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Karim und Lenne sind spät ins Bett gegangen. Karims Eltern haben sie lange beschäftigt – mit einem Film im Fernsehen, mit Spielen und mit einer großen Tüte Süßigkeiten –, wie sich das bei einer Übernachtungsparty gehört. Karim und Lenne waren über die Ablenkung sehr froh, aber schließlich ist es doch elf Uhr geworden, und das, fanden Karims Eltern, sei trotz der Herbstferien höchste Zeit, schlafen zu gehen.

Karim hat seine Nachttischlampe angeknipst und Lenne versprochen, sie nicht auszuschalten. Sie kann die ganze Nacht brennen.

»Wo hast du sie hingetan?«, will Lenne plötzlich wissen.

»Wen?«

»Meine Kugel.«

»Warum willst du das wissen?«

Einen Augenblick bleibt es still. »Kann ich sie kurz mal sehen?«, ertönt es dann bedrückt.

»Ist es nicht besser, du versuchst, nicht mehr an sie zu denken?«

»Bitte!«, sagt Lenne leise. Sie sitzt mit dem Rücken gegen Karims Nachttisch gelehnt und hat die Arme um die Knie gelegt, die sie im Schlafsack angezogen hat.

Karim holt die grüne Kugel unter seinem Kissen hervor, und Lenne streckt die Hand danach aus. »Ich weiß nicht recht«, zögert Karim.

»Ich will sie nur mal kurz in der Hand halten.«

»Aber nur ganz kurz.« Staunend sieht er zu, wie Lenne das Ding in ihren Händen hätschelt, als ob sie etwas Verletzbares und Lebendiges hielte, wie man es bei einem Küken oder einem gerade geborenen Kätzchen macht. »Hast du keine Angst, dass du damit jemanden, äh, herbeirufst?«

»Ich lieg hier doch sicher in deinem Zimmer im Bett, und deine Eltern sind in der Nähe. Was kann da passieren?«

Alles, vermutet Karim, doch das sagt er nicht laut. Zur Sicherheit zieht er schnell sein Medaillon, das er selbst nachts nicht ablegt, unter dem Schlafanzug hervor. Er sieht, wie Lenne sich in die Kugel versenkt, als ob sie darin alles lesen könnte. »Gleich fängst du noch an wahrzusagen«, knurrt er.

»Nein, dafür ist mehr nötig als eine Glaskugel.«

»Woher weißt du das denn?« Karim lacht.

Lenne lässt die Kugel auf ihrer Hand hin und her rollen, und ihr Kopf bewegt sich langsam mit.

Karim sieht ihrer Schaukelei eine Weile zu. »Hallo, bist du noch da?«

»Hm, was?« Lenne steht auf. »He, du kannst doch von deinem Fenster auf die Hexenheide gucken!« Sie geht zum Vorhang und schiebt ihn ein bisschen zur Seite. »Hast du von hier aus die Augen gesehen?«

»Ja. Und die brauche ich nicht noch einmal zu sehen. Zieh den Vorhang schnell wieder zu.«

»Da irgendwo ist sie … irgendwo da auf der Heide sind sie, die Hexen …« Lenne drückt ihre Nase gegen die Fensterscheibe.

»Lenne, jetzt komm schon.« Karim schlüpft ungeduldig unter seine Bettdecke und zieht sie bis unters Kinn hoch. »Also ich weiß ja nicht, was du machst, aber ich jedenfalls schlafe jetzt. Es ist beinahe zwölf Uhr.«

»Lampen«, murmelt Lenne. »Lichter.«

»Das war nur eine«, brummt Karim. »Ich hab eine Lampe gesehen, neulich abends, eine Lampe, die …«

»Es sind drei«, unterbricht ihn Lenne.

»Nein, es war … Was meinst du mit, es sind drei?« Karim hebt den Kopf vom Kissen, dann schiebt er die Bettdecke weg und steht auf.

Lenne steht am Fenster. Die grüne Kugel hat sie auf die Fensterbank gelegt, wo sie nur wenige Sekunden liegen bleibt, bevor sie sich einen Zentimeter über das Holz erhebt. Lenne legt ihre beiden Hände gegen das kühle Fensterglas.

