Die Bombe tickt
Ich schwebe. Nein, das ist kein Traum, oder doch? Doch. Dass ich in Liebesdingen einmal Glück haben soll, hat der liebe Gott nicht in das Buch meines Lebens diktiert. Stattdessen solche Sachen wie »Braucht eine Praline nur anzuschauen und nimmt schon zu« oder »Hält die Erde für das Fegefeuer und die Männer für die Heizer«.
»Hoppla!« Ach du Schreck, ich hätte beinahe Milkers über den Haufen gerannt! Aber er ist gut gelaunt (sofort im Kalender rot vermerken!) und meint jovial: »In Gedanken, Frau Kollegin? Neue Kolumne, was? Gut so, weitermachen!« Und weg ist er.
Sammeln, Paula. Nichts anmerken lassen. Aha, die Hungerbühler endlich wieder an ihrem Arbeitsplatz. Soll ich ihr ein kleines triumphierendes Lächeln als Motivationsbremse rüberschicken? Nein, so fies bin ich nicht – ups, zu spät. Sie lächelte irritiert zurück, in ihrem Kopf beginnt es zu rattern.
Alles könnte so schön sein. Meine Gedanken bei ihm, der mich für morgen Abend ins Kasim's eingeladen hat. Klingt pakistanisch, ist aber griechisch. Eine leckere Portion Bifteki, aus der fetter Käse quillt... sein Lächeln, seine Worte, sein Blick...
Mein Blick. An mir hinunter. Ich will mich gerade vor den Computer setzen. Mein Gott, über meinem Bauch wölbt sich das grüne Schlabbershirt, das heißt schlabbern tat es früher, jetzt sitzt es stramm um mein Fett und versucht es zu bändigen. Ich habe die schwarzen Jeans an. Nein, das sehe ich nicht, ich erinnere mich daran. Sehen würde ich sie, wenn ich meinen Kopf weit über den runden Abgrund meines Wanstes (schönes Wort! Ich liebe es, har har!) beugen würde.
Doch, ich muss träumen. Oder Rasmus Borcherts ist der Mister Universum des schlechten Frauengeschmacks. Überhaupt: Wen lädt er zum Essen ein? Paula Pfaff oder Constanze Corzelli? Von Sabine Müller weiß er gottlob nichts.
Als ich endlich sitze und nicht mehr schwebe, tun es meine Finger. Sie schweben über der Tastatur und stechen erbarmungslos zu.
»Liebe Leserinnen, ist es Ihnen auch schon einmal so ergangen wie meiner besten Freundin Paula? Das einst so bequeme Shirt spannt über dem Bauch! Die Fußspitzen kann sie nur noch erkennen, wenn sie sich weit nach vorne beugt und einen Hexenbuckel macht.«
Neues Dokument, ich nenne es »sabine_müller_attacke«.
»Liebe Leserinnen, ist es Ihnen auch schon einmal so ergangen? Sie sind eigentlich glücklich und fühlen sich wohl in Ihrem Körper. Dann schlagen Sie eine Zeitschrift auf und sofort ist es damit vorbei. Jemand versucht, Ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden. Ihre Oberschenkel zu dick! Ihr Shirt spannt über dem Bauch!«
Zurück zum ersten Dokument:
»Das ist nicht schön. Alarmglocken schrillen in Ihnen. Und haben Sie es auch bemerkt? Früher konnten Sie locker dreihundert Treppenstufen ersteigen, heute geraten sie schon nach dreißig völlig aus der Puste.«
Telefon. Ich nehme ärgerlich ab. Es ist Ludwig. »Kommst du? Adele wäre jetzt da.«
Adele! Die habe ich ganz vergessen!
»Was heißt hier wäre jetzt da? Ist sie da oder nicht?«
Warum bin ich nur so ärgerlich? Und, bescheidene Frage am Rande: Wer ist eigentlich ich?
»Okay, ich komme. Entschuldigung.«
Als Redakteurin betreue ich alles, was unsere freien Mitarbeiterinnen zum Thema Schlank und gesund beisteuern. Adele ist eine dieser freien Mitarbeiterinnen und nicht die schlechteste. Früher war sie mal Model, die Maße hat sie heute noch – und genau das macht sie unglücklich. Adele wäre gerne fett, so richtig schön fett wie die Models, die sie heute in weite Klamotten steckt und fotografiert. Aber es klappt nicht. Adele liebt opulente Fressgelage, sie schafft ein Brathühnchen samt Beilagen, sie bestellt Nachtisch grundsätzlich in doppelter Ausführung und schreckt auch nicht vor einer Riesencola zum Frühstück zurück. Ergebnis: null Fett.
