Sex und Rhabarber
»Sag mal, Ma, wie ist das eigentlich – ein Leben ohne Sex?«
Ich traue meinen Ohren nicht. Habe ich das gerade richtig verstanden? Meine Tochter Alina kaut den Rest ihres opulenten Frühstücks, was sie noch nie daran gehindert hat, etwas zu sagen. Schließlich beherrschen Frauen Multitasking.
»Wie bitte?«
Sie wiederholt die Frage und greift nach einem weiteren Brötchen.
»Na, interessiert mich halt. Schließlich hast du seit mindestens fünf Jahren keinen Typen mehr angeschleppt, ich vermute also, du bist durch mit dem Thema Sex.«
»Dafür steckst du mittendrin. Wieviel waren es vorige Woche? Drei? Oder habe ich einen übersehen?«
Alina denkt ernsthaft nach und nickt dann. »Ja, drei glaube ich. Aber alles furchtbare Enttäuschungen. Außerdem binde ich mich sowieso nicht fest, erst wenn ich alt bin. Fünfundzwanzig oder so.«
Mit fünfundzwanzig habe ich geheiratet. Nicht den Zweit- oder den Drittbesten, sondern den Erstbesten.
»Sechs«, sage ich knapp.
»Sex?« echot es zurück.
»Nein, die Zahl, nicht die Tätigkeit. Ich habe seit sechs Jahren keinen Typen mehr angeschleppt, wie du es nennst. Er hieß Waldemar, schon der Name hätte mich stutzig machen sollen.«
»Ach ja«, seufzt Alina, »ich erinnere mich. Er hat mich Putzi genannt.«
»Mich auch«, seufze ich zurück.
»Oh mein Gott«, kommentiert meine schlaue Tochter völlig zurecht. »Und seitdem? Was machst du statt Sex? Arbeiten?«
»Geld verdienen«, präzisiere ich und schaue mich um. Die hypermoderne Küche, die kuschelige Fußbodenheizung, die moderne Kunst an den Wänden. Statt Orgasmen Konsumartikel, die halten auch länger.
Alina widmet sich ihrem Brötchen, es ist schon das dritte, ich habe mitgezählt. Sie bestreicht es dick mit Butter und noch dicker mit Nutella. Die Constanze Corzelli in mir bekommt Krämpfe. Ab und zu, wenn die verstecken Rabenmuttereigenschaften in mir zum Vorschein kommen, sehne ich mich nach dem Tag, an dem Alina auf der Badezimmerwaage steht und laut durch die Wohnung brüllt: »Oh nein, ich habe hundert Gramm zugenommen!« Mein Verstand sagt mir: Glaub nicht an Wunder.
»So, wir müssen gleich los«, lenke ich mein allzu wissbegieriges Töchterlein ab, »morgen ist Redaktionsschluss, es geht wieder drunter und drüber.«
Stimmt sogar. Aber eigentlich hätten wir noch fünf Minuten Zeit. Fünf Minuten, in denen ich Alina erklären könnte, dass ich mit Männern »durch« bin, seit die Fettpölsterchen an meinen Hüften und Oberschenkeln nicht mehr zu übersehen sind. Sie würde das nicht verstehen. Sie würde »aber du bist doch nicht fett!« trösten, würde mich daran erinnern, dass ihre beste Freundin (Insiderjargon: BF) Janina viel fetter sei als ich, aber superlieb und superhübsch und überhaupt supersuper.
»Ja«, würde ich zugeben, »das ist unsagbar dumm von mir. Warum sollte ich mich schämen, einem Mann nackt gegenüber zu treten? Womöglich noch einem, der selbst eine besonders deformierte Sorte von Waschbrett vor den Rippen hat? Aber es ist nun einmal so. Es hat lange gedauert zu vergessen, dass es der Spiegel heißt, das Ding also männlich ist. Wenn ich heute nackt davorstehe, weil mir nach Horror ist, nenne ich ihn das Glas. Okay, ich gehe mal zum Psychologen.«
Nein, werde ich nicht. Ich stehe auf, greife nach dem Geschirr, während Alina ihr Heiligtum, das Nutellaglas, zurück in den Kühlschrank stellt. Ja, in den Kühlschrank! Sie mag das Zeug kalt am liebsten, ich weiß nicht, von wem sie solche Geschmacksverirrungen hat. Wahrscheinlich von ihrem Vater.
Ich setze Alina vor der Schule ab und sehe ihr nach, wie sie in ihren Ballerinas über den Asphalt schwebt, ein himmlisches Wesen, federleicht, wie sie sofort von ihresgleichen umschwirrt wird, ebenso schwebenden Geschöpfen, um die sich natürlich gleich eine Gruppe schwerfälliger, pickliger Lemuren gescharrt hat, Jungs eben. Alina dreht sich noch einmal um und winkt mir zu, ich winke zurück und fahre weiter.
