Die Schlinge zieht sich zu


»Spätestens übermorgen schalten wir die Webseite online! Das wird ein Fest!«

Ich höre Thea nur mit einem Ohr zu. Das andere bemüht sich vergebens, die Balzgeräusche drei Tische weiter zu entziffern. Dort sitzt Rasmus. Schön. Mit der Hungerbühler. Unschön.

»Wir haben ne geile Grafik bekommen! Drei richtig pralle Hintern in hautengen Jeans! Und darüber der Schriftzug DIE VERSCHWÖRUNG DER FETTEN FRAUEN! Wie findest du das?«

»Hm, prima, klasse, kommt bestimmt gut.« Mein Herz hat stillgestanden, als ich ins Café Meier gekommen bin und die beiden dort hinten sitzen gesehen habe. Hab natürlich so getan, als würde ich sie nicht sehen. Schiefgegangen. Rasmus hat mir zugenickt und sehr unsicher gelächelt. War ihm peinlich. Warum eigentlich? Wir haben doch nichts miteinander oder hab ich was verpasst? Wie der seine Hormone regelt, ist mir doch so was von egal! Dieser Schuft!

»Und das Beste, du glaubst es nicht: Sabine Müller wird einen großen Artikel schreiben! Constanze Corzelli und die Rharbarberlüge!«

Hm, doch, glaube ich. Weiß ich doch. Vorgestern hat Sabine Müller mit Thea gechattet. Sabine war so was von stinksauer! Weil Paula Pfaff, das arme Hascherl, Rasmus auf dem Flur begegnet ist und sie haben sich kurz angelächelt und Rasmus hat überarbeitet ausgesehen und gestresst, weil er doch die Website relaunchen muss, wobei Paula sich unter »relaunchen« überhaupt nichts vorstellen kann. Sie haben sich also zugelächelt und »hallo« gesagt und sind aneinander vorbeigegangen und das war's.

Und davon wird abends dann Sabine Müller sauer? Ja, so ist das, wenn man die gespaltenen Persönlichkeiten nicht unter Kontrolle hat.

Ich habe mir fetten Kartoffelsalat mit Knackwurst bestellt. Aber richtig fett! »Und sparen Sie nicht an der Mayonnaise!« habe ich Elvira noch nachgerufen, laut genug, dass die Hungerbühler zusammengezuckt ist und mich dann schief angegrinst hat. Ignorieren. Die mit ihrem hellrosa Sommerkleidchen, den mageren Armen und den Beinen, mit denen sie für jede Orange werben könnte.

»Geht's dir gut?« fragt Thea besorgt.

»Ja, klar, warum soll's mir nicht gutgehen?« frage ich naiv zurück. »Nur ein bisschen im Stress, aber das kennst du ja. Wie ist Sabine Müller so? Nett?«

Sie sei sehr nett, beteuert Thea. »Wir haben uns lange unterhalten, sie wohnt leider ziemlich weit weg, aber sie hat prima Argumente gegen diese Corzelli und überhaupt. Sie ist eine von uns.«

Eine von uns. Ich habe keine Ahnung, was Sabine Müller schreiben soll. Das Heft mit dem Rhabarberjoghurt ist seit drei Tagen am Kiosk, schon bringt mir der Bote jeden Tag zwanzig Zuschriften begeisterter Leserinnen. »Ich habe gar nicht gewusst, dass Rhabarber auch ungesüßt so schmecken kann! Und schon 300 Gramm abgenommen!« Okay, ich weiß immer noch nicht, dass ungesüßter Rhabarber schmecken kann. Aber wisst ihr was? Ich muss ihn auch nicht essen, ha ha! Ich habe mich entschlossen, fett zu werden, so richtig fett, der Gegenentwurf zur Hungerbühler sozusagen. Gestern Morgen habe ich sie mit Rasmus in der Kaffeeküche erwischt. Sie haben natürlich so getan, als wollten sie sich nur Kaffee holen, Zufall, Zufall. Aber sie standen sich gegenüber wie Torero und Stier, wobei man nicht sagen konnte, wer wer sein sollte. Wild. Ekstatisch. Bereit, aufeinander loszustürmen.