Dabei hatte sie als Teenager mit Essstörungen zu kämpfen, wie sie mir einmal erzählte. Heute hat sie einen netten Mann mit Bierbauch und zwei wohlgeratene Kinder mit Normalgewicht. Sie selbst ist weiterhin so dünn, dass sogar der sprichwörtliche Strich in der Landschaft neidisch wird.
Als ich eintrete, beugen sich Adele und Ludwig gestikulierend über eine Reihe großformatiger bunter Bilder, die Ludwigs Schreibtisch vollständig bedecken. Fotografen unter sich.
»Hallo Süße!« Küsschen links, Küsschen rechts. Wir betrachten uns die Fotos. MoMo nennen wir das redaktionsintern, Mode für Mollige.
»Ich finde, die sehen klasse aus!« findet Adele und Ludwig nickt begeistert. Fotografen... Ich finde, sie sehen deprimierend aus, wie Frauen eben aussehen, die man in jede Menge farbigen Zeltstoff eingewickelt hat. Okay, die Models lächeln. Aber es sieht aus, als hätte man ihnen das Lächeln unter Zwang in die Gesichter geschnitzt.
»Klasse«, bestätige ich und tätschele Adeles Rücken, wobei ich jeden Wirbel einzeln begrüßen kann.
»Text hab ich auch, Doppelseite, oder?«
Klar, Doppelseite. Den Titel lasse ich mir dann einfallen, das kommt meistens spontan. Wie wär's mit »Flatternde Fetzen um fette Weiber?« Hm, bisschen geschäftsschädigend.
Wir besprechen ein paar Details, trinken Kaffee und machen Smalltalk, Adeles Text ist in Ordnung, ich werde ihn ein wenig kürzen müssen, aber das ist Routine. Ich darf mir ihre Figur nicht betrachten. So also würde ich gerne aussehen, so würden die meisten Frauen gerne aussehen – und sie, Adele, die Glückliche, ist unglücklich!
Was ist nur mit uns Frauen los? Denken wir zu wenig? Denken wir zuviel? Nein, flüstert Sabine Müller in mir, wir denken das Falsche. Wir denken so, wie man es uns gelehrt hat, wir denken uns als die Frauen, die mann zu sehen wünscht. Lutschbonbons in Geschenkpapier. Kleine Naschereien schnell ausgepackt und konsumiert. Leckere, pralle, saftige Augäpfelchen. Austrainierte Lustmaschinen mit genau kalkulierten Rundungen. Blödsinn, zischt Constanze Corzelli, die sich in meinem Kopf nach vorne drängt. Wir wollen doch nur schön sein! Für die Männer, aber vor allem: für uns! Wir wollen die geile Mode tragen, keine Dreimannzelte auf zwei Beinen sein. Wir wollen... Frauen sein? Dumme Kuh, faucht Sabine, du kleine manipulierte Schlampe! Huch, so kenne ich sie gar nicht! Ich stelle mir vor, wie Sabines Gesicht vor Zorn tiefrot wird, wie sie nach Argumenten sucht, wie sie mit den Armen fuchtelt, wie ihr Constanze spöttisch entgegen grinst. »Und außerdem ist es gesund, gesund, gesund!« schießt es aus der Diätpäpstin heraus. »Es ist krank, krank, krank!« schießt Sabine zurück.
Könnt ihr nicht mal aufhören? Hallo? Das ist mein Kopf! Ich bin Paula Pfaff und ich weiß langsam nicht mehr, was ich tun soll!
»Schnauze, Paula«, befiehlt Constanze, »du bist nur ein Objekt. Tu gefälligst, was man dir sagt.« »Genau«, bestätigt Sabine. »Tu was man dir sagt. Hör nicht auf die Tussie. Hör auf mich. Ich meine es nur gut mit dir.« »Nein, ich meine es nur gut mit dir!« korrigiert Constanze und setzt ihr liebstes Lächeln auf. »Außerdem... du lebst von mir und nicht... von der da. Kapiert?«
Kapiert. Wisst ihr was? Verpisst euch beide. Das ist mein Kopf! Das ist mein Körper!«
Ich schwebe nicht mehr. Ich fühle mich schwer, als ich zurück ins Büro komme, ich falle wie ein gut gefüllter Sack auf meinen Stuhl. Die beiden Textdateien starren mich an, ich starre zurück. Etwas muss geschehen. Rasmus. Morgen. Etwas wird geschehen.