Die Fassade bröckelt


Wir finden rasch heraus, dass wir einiges gemeinsam haben. Beide sind wir 44 Jahre alt und geschieden, haben zur gleichen Zeit an der hiesigen Uni studiert, ohne uns jedoch über den Weg gelaufen zu sein. Was ich denn studiert hätte? Das bringt mich in Verlegenheit. »Journalismus« darf ich ja nicht sagen und so langsam frage ich mich, warum ich meinen Beruf eigentlich verleugne. »BWL«, lüge ich also. »Nach der Scheidung musste ich eben auf Sekretärin umschulen, aber war nicht schlimm.«

Thea nickt. »Mein Verflossener ist auch Lehrer, ich habe immer gearbeitet. Und übrigens: Ich bin weder lesbisch noch Feministin, also keine Angst!«

Hm. Ich verschweige lieber auch, dass ich als Studentin kurzzeitig dem Feministischen Kampfbund angehört habe und für unsere Zeitung verantwortlich war, die allerdings auch nur einmal erschienen ist. Auf dem Titelbild war eine Schere abgebildet, darunter stand: »Man kann mit Scheren nicht nur Fäden abschneiden! Mädels, hört auf zu stricken!«

Der Feministische Kampfbund löste sich dann schnell wieder auf. Ich glaube, Lena, unsere erste Vorsitzende, war daran schuld. Eines Tages teilte sie uns mit, sie sei schwanger und müsse heiraten. Schwanger? Lena? Aber die war doch... eben nicht. Heute sitzt sie für die CDU im Stadtrat und kämpft für das Ehegattensplitting.

»Ich habe nichts gegen Lesben«, sage ich lässig. »Und Feministinnen sind wir im Grunde doch alle, oder?«

Das sei wohl so, bestätigt Thea. »Aber weißt du, gerade diese Frauenzeitschriften... okay, ich weiß, du kannst nichts dafür. Du musst den Lebensunterhalt für dich und deine Tochter verdienen. Nur... kommst du dir nicht manchmal ziemlich dämlich vor bei diesem ganzen Promiblödsinn, den Häkelanleitungen, den Kochrezepten und – dieser unsäglich dummen Diätkolumne?«

Okay, vor allem das mit den Kochrezepten stimmt natürlich. Vorigen Monat habe ich wieder einmal vor zuviel fetter Sahne gewarnt – und was machen die Tussen aus der Kochrezepte-Abteilung? Sie schwärmen für Aprikosentorte mit fetter Sahne.

»Nun ja«, sage ich zögerlich, »eigentlich ist das keine Diätkolumne, sondern... eine Anleitung für gesunde Ernährung!«

Da muss Thea laut lachen. Sie reißt das inzwischen dritte Päckchen Zucker auf und kippt seinen Inhalt in den Rest ihres Espressos.

»Entschuldige, aber das glaubst du doch selbst nicht! Wie diese Frau schon aussieht, diese Constanze Dingsbums!«

»... Corzelli«, korrigiere ich.

»Meinetwegen Corzelli. Schau dir nur das Bild an! Dieses fiese Lachen – und älter wird die wohl auch nicht!«

Das kann ich nicht auf Constanze sitzen lassen. »Sag mal, du kennst dich aber aus. Liest du unsere Zeitschrift etwa heimlich?«

»Ha! Ich? Nee! Ich sehe sie nur manchmal am Kiosk. Oder wenn eine meiner Schülerinnen darin blättert.«

Gut zu wissen, dass neue Leserinnenschichten nachwachsen.

»Wie ist die eigentlich so, diese Constanze Corzelli?« will Thea wissen.

Ich zucke mit den Schultern. »Och, so genau kenne ich die ja nicht. Sie ist selten im Büro, sie arbeitet mehr von Zuhause aus. Journalistin eben. Schreibt ihre 80 Zeilen runter und sonst...«

Thea seufzt. »Dachte ich mir schon. Ein träges Weibchen, das bis in die Puppen pennt, wahrscheinlich aus gutem Hause, reich verheiratet und Stammgast beim Schönheitschirurgen. Die müsste mir mal über den Weg laufen!«

»Och, eigentlich ist die ganz nett... also sie grüßt wenigstens, wenn wir uns mal zufällig auf dem Flur begegnen.«

Nervös reiße ich jetzt auch ein Zuckertütchen auf und versüße mir den Kaffee. Hilfe! Was ist bloß in mich gefahren!

