heide gehen will? Das kann er sich nicht vorstellen. Nur wenn man etwas vorhat, das bei Tageslicht nicht möglich ist, geht man in der Dämmerung über die Heide. Aber dann nimmt man wahrscheinlich auch keine Lampe mit, sinniert Karim. Wenn man nicht gesehen werden will, läuft man nicht mit einer Taschenlampe herum. Also ist das wohl jemand, der es nicht schlimm findet, gesehen zu werden? Ja, also doch jemand, der ganz normal einen Abendspaziergang macht.

Karim will gerade erleichtert aufstehen, als ihm ein anderer Gedanke kommt.

Vielleicht ist das jemand, dem es nichts ausmacht, ob er gesehen wird oder nicht. Eine Person, die vor nichts Angst hat, weil sie weiß, dass sie selbst am meisten Angst verbreitet in der ganzen Gegend? Vielleicht doch eine Hexe?

Schnell hockt er sich wieder an den Straßenrand. Er fühlt sich beklommen, als bekäme er nicht genügend Sauerstoff. Er zieht sich den Schal aus dem Gesicht, doch der schlingt sich dabei noch enger um seinen Hals. »Chch!«, röchelt Karim, und mit beiden Händen streift er ihn ab.

Die Lampe bewegt sich nicht. Sie bleibt an Ort und Stelle. Vielleicht hat sie mich gehört, sagt ein ängstliches Stimmchen in Karims Kopf. Er versucht, sich mit dem Kopf zwischen den Knien ganz klein zu machen. Aber eigentlich ist das noch unheimlicher, denn so kann er nichts mehr sehen. Er setzt sich wieder aufrecht hin und späht mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Hin und her schaukelnd bewegt sich das Licht. Ist es nicht gerade größer geworden? Das heißt, dass es näher kommt! Das bedeutet, dass sie in meine Richtung kommt … sie kommt hierher … sie hat mich gehört … vielleicht sogar gesehen … Hexen können gut im Dunkeln sehen … sie haben Katzenaugen … sagt Lenne … Katzenaugen – das Wort wirbelt durch Karims Kopf. Am liebsten würde er schreien. Er kann hier nicht sitzen bleiben wie ein armer Tropf, der ergeben auf sein Schicksal wartet.

Er springt hinter dem Busch hervor und schnappt sich sein Rad. Zum Glück ist die Lampe schon eine ganze Weile kaputt, sein Vater hatte sie noch reparieren wollen. Aber gut, dass er es noch nicht getan hat. Karim wimmert vor Angst. Stell dir vor, mein Licht wäre nun plötzlich angegangen. Dann hätte sie mich prima gesehen! Wenn sie mich nicht schon längst gesehen hat. Ich muss hier weg. Ich will nach Hause. Oder soll ich zu meinem Vater zurückfahren? Was ist näher? Ich weiß es nicht. Unser Haus kann ich sehen. Meinen Vater nicht. Vielleicht ist er auch von der Straße abgebogen, und dann kann ich ihn nicht mehr finden, wenn ich zurückfahre. Ich fahre besser weiter, nach Hause, zu den Lampen im Garten. Ich kann sie sehen. Wenn ich ganz schnell fahre, dann werden sie auch ganz schnell größer. Sieh mal, sie scheinen schon näher zu sein als gerade noch.

Karim hört ein pfeifendes Geräusch in seinen Ohren. Ist das der Wind? Der Wind, der an seinen Ohren vorbeisaust? Kommt das, weil er so schrecklich schnell fährt? Es tut weh, irgendwo in seinem Ohr. Das gibt es doch nur im Winter, wenn es friert, dass einem die Ohren wehtun? Da ist jemand, der schreit, hoch und grell. Nein, das ist doch der Wind. Nein, es ist eine Stimme. Nein, das ist der Wind.

Karim stellt sich auf die Pedale. Keuchend vor Anstrengung legt er die letzten Meter bis zu seinem Haus stehend zurück.

Schleudernd und holpernd fährt er in den Vorgarten. »Mamaaa!«, schreit er mit sich überschlagender Stimme. »Maaamaaa!«

Er stürzt mit dem Fahrrad zu Boden, weil er gegen eine der Lampen gefahren ist, die neben dem Gartenweg stehen. Auf dem Bauch rutscht er noch ein Stück durch einen Haufen welker Blätter, die sein Vater heute Morgen zusammengerecht hat.

Die Tür geht auf. »Karim, was machst du denn da?«

»Nichts … nichts, ich bin hingefallen.«

»Warum schreist du so?«

»Weil ich hingefallen bin«, lügt Karim drauflos. Aber als ihn seine Mutter mit ins Haus genommen und ihm in der Küche ein Glas Wasser gegeben hat, steigt ihm ein Schluchzer aus der Kehle hoch. Und Mütter erkennen Schluchzer unter Tausenden von Geräuschen, darauf sind sie trainiert. Mit knallroten Wangen muss Karim zugeben, dass er Angst hatte.

»Aber wovor denn, und wo bleibt dein Vater eigentlich?«

»Der hat einen Platten.«

»Wo? Wann?«

»Vor einer halben Stunde oder so. Ich hab alleine weiterfahren müssen.«

»Was?«, schreit Karims Mutter. »Dein Vater hat dich alleine über die Heide fahren lassen? Ist der denn jetzt völlig verrückt?«

Sie läuft aus der Küche zur Haustür und schaut schnell nach draußen, um zu sehen, ob er schon in Sichtweite ist.

»Weil er versprochen hat, dass er kochen würde«, sagt Karim.

»Und das nach dem, was im letzten Sommer passiert ist! Lässt der dich so einfach … dieser Trottel …«

»Er hat Angst gehabt, dass du böse sein würdest.«

»Na, und ob!«

»Und ob du die Zwiebeln schon schneiden könntest und die Toma…«

»Ob ich die … was! Der kriegt was zu hören, wenn er sich überhaupt noch hier reintraut!«

Karim seufzt. Das wird heute ein ganz besonders gemütlicher Sonntagabend. Das weiß er jetzt schon.