Pest, Cholera und der ganze Rest



Das Beste an Freitagen ist der frühe Feierabend. Das Schlechteste an diesem Freitag ist, dass jede Minute mindestens fünf zu dauern scheint. Die Uhrzeiger schleppen sich träge über ihre Runden, und wenn ich es mir recht überlege, tun sie mir sogar einen Gefallen damit. Galgenfrist. Kommt mir vor wie bei Zahnarztterminen, wenn man sich eine Stunde vorher wünscht, die Zeit würde ganz einfach einmal streiken. Leider gehört sie keiner Gewerkschaft an.

Ich beantworte Post, lektoriere die Artikel einiger freier Mitarbeiterinnen, beobachte die Hungerbühler, deren Gesicht aussieht als hätte es gerade eine Zitrone im Mund und tue so, als sei das Internet noch nicht erfunden worden. Dort wartet man auf den nächsten Schlagabtausch zwischen Constanze und Sabine, den Schlammcatcherinnen im Dienste der geplagten Frau. Aber es wird ihn nicht geben, Punkt. Sabine wird so schnell von der Bildfläche verschwinden wie sie dort aufgetaucht ist, Constanze kriecht zurück in ihre Kolumne und bleibt dort bis zur Rente. Ich, Paula Pfaff, will es so! Von den fetten Frauen entfreunde ich mich (schönes Wort!), das Café Meier verliert eine Kundin. Die Lasagne dort ist eh zu fett und Elvira wird auch immer unfreundlicher.

Endlich, drei Uhr. Ich bewundere Menschen, die diesen eingebauten Schalter haben, mit dem sie kinderleicht zwischen Arbeit und Freizeit umschalten können. Die, sobald sie das Büro verlassen haben, andere Menschen werden, ein anderes Leben führen, die Probleme der Arbeit abstreifen wie die Unterhose von gestern. Ich kann das nicht. Es gibt gute Gründe dafür.

Montag, 9 Uhr, Redaktionskonferenz. Milkers wird stolz vor die versammelte Mann- und Frauschaft treten, sich räuspern und mit der Stimme eines Predigers verkünden, es sei Zeit für die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Er wird ein Manuskript aus der Aktentasche ziehen (wahrscheinlich hat er das ganze Wochenende daran gefeilt) und vortragen, warum Constanze Corzelli ab sofort Paula Pfaff sein wird. Ich will mir den Schmalz lieber nicht vorstellen. In Medienredaktionen werden immer diejenigen Chefs, die nicht gut schreiben können, weil sie das als Chefs auch gar nicht müssen. So gesehen hat Daniela Hungerbühler noch eine große Karriere vor sich.

Meine Hoffnung, dass sich bis Montag der ganze Aufstand beruhigt und Milkers seine Meinung geändert hat, ist minimal. Etwas Weltbewegendes müsste passieren, Frau Merkel bekennen, dass die Sparkonten doch nicht so ganz sicher sind (okay, das weiß sowieso jeder) oder Dieter Bohlen müssten beim Lachen vor laufender Kamera die dritten Zähne aus dem Mund fallen. An solche Dinge klammere ich mich. Ich glaube fest daran. Naja, so fest auch wieder nicht.

Erst als ich an Rasmus und die bevorstehende Nacht mit ihm denke, werde ich ruhiger. Nein, falsch. Ich verlagere nur den Kriegsschauplatz, Ort und Anlass des unausweichlichen Desasters. Eigentlich müsste ich zu Hause schnell noch im Internet nachschauen, wie ein nackter Mann heutzutage eigentlich aussieht? So wie früher, als ich noch jung war und ab und an mal einen gesehen habe? Oder habe ich evolutionsmäßig etwas Entscheidendes verpasst? Keine Haare mehr auf dem Rücken? Saubere Socken an? Im Kopf mehr Gehirn als Pornokino? Egal. Ich werde mich wie ein willenloses Schaf zur Schlachtbank begeben, zumal die ein weiches Bett sein wird.