Langsam füllt sich der Raum mit den Kaffeetanten. Vor der Kuchentheke hat sich eine Schlange vorfreudiger Sünderinnen gebildet und ich möchte wetten, dass die meisten dieser Damen nächste Woche als erstes meine Kolumne lesen, sich auf die Waage stellen, zu heulen anfangen und sich vornehmen, fortan nur noch an Rhabarberstangen herumzukauen.

»Oh, sie bringen gerade frischen Käsekuchen!« Thea springt auf. »Da kann ich nie widerstehen! Soll ich dir auch ein Stück mitbringen?«

Bevor ich erschrocken »Nein!!!« schreien kann, hat sich Thea schon in Richtung der wartenden Damen entfernt. Ich muss sofort von hier verschwinden! Mein Gott, es ist gleich drei Uhr! Was soll ich im Büro erzählen? Dass ich über Rhabarber recherchiert habe? Glaubt mir kein Mensch. Ich will aufstehen – aber meine Beine sind plötzlich tonnenschwer. Ich stütze die Unterarme auf den Tisch, ächze und drücke mich langsam hoch, doch umsonst. Resigniert falle ich auf den Stuhl zurück. Was ist nur los mit mir? Was passiert da gerade? In diesem Moment kommt Thea zurück, zwei Teller balancierend.

»Ich hab sie mir gleich gesichert, was sollen wir warten, bis man uns die leckeren Sachen bringt! Hier! Lass es dir schmecken! Auf unsere neue Freundschaft!«

Eine Stunde später. Nein, sagen wir es genauer: Ein Stück Käsekuchen, einen total süßen Espresso und – ich schäme mich so! - einen Cappuccino später: Ich wanke über die Straße und fühle mich elend, mir graut davor, das Großraumbüro zu durchqueren, denn alle werden es sofort sehen: Constanze Corzelli hat gesündigt! Seht nur her, wie dick sie geworden ist! Das sind mindestens zwei Kilo!

In solch düstere Gedanken versunken schleppe ich mich die beiden Stockwerke hoch – ja, zu Fuß! Um mich selbst zu bestrafen, verzichte ich auf den Fahrstuhl. Überflüssigerweise kommt mir auf dem Flur die Hungerbühler entgegen, seit Wochen dauereuphorisiert und gertenschlank. Seit Prinzessin Kate schwanger ist, spielen auch die Hormone der Hungerbühler verrückt und schmelzen die letzten Reste Fett von ihren Hüften.

Sie nickt mir beim Vorübergehen nur kurz zu und rauscht weiter Richtung Fotostudio. Vielleicht gibt es jetzt ein neues Bild von Kates Babybäuchlein? Ich nicke kraftlos zurück und betrete das Großraumbüro.

Ella sitzt an ihrem Platz, einen Teller mit einem unanständig großen Stück der Torte vor sich. Sie hält sich schon längst nicht mehr an meine Diätempfehlungen, obwohl sie damit in Laufe der letzten zehn Jahre mindestens 100 Kilo abgenommen hat. Leider hat sie auch wenigstens 120 zugenommen, ein nicht nur mathematisch tristes Ergebnis.

»Du hättest mal sehen sollen, wie sich die Aasgeier über die Torte hergemacht haben«, informiert sie mich mit vollem Mund. »Aber das Zeug schmeckt auch wirklich priiii-ma!«

Ich enthalte mich jeglichen Kommentars, gehe in mein sogenanntes Büro – und sofort fällt mir ein, dass ich Alina von der Schule abholen muss. Sechzehn Uhr! Schnell meine Sachen zusammenraffen, alles in die Handtasche, Ella ein »Tschüss« zuwerfen (sie antwortet mit einem dumpfen Ton, der wohl ebenfalls ein Tschüss sein soll, dabei sprüht ihr eine halbe Gabelladung Torte aus dem Mund), durch das Großraumbüro, über den Flur, die Treppe runter – und vor der Tür erst einmal an die Wand lehnen und verschnaufen. Meine Kondition ist miserabel, aber wieso wundert mich das eigentlich?