Heute ist einfach nicht mein Tag. Gestern war nicht mein Tag. Schweigen wir ganz von vorgestern und vorvorgestern. Morgen wird schon gar nicht mein Tag sein, das weiß ich jetzt schon. Als Frau Mitte vierzig kannst du froh sein, wenn du überhaupt noch deine Tage hast. Früher hast du sie verflucht, jetzt sehnst du sie herbei wie die Wüste den Regen.

»Ich bin mal gespannt, ob diese Constanze auf Sabines Artikel reagieren wird. Mann, das wäre obergeil!«

Wird sie, wie ich sie kenne. Mein Gott, ich sollte alles hinwerfen! Mit jeder Gabel Kartoffelsalat, die ich in mich reinschaufele, wird mir klarer, dass ich mein Leben ändern muss. Raus aus diesem Hamsterrad, weg von Rhabarber und Kalorien.

Du hast einfach Angst vor dem Älterwerden, sagt die Sabine Müller in mir. Ja, schon gut, spar dir deine Weisheiten. Ich weiß selber, was mit mir los ist. Ich will nicht einmal mit Monat durch Clubs ziehen und schauen, ob ich auch noch einen Mann für eine Nacht abschleppen kann. Mich nicht abends fragen müssen, was ich eigentlich den ganzen Tag gemacht habe. Nicht zusehen, wie mein Körper welkt. Eigentlich... möchte ich nur noch auf einer Couch sitzen, fernsehen, mich pausenlos mit Kartoffelsalat und Würstchen mästen, eine glückliche und zufriedene fette Dame sein, die die Welt an sich vorbeirauschen lässt und in deren Kopf kein Platz für Zynismus und Resignation ist.

»Espresso?« Wenn Thea diese Frage stellt, brauche ich nicht mehr zu antworten. Sie hat auch schon Elvira ein Zeichen gemacht, zwei ausgestreckte Finger, Elvira hat genickt.

Bevor uns Elvira mit den Muntermachern versorgt, steuert sie den Tisch von Rasmus und der Hungerbühler an. Aha, die wollen zahlen. Immerhin tun sie es noch getrennt. Daniela lacht. So haben wir früher geweint. Rasmus, ganz Gentleman, hilft ihr ins Jäckchen. Sie kommen an unserem Tisch vorbei. Die Hungerbühler dreckig grinsend, Rasmus versucht ein Lächeln, es misslingt ihm fürchterlich.

»Kollegen?« fragt Thea. Ich nicke. »Ja, aber kaum Kontakt. Die Frau ist übrigens die Busenfreundin von Constanze Corzelli. Vielleicht noch schlimmer als die. Guck sie dir an. Nichts als Haut und Knochen.«

»Und Augen wie eine Kuh, wenns donnert«, kichert Thea. »Aber der Typ sieht ganz nett aus, oder?«

Ich schnappe nach Luft. »Ach, vergiss den. Womanizer durch und durch. Der zahlt mehr Alimente als der Papst.«

»Trotzdem«, lacht Thea und zwinkert mir zu. »Eine Sünde wäre der wert, oder?«

Ich erspare mir die Antwort, es ist sowieso Zeit, zurück ins Büro zu gehen und die neue Kolumne zu konzipieren. »Fit statt fett! Fünf Strategien für eine straffe Haut«. Mehr als diese Überschrift habe ich noch nicht. Und wieso »fünf Strategien«? Keine Ahnung. Für zehn reicht der Platz nicht und drei sind zu wenig.

Wo ist die Hungerbühler? Nicht an ihrem Arbeitsplatz. Flirtet sie wieder in der Kaffeeküche? Oder ist sie in seinem Büro, schaut ihm scheininteressiert über die Schultern und parkt ihre mickrigen Titten auf seinem Kopf? Mir doch egal!!!

