Der Deckel fliegt vom Topf


Auf die Arbeit kann man sich verlassen. Sie sorgt garantiert dafür, dass die gute Laune, mit der wir das Büro betreten, innerhalb kürzester Zeit verfliegt. Zum Beispiel, wenn uns eine Frau Hungerbühler anschaut, als wären wir Pest und Cholera (und überhaupt alle Krankheiten) in einem. Und wenn Ella, als wir ihren Schreibtisch passieren und (immer noch strahlend) »Guten Morgen!« wünschen, uns komplizinnenhaft zuzwinkert. Dann wissen wir: Es stimmt mal wieder etwas nicht. Und dann schalten wir den Rechner ein, warten, bis das Ding hochgefahren ist – und Ella steht hinter uns. Habe ich schon gesagt, dass ich das hasse?

»Na? Wie war's gestern Abend noch so?«

Sie stellt ihre Frage mit der Gewissheit, dass es gestern Abend natürlich noch ganz toll gewesen sein muss. War es ja auch. Nur: Woher weiß Ella das?

»Hast mich nicht gesehen, hm? Na, verstehe ich. Du hast ja nur Augen für ihn gehabt. Im Lokal. Wir haben in der Ecke gesessen.«

Wir? Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Luft anhalten oder hyperventilieren soll.

»Rüdiger und ich. Rüdiger ist beim Finanzamt.«

Aha. Und was bedeutet das? Schlechten Sex? So sieht Ella, wenn ich sie mir genauer anschaue, nicht gerade aus. Fehlt nur noch, dass sie sich »Ich hatte gestern Nacht atemberaubenden Sex!« auf die Stirn tätowiert hätte.

»War schön«, sage ich knapp. Ella kichert.

»Klar, ist ja auch ein Sahnestückchen, dein Rasmus.«

Mein Rasmus? Okay, ich lasse ihn mir notariell überschreiben. Gibt es auch so eine Art Grundbuch, in dem man Lover registrieren lassen kann? 1A-Liebhaber in bester Lage, keine Hypotheken, gute Aussicht auf noch bessere Höhepunkte oder so.

»Rüdiger ist aber auch... wow.«

Alles ist heutzutage irgendwie »wow«. Nur das Wetter selten und die Politik schon gar nicht.

»Der Hungerbühler ist fast die Tagescreme aus der Visage gebröckelt«, kichert Ella. Der Hungerbühler?

»Na ja« - sie macht ein besonders unschuldiges Gesicht, meine liebe Ella - »wir haben uns vorhin unterhalten, was wir so am Wochenende machen... Also Rüdiger und ich wissen schon genau, was. Und da ist mir halt rausgerutscht, dass ich euch, also Rasmus und dich, in der Südtorschenke... und dass ich mir sicher bin, dass ihr auch schon genau wisst, was am Wochenende so bei euch läuft.«

Okay. Es ist sowieso alles egal. Und der Gedanke, dass in der Hungerbühler gerade zig Massenmörder damit beschäftigt sind, sich besonders grausame Todesarten für gewisse Kolleginnen auszudenken, ist wirklich nicht der schlechteste.

In meinem Blog tobt gerade ein Krieg zwischen »Tojamaus« und »Anne_Ku«. Tojamaus hat fünf Kilo mit meiner Kokoswasserdiät abgenommen, Anne_Ku hält dagegen, Kokoswasser sei nicht nährstoffreicher als Mineralwasser und meine Diät nur ein plumper Werbetrick der Kokoswasserindustrie. Daraufhin nennt Tojamaus Anne_Ku eine Lobbyistin der Mineralwasserindustrie, was Anne_Ku nicht auf sich sitzen lässt und damit droht, ihren Anwalt einzuschalten. Während sie sich gegenseitig juristische Schritte androhen, mischen sich weitere Teilnehmerinnen an meiner Kokoswasserdiät ein. Die meisten haben Gewicht verloren – und nach spätestens drei Monaten wieder auf den Rippen gehabt, plus Zinsen. Keine gute Stimmung für Constanze Corzelli im Moment.

Bei Facebook geht es gerade um Grundsätzlicheres. Thea, die anscheinend die ganze Nacht auf der Seite verbracht hat, gibt bekannt, eine neue Webseite »Jetzt reden wir – die Opfer von CC« sei bereits in Planung. Was immerhin 439 Personen mit einem erhobenen Daumen versehen. Ich wechsele meine Identität und rufe die Facebookseite von Sabine Müller auf. Oh mein Gott. 760 Freundschaftsanfragen! Soll ich die jetzt alle einzeln bestätigen?