Karim ballt die Fäuste. Er muss sich schrecklich zusammennehmen, um die schwebende Kugel nicht wegzugrapschen. Das Scheißding. Dieser unheimliche Zirkus hat ihm gerade noch gefehlt! Er schließt seine Hand um das Medaillon und geht zu Lenne. Sie hat recht, es gleiten drei Lichter über die Heide, stille Irrlichter im Dunkeln.

Karim wartet ab. Was wird Lenne tun? Muss er in Aktion treten, muss er etwas unternehmen?

Aber es passiert nichts. Lenne steht nur da und guckt und guckt mit einem ganz sehnsüchtigen Ausdruck im Gesicht.

Vorsichtig beugt sich Karim an Lenne vorbei und zieht mit einem plötzlichen Ruck den Vorhang wieder zu.

Erschrocken dreht Lenne sich zu ihm um.

»Komm«, sagt Karim weich und nimmt sie am Arm. »Es ist Zeit zum Schlafen. Gib mir das grüne Ding wieder. Ich will es nicht wegschmeißen, ich heb es nur für dich auf. Wir sind hier sicher, das Fenster ist zu. Und morgen sehen wir dann weiter.«

 

Aber am nächsten Morgen, als Karim wach wird, hat Lenne es bereits geschafft, die Kugel unter seinem Kissen hervorzuangeln. Es ist ihm ein Rätsel, wie sie das geschafft hat, ohne ihn zu wecken. An ihren nassen Haaren sieht Karim, dass sie schon geduscht hat, und angezogen ist sie auch schon. Bäuchlings liegt sie auf der Luftmatratze und rollt die Kugel zwischen ihren Händen über den Boden hin und her.

»Du wirkst richtig süchtig«, schnauzt Karim unfreundlicher als beabsichtigt. Er steht auf und schnuppert. Ein verführerischer Duft nach gebratenen Eiern steigt ihm in die Nase. »He, Lenne, riechst du das? Mensch, was hab ich für einen Hunger!«, versucht er, sich locker zu geben. Beiläufig zieht er hinter sich die Vorhänge auf. »Hm, es sieht heute ein bisschen regnerisch aus«, plaudert er vor sich hin, während sein Blick die Heide nach irgendwelchen sonderbaren Dingen absucht. Nichts Besonderes zu sehen, stellt er erleichtert fest. »Na, dann gehe ich jetzt auch mal schnell duschen. Aber du kannst ruhig schon nach unten gehen.«

»Nein, ich warte hier«, murmelt Lenne.

Normalerweise mag es Karim ausgesprochen gern, lange unter der warmen Dusche zu stehen. Doch heute Morgen duscht er kürzer, als er es sonst getan hätte. Lenne wird doch das Fenster zu gelassen haben? Lenne wird doch mit ihrer Kugel nichts Dummes anstellen? Lenne wird doch wohl die Finger von dem Medaillon lassen? Hab ich es einfach auf meinem Nachttisch liegen lassen? Innerhalb von zehn Minuten steht er wieder in seinem Zimmer.

»Alles in Ordnung?«, fragt er ganz beiläufig.

»Bei mir schon«, antwortet Lenne gleichgültig.

Karim zieht sich schnell an. »Gehen wir nach unten und frühstücken? Es riecht gut.«

Lenne steht auf und kommt lustlos hinter Karim her.

Karims Eltern haben sich Mühe gegeben und einen festlichen Sonntagsfrühstückstisch gedeckt, und das scheint Lenne zum Glück ein bisschen aufzumuntern. Sie isst ordentlich von ihrem Rührei und trinkt zwei große Becher Milch. »Du musst ordentlich essen, Karim«, spornt sie ihn an. »Wir gehen doch heute wohl auf die Heide?« Ihre Augen glitzern.

Karim blickt säuerlich zu seinem Vater, der eifrig nickt. Er hat den ganzen Weg bereits festgelegt, der an allen interessanten Dingen vorbeiführt, die er seinem Sohn genannt hat. Es war eine so bemerkenswert einmalige Gelegenheit, dass Karim um einen Spaziergang gebeten hat, dass es eigentlich in die Zeitung gehört!

Die Erwähnung des Schafstalls und des Wildhüterhäuschens lässt Lenne offensichtlich kalt, doch als Karims Vater über das Haus im Tannenwäldchen spricht, setzt sie sich kerzengerade hin. »Also wenn da überhaupt ein Haus ist«, sagt er, »denn ich habe nur das Tor gesehen. Aber wir sollten zumindest mal hingehen. Ihr nehmt doch sicher einen Fotoapparat mit?«

»Hä?«, gibt Karim von sich.