»Könnte ich mal mit dir reden?« Es trifft mich wie ein elektrischer Schlag. Er. Hinter mir. Seine Stimme. Er will reden. Mit mir. Reiß dich zusammen, Paula.

»Ja klar«, antworte ich so neutral wie möglich und drehe mich langsam um. Da steht er. Lächelt. Dieser verlogene Hund!

»Schön... sollen wir einen Kaffee zusammen trinken? Bei mir?«

Und was soll das jetzt? Bei ihm? Was wird das hier? Die alte »gehen wir zu dir oder gehen wir zu mir oder treiben wir's schnell hier auf dem Teppich?« - Nummer?

»Ja... warum nicht«, antworte ich und stehe auf. Wenn wenigstens die Hungerbühler wieder an ihrem Platz wäre und sehen könnte, wie wir beide jetzt in sein Büro abziehen! Aber leider, sie ist immer noch abwesend. Ich hoffe, sie sitzt mit Dünnpfiff auf dem Klo.

In der Küche haben wir uns mit Kaffee versorgt und sind den Flur zu seinem Büro entlanggegangen, schweigend. Dort setzen wir uns und trinken unseren Kaffee, schweigend. Wir werfen uns Blicke zu, schweigend. Wir spielen altes Ehepaar.

»Es geht um die Leserinnenbindung«, sagt Rasmus endlich. »Du weißt vielleicht selbst, was im Moment im Netz gegen dich abgeht.«

»Shitstorm«, sage ich, damit er wenigstens weiß, dass ich nicht ganz so computerblond bin. Er nickt. »Na ja, ganz so schlimm wohl nicht. Aber du sollst als Constanze Corzelli dagegen halten. Und deshalb... Ich möchte dir ein Blog einrichten.«

Na toll. Zu den Papierleserinnenbriefen kommen jetzt auch noch elektronische. Und das Schlimmste: Du musst ab sofort 24 Stunden verfügbar sein, auf jeden dämlichen Kommentar antworten, so dass alle es mitlesen können.

»Okay«, sage ich und betrachte den Rest des Kaffees in meiner Tasse. Ob Daniela Hungerbühler auch ein Blog bekommt? Das Queenblog? Das Kate-hat-einen-Braten-in-der-Röhre-Blog?

»Na fein!« sagt Rasmus. »Wir sollten uns mal ausführlich drüber unterhalten. Design und so.«

»Tun wir das nicht gerade?« Warum klinge ich so gereizt? Weil der Kaffee so beschissen schmeckt? Nein, tut er immer, man hat sich dran gewöhnt.

Rasmus tut so, als hätte er nicht gemerkt, dass ich gereizt bin, warum auch immer. Er fährt mit der Maus über die Tischplatte. Was soll das jetzt? Okay, reden wir über das Design!

»Ich dachte... aber okay, das ist natürlich blöd, weil man ja Privates und Berufliches... Aber wenn wir vielleicht an einem anderen Ort als hier drüber reden könnten?«

So, so. Wir können ja zur Hungerbühler rübergehen und ein konstruktives Dreiergespräch führen. Wie man einen Blog stylt, mit Schminktipps von Daniela Hungerbühler.

»Hm«, mache ich und schaue mich um. Auf Rasmus' Schreibtisch steht ein Foto. Junges Mädchen, höchstens dreizehn. Seine Tochter? Interessiert mich überhaupt nicht. Ja, bestimmt seine Tochter. Sie gleicht ihm irgendwie.

»Was hm?« Er versucht locker zu werden.

»Na hm.« Mein Gott, was für ein Gespräch! Hätten wir doch besser geschwiegen.

»Also ja? Oder nein?«

»Was ja oder nein?«

»Na, bei einem Abendessen.«

»Was bei einem Abendessen?«

»Reden.«

»Über was?«

»Blog.«

»Ach so.«

»Ja.«

»Hm.«

»Hm ja oder hm nein.«

»Hm ich überlegs mir.«

»Ja.«

»Ja.«

Ich finde, es geht nichts über eine kultivierte Konversation, bei der man sich mal so richtig ausspricht.