»Sie ist ganz okay«, empfängt mich Alina. Sie sitzt auf dem Sofa, ihren Laptop auf den Knien, in der Rechten die Fernbedienung, in der Linken ihr Smartphone. Wieso sie mit den Füßen keine elektronischen Geräte bedient, kann ich mir auch nicht erklären.

»Wer ist ganz nett?«

»Sie. Die andere.«

»Welche andere?« Mein Töchterchen dreht die Augen Richtung Zimmerdecke.

»Na, die andere Alina.«

Hätte ich gerade eine Tasse in der Hand, ich würde sie fallenlassen.

»Du hast...«

»Wir beide haben. Also ich war grad auf dem Weg zu ihrer Klasse, da ist sie mir auch schon entgegengekommen. Hab sie irgendwie sofort erkannt. Komisch, nicht?«

Ja, komisch. Ich setze mich neben mein Kind, das nun nicht nur mit den Augen ihre geballte Elektronik im Blick haben muss, sondern auch noch ihre leicht zitternde, weil aufgeregte alte Mutter.

»Und?« frage ich erwartungsvoll. Alina tippt schnell noch eine SMS, schaltet von RTL auf SAT 1 und liked bei Facebook ein Video, in dem ein Junge die Hosen runterzieht und seinen Allerwertesten präsentiert. Dann endlich antwortet sie.

»Doch, sie ist süß. Also für ne Vierzehnjährige. Bisschen unreif, na ja. Sie hat mich über dich ausgefragt und ich sie über ihren Dad. Sie mag kein Nutella, schon mal gut. Sie will auch kein Brüderchen, nicht so gut. Wir haben uns drauf geeinigt, dass ihr erstmal verhütet, bis wir uns da einig sind.«

»Alina!«

»Ja?« Sie sieht mich lauernd lächelnd an. Das können nur siebzehnjährige, altkluge Gören, das kann man nicht beschreiben.

»Überlass das doch bitte uns!«

Sie hebt beschwichtigend die Arme, Smartphone und Fernbedienung wackeln hin und her.

»Ist ja in Ordnung. Ihr hört ja sowieso nicht auf uns. Wann gehst du los?«

Gute Frage. Wir sind für sieben Uhr verabredet, Rasmus will eine Kleinigkeit kochen.

»Er kann nicht kochen.«

»Wie bitte?«

Meine Tochter wiederholt den Satz. »Sagt die andere Alina. Wenn er kocht, bestellt sie schon mal vorsichtshalber eine Pizza. Ich habe ihr gesagt, dass du ganz gut kochen kannst.«

»Danke«, sage ich artig. »Und was hast du sonst noch über ihn rausgekriegt?«

Sie legt das Smartphone beiseite und legt mir die freigewordene Hand auf die Schulter.

»Sonst ist er ganz in Ordnung, sagt die andere Alina. »Er ist halt einsam und sucht eine Frau. So wie du einen Mann suchst.«

»Aha, du willst also doch einmal Psychologie studieren«, sage ich lachend und gebe meinem Schatz einen Kuss auf die Stirn.

»Och nö«, wehrt sie ab. »Ich mach Marketing oder so was. Muss nur noch mal googeln, was das eigentlich ist.«

Vier Uhr. Eigentlich habe ich noch Zeit. Aber wenn die Zeit bisher wie eine Schnecke gekrochen kam, hat sie sich jetzt motorisiert und kann es gar nicht mehr erwarten, bis es sieben Schläge vom Kirchturm tut. Kurz: Ich gerate in Stress. Ich muss noch duschen! Gründlichst duschen! Haare waschen! Fönen! Augenbrauen zupfen! Und das Schlimmste von allem: Mich schminken. Nein, das Zweitschlimmste. Das Allerallerschlimmste: Ich muss mich entscheiden, welche Unterwäsche ich anziehe.