»Um von den Gebäuden Fotos zu machen – für eure Hausarbeit.« Karims Vater nickt ihnen munter zu.

Lenne und Karim wechseln einen heimlichen Blick.

»Ups, ja«, murmelt Karim. »Das hätte ich beinahe vergessen.«

 

Karim hat von dem Schafstall und dem Wildhüterhäuschen brav Fotos gemacht und mit einem geheuchelten Lächeln endlose Belehrungen seines Vaters über Schafe, Schäfer und die Pflege der Heide über sich ergehen lassen. »Und jetzt gehen wir zu dem anderen Haus, ja?«, hat er schon ein paarmal vorgeschlagen.

Beim dritten Mal sagt sein Vater endlich: »Ja, machen wir das, es sieht schon ganz schön grau aus«, er deutet zum Himmel, »und es ist noch ein Stück zu laufen.«

Der Weg führt an einem Moortümpel vorbei, der nach stehendem Gewässer riecht, vorbei an lichten weißgrauen Birkenwäldchen und dann endlich auf den dunklen Tannenbestand zu.

»Also hier muss es irgendwo sein«, sagt Karims Vater. »Ich bin hier nur ein einziges Mal vorbeigekommen, da müssen wir ein bisschen suchen.«

»Wie dunkel es hier ist«, brummt Karim, »fast, als wäre es schon Abend.«

Karims Vater schaut auf seine Uhr. »Es ist erst kurz nach vier. Na ja, mit den dichten Bäumen und dem bewölkten Himmel … Hm, es wird wohl ein bisschen schwierig sein, hier gute Fotos zu machen.«

Das macht Karim kein Kopfzerbrechen, doch er setzt ein entsprechend bedenkliches Gesicht auf.

»Ich glaube, dass es an diesem schmalen Weg war. Ich erinnere mich deshalb, weil ich mir den Fuß leicht verstaucht habe. Ja, sieh mal …« Er beugt sich vor und legt einen Arm um Karims Schultern. »Siehst du das …?«

»Komm, Karim!«, schreit Lenne sofort und rennt los. Karim kann nicht mehr machen, als schnell hinter ihr herzutraben.

»He, Leute«, ruft Karims Vater. »Na ja, ist gut, ich komme nach.«

Lenne steht vor einem schwarzen Tor. Es ist ein einfaches Tor, das in nichts an das Tor von Frau van Have-Evincks Anwesen erinnert, das voller zierlicher Schnörkel ist, auch wenn die Farbe altersbedingt abblättert. Das Tor hier hat senkrechte, weit auseinanderstehende Gitterstäbe, mehr ein Schmuck, als um jemanden abzuwehren. Ein Kind würde problemlos zwischen ihnen hindurchpassen. Die einzige Verzierung besteht aus drei symmetrischen, aus Eisen geschmiedeten Formen, eine Art Stern mit fünf Zacken. Das Tor ist an zwei pechschwarzen Säulen befestigt, die nach rechts und links in eine ebenso düstere, granitfarbene Mauer übergehen. Alles in allem sieht es hier nicht besonders freundlich aus. Das ist kein Tor, das »Willkommen« oder »Komm rein« ausstrahlt. Es ist schon seltsam genug, dass rechts von dem Tor eine glänzende Glocke aus Kupfer an der Mauer hängt. Karim macht Lenne darauf aufmerksam. »Als ob man hier ankündigen sollte, dass man kommt«, flüstert er.

Lenne späht mit großen Augen zwischen den Stäben hindurch.

»Ist dahinten was zu sehen?«, fragt Karim.

Lenne schüttelt den Kopf. »Bäume. Nur noch mehr Tannen.«

»Die haben sich gut versteckt«, murmelt Karim.

»Sollen wir da zwischendurch?«

Karim findet Lennes Vorschlag grauenvoll und macht ein entgeistertes Gesicht. »Du bist ja wohl nicht ganz bei Trost!«

»Aber es geht«, meint Lenne. »Wir passen zwischen den Stäben durch.«

»Ich geh da nicht rein!«, zischt Karim. »Ich bin doch nicht verrückt! Da wohnen die Hexen, wetten? Da ist bestimmt irgendwo ein Hexenhaus.« Es schaudert ihn, und er blickt sich um, um zu sehen, ob sein Vater sich etwas beeilt, aber der hat irgendetwas vom Waldboden aufgehoben, und nun steht er da und betrachtet es.