Rhabarber. Ich gebe zu, dass ich erst mal im Duden nachschauen musste, wie man das Wort überhaupt richtig schreibt. Aber nicht deshalb hat es zehn Jahre gebraucht, bis es der Rhabarber endlich zum »Gemüse des Monats« geschafft hat, einem festen Bestandteil meiner Kolumne. Ganz ehrlich: Ich habe bis vor kurzem Rhabarber für ein besonders verabscheuungswürdiges Obst gehalten, nur mit Unmengen Zucker genießbar.
Aber nein, Rhabarber ist ein Gemüse! Wächst in rauen Mengen, braucht kaum Pflege, kann ab Mitte April geerntet werden. Der Anteil an Kohlehydraten und Fett ist zu vernachlässigen, dafür ist Rhabarber reich an Vitamin C, enthält Kalium, Calcium und Magnesium, der Clou jedoch: In 100 Gramm stecken gerade einmal 13 Kalorien! Bekannt ist Rhabarber vor allem für seine abführende Wirkung.
Während ich mich durch den Stadtverkehr quäle, repetiere ich die Fakten. Das Ganze hat halt nur einen Nachteil: Kein vernünftiger Mensch schneidet sich eine Stange Rhabarber ab und isst sie fröhlich auf. Der Geschmack ist sauer, sofort wird die Speichelproduktion aktiviert und der Zwang, das Zeug einfach auszuspucken, gewinnt die Oberhand über die gute Kinderstube. Deshalb konsumieren die meisten Menschen Rhabarber als Marmelade und Kompott, mit viel Zucker und einer wohlschmeckenden Ergänzung, Erdbeeren zum Beispiel.
So. Daraus muss ich jetzt eine Kolumne basteln. Etwas, das die Leute überzeugt, es einmal mit Rhabarber zu versuchen.
Bevor ich in mein Büro gehe (und dort möglicherweise auf die Möhren-Magerquark-Torte treffe), schaue ich in unserer Bildabteilung vorbei. Ludwig, »Deutschlands beliebtester Obst- und Gemüsefotograf«, sichtet Fotos auf seinem Computerbildschirm. Aha, Rhabarber. Als er mich sieht, verzieht er das Gesicht, als habe er gerade in eben diesen Rhabarber gebissen.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass Rhabarber erst ab Mitte April wächst? Wir haben jetzt Mitte März! Ich muss auf Archivaufnahmen zurückgreifen.«
Ich zucke mit den Schultern. »Das ist doch Allgemeinwissen, oder? Und sei froh, dann suchst du einfach etwas Schönes raus und wir sind durch.«
»Die sehen aber alle aus wie Penisse«, gibt Ludwig zu bedenken, »von mir sind die nicht, wahrscheinlich noch von meinem Vorgänger, der war bekanntlich schwul.«
Etwas, das Ludwig keineswegs ist. Früher hat er eine Zeitlang für ein Teenie-Modemagazin gearbeitet, aber dann ist herausgekommen, dass er regelmäßig über Nacht Arbeit mit nach Hause genommen hat. Jetzt hat er dem jungen Gemüse entsagt und widmet sich dem richtigen.
Aber er hat schon Recht. Die Rhabarberbilder sehen wirklich komisch aus. Ich werde aufpassen müssen, wenn ich meinen Artikel schreibe, dass nicht zu oft das Wort »Stange« darin vorkommt. Sätze wie »Nehmen Sie die Stange in die Hand und lutschen Sie daran« passen einfach nicht in eine Illustrierte für die ganze Familie.
Wir entscheiden uns schließlich für ein halbwegs unverfängliches Foto, das Ludwig digital aufpeppen wird. Die Präsentation ist schließlich alles. Schicke Beleuchtung, ein paar glänzende Erdbeeren um die Stange drapiert, gut macht sich immer auch ein Haustier im Hintergrund, eine Katze auf der Fensterbank oder ein Hund in seinem Körbchen.
»Okay, ich überleg mir was«, verspricht Ludwig. »Heute Mittag hast du's. Gehst du jetzt in dein Büro?«
Habe ich eigentlich vor.
»Gut, dann mach bitte gute Miene zum bösen Spiel.«
Mehr sagt er nicht. Auf das Schrecklichste vorbereitet mache ich mich auf den Weg. Einige Kolleginnen, denen ich unterwegs begegne, gucken schon so komisch. Aha, Möhren-Magerquark, mein absoluter Hit vom Juli 2009, in allen Supermärkten waren damals Möhren und Magerquark ausverkauft. Die Torte hat übrigens scheußlich geschmeckt.
Mein Büro liegt am Ende des Großraumbüros und ist eigentlich gar kein richtiges, sondern nur ein durch drei Stellwände vom Rest abgesondertes Quadrat. Etwas steht auf meinem Schreibtisch, hinter mir giggeln die Kolleginnen. Doch, ich werde sie alle umbringen.
»Freust du dich?« Ella steht hinter mir, als ich regungslos auf meinen Schreibtisch starre. Sahnetorte. Richtige fette Sahnetorte. Zehn Schokoladenkerzen, die Dochte aus Marzipan. Sie wissen genau, dass ich das nicht essen darf! Jetzt werde ich sie auf jeden Fall umbringen.