Lieber einen Kaffee trinken. Wieder an der Hungerbühler vorbei, in der sich die Killer inzwischen wohl auf eine besonders langsame und schmerzhafte Todesart für Paula Pfaff geeinigt haben. Jedenfalls grinst mich die Hungerbühler diabolisch an. Ich grinse wie ein unschuldiges Engelchen zurück.

Ob ich mal bei Ludwig vorbeischauen sollte? Einen Grund gibt es eigentlich nicht, oder? Doch. Ich muss an Rasmus' Büro vorbei. Der Gedanke weckt sofort die Schmetterlinge in meinem Bauch. Heute Abend. Wir. Allein. In seiner Wohnung. Unsere Alinas aushäusig, wie man so sagt. Wir haben sturmfrei! Es wird einen Orkan geben! Oder eher ein laues Lüftchen? Denk positiv, Paula! Meine Stimmung weiß mal wieder nicht, ob sie lieber ins Tal oder auf den Gipfel möchte. Sei's drum. Ich gehe Ludwig besuchen.

Enttäuschung: Rasmus' Büro ist leer und sieht auch nicht so aus, als sei es heute schon benutzt worden. Der Rechner schläft. Ob er sich extra freigenommen hat? Natürlich! Er muss seine Wohnung auf Vordermann bringen! Alleinerziehender Vater, pubertierendes Töchterlein, das ist der ideale Nährboden für herumliegende Pizzaschachteln, fingerdicken Staub, ausgeschüttete Fläschchen mit Nagellack und Dutzende ungewaschener Socken im Bad.

Wenigstens ist Ludwig an seinem Arbeitsplatz und mit seinem Lieblingsspielzeug Photoshop zugange. »Hallo«, sagt er strahlend (aha, auch einer der weiß, was er am Wochenende macht), »das ging aber fix. Hab leider im Moment keine Zeit, aber am Montag gleich als erstes, okay?«

Wovon redet der? Ich schaue wie das personifizierte Fragezeichen.

»Du kommst doch wegen dem Foto, ja?«

»Welches Foto?«

»Das neue. Ich meine: das von dir.«

»Könntest du etwas deutlicher werden, lieber Ludwig?«

Er strahlt immer noch.

»Also ich find's klasse. Ich meine... dieser ganze Aufstand im Internet gerade. Wegen dir. Also wegen Constanze Corzelli. Und Milkers findet es auch klasse. Nur...«

»Was nur?« Der Name Milkers hat meiner Stimmung sofort signalisiert, sie solle in den Keller gehen und sich schämen, dass sie heute Morgen so positiv war.

»Nur... Constanze Corzelli gibt es nicht. Also fotomäßig. Also doch. Dieses australische Model.«

»Weiß ich.«

»Klar, weißt du. Aber du kannst ja kaum in diese Talkshow da reingehen und der Moderator sagt: Das ist Constanze Corzelli und dann bist es halt du und nicht das australische Model. Ist logisch.«

Im Moment ist nur eines logisch: dass ich gleich verrückt werde. Foto? Talkshow? Ganz langsam schwant dem guten Ludwig, dass ich von nichts weiß. Er klärt mich auf.

»Also. Milkers war vorhin hier und hat mich beauftragt, ein Foto von dir zu machen. Und gegen das von diesem australischen Model auszutauschen. Er selbst will dann einen großen Bericht schreiben und erklären, warum Constanze Corzelli eigentlich Paula Pfaff heißt. Wegen der Presse, ja? Es gibt Interviewanfragen. Den Kollegen ist der ganze Trubel im Internet nicht entgangen. Und eine Talkshow hat auch schon angefragt. Großer Showdown. Du und diese Sabine Müller.«

Mir wird schlecht. Schwarz vor Augen. Ich wanke bedenklich.

»Ist was?« kreischt Ludwig fast panisch. Was soll denn sein? Meine Existenz geht gerade den Bach runter. Paula Pfaff, das Gespött von halb Deutschland. Nein, ganz Deutschland! Plus Österreich und Schweiz. Paula Pfaff, die in einer Talkshow mit Sabine Müller und Constanze Corzelli sitzt und aus Kostengründen beide Rollen übernimmt. Nein, nein, mir geht es prima, Ludwig. Ich sterbe nur gleich.

»Ich muss sofort zu Milkers« bringe ich mühsam heraus und halte mich am Schreibtisch fest.

»Der ist schon wieder weg«, verkündet Ludwig die Hiobsbotschaft. »Irgendeine Konferenz, Frauenzeitschriften im Wandel der Zeit und vor den Herausforderungen der Moderne oder so. Soll ich dir ein Wasser bringen? Bist du etwa schwanger?«

Kann man so sagen. In mir wächst etwas heran. Eine Katastrophe. Irgendwie schaffe ich es zurück in mein Büro, auf meinen Stuhl. Bis Montag habe ich Galgenfrist. Und dann...