Lenne macht einen Schritt vorwärts.

»Nein, Lenne!«, sagt Karim warnend.

Lenne streckt die Hände aus und greift nach den Gitterstäben. In dem Augenblick, als ihre Finger sie berühren, läutet die kupferne Glocke, die an der Mauer hängt, laut und entsetzlich. BING! Karim springt einen halben Meter in die Luft.

»Karim, was machst du denn!« Lenne ist erschrocken.

»Ich hab nichts gemacht!«

Lenne starrt die Glocke mit offenem Mund an. Die Schnur, die unten heraushängt, schwingt noch ein bisschen hin und her. Zögernd streckt sie die Hand wieder aus, und mit der Spitze ihres Zeigefingers berührt sie das Tor noch einmal ganz sacht. Zinnng, flüstert die Glocke weich.

Aus reiner Nervosität gibt Karim Lenne einen Klaps. »Jetzt hör schon auf, du blöde Kuh!«

»Toll!«, sagt Lenne voller Bewunderung. »Einfach irre, eine Glocke, die sich selber läutet, wenn Besuch kommt!«

»Ja, und jetzt wissen sie, dass wir hier stehen, Dumpfbacke!«

Inzwischen ist Karims Vater dazugekommen. »Leute!«, ruft er ermahnend, »fummelt ihr da an der Glocke rum? Hört bloß auf damit. Womöglich wohnt hier noch jemand.«

Ganz bestimmt, denkt Karim.

»Darf ich schnell mal gucken gehen?«, fragt Lenne Karims Vater und setzt dabei ihr schönstes Lächeln auf.

»Also das würde ich jetzt nicht machen, Lenne, das geht doch nicht so einfach«, ist die unsichere Antwort. Er schaut sich um. »Ach, na ja, ein kleines Stückchen kannst du mal in den Garten gehen«, sagt er dann und zuckt mit den Schultern. »Hinter dem Tor wird wohl kaum mehr als eine alte Ruine liegen. Die Mauern hier sehen auch schon so aus, als stünden sie kurz vorm Umfallen.«

»Aber Papa!« Karim tut so, als wäre er fassungslos. »Das kann man doch nicht machen, einfach so in den Garten von jemandem reingehen!«

»Glaubst du denn, dass das noch der Garten von irgendjemandem ist?«, fragt sein Vater und lacht. »Dann bestimmt der von einer bösen alten Hexe.«

Karim kriegt vor Schreck einen Schluckauf. Er will noch etwas sagen, doch Lenne hat sich schon zwischen den Stäben durchgeschlängelt.

»Aber hör mal, nicht zu lange wegbleiben«, sagt Karims Vater. »Schließlich warte ich hier.«

»Nein, du musst mitkommen!«, sagt Karim.

»Na, Mensch, ich passe doch da gar nicht durch.«

»Wenn du die Jacke ausziehst, vielleicht doch!«

»Karim, jetzt mach schon. Ich warte hier auf euch.«

Mit aufsteigender Panik blickt Karim von seinem Vater zu Lenne, die schon ein Stück in den dunklen Garten hineingegangen ist. »Aber …« Er will hinter Lenne her, er muss sie beschützen, aber noch lieber würde er sie zurückhalten. Er will nicht in den Garten, er möchte hier auf der sicheren Seite des Tors bleiben. Wenn er trotzdem in den Garten hineinmuss, dann aber doch ganz bestimmt nicht allein. Sein Vater muss einfach mitkommen. Aber was soll er ihm denn sagen? Etwa: Ich traue mich nicht, allein zu einem Hexenhaus zu gehen? »Aber Papa, wenn da nun doch noch Leute wohnen …«

»Bestimmt nicht.«

Lenne geht langsam weiter.

»Aber Papa, vielleicht, ähm … vielleicht haben die einen unheimlichen Hund oder so!«

»Dann kommst du ganz schnell zurückgerannt. Also gehst du jetzt oder nicht?«

Ja, er geht. Es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig.