Der Webmaster



»Das ist Rasmus. Unser neuer Webmaster.«

Endlich einmal eine Redaktionskonferenz, die sich lohnt. Der Chef hat den Neuen mitgebracht und vor die versammelte Belegschaft gestellt. Er hält uns einen Vortrag über Social Marketing, über die Zukunft des Journalismus, der natürlich digital sein wird, und über die Notwendigkeit, vierundzwanzig Stunden für unsere Leserinnen verfügbar zu sein. Interessiert keinen.

Wir schauen uns Rasmus an. Ich schiele zu Daniela Hungerbühler rüber, in deren Kopf gerade ein Wort wie eine Leuchtreklame aufblinkt: BEUTE! Ella überlegt, wie sie auf schnellstem Wege zwanzig Kilo abnehmen kann und verflucht die Bäckertüte. Mir hingegen tut er leid. Rasmus. War seinen Eltern nicht klar, was sie dem Jungen mit diesem Namen antun? Worauf reimt sich Rasmus? - Genau. Sein Liebesleben muss schrecklich sein.

Aber er hat eins, keine Frage, so wie der aussieht! Ich schätze ihn auf Mitte dreißig, ein blonder Schlacks mit Lachgrübchen, geht locker auf die 1,90 zu, die Oberarme unter dem Hemdstoff machen nicht den Eindruck, als könnten sie keinen Kühlschrank in den fünften Stock schleppen. Vor den abschätzigen Blicken eines knappen Dutzends gieriger Augenpaare zu stehen, macht ihn offensichtlich verlegen. Steht ihm gut...

»Herr Borcherts wird im Laufe der nächsten Tage auf die Damen einzeln zukommen«, verspricht Milkers. Wir stellen uns vor, wie Herr Borcherts auf uns zukommt. Einzeln...

»Der sieht nicht schlecht aus«, stellt Ella fest, als wir wieder im Büro sind. Na bravo, da wäre ich nicht von selbst drauf gekommen.

»Einen Ehering trägt er auch nicht«, fährt Ella fort. »Aber für uns ist er leider zu jung.«

Eben. Ich mache »tja« und gehe an meinen Schreibtisch. Rhabarberjoghurt. Darmreinigend und entschlackend.

Den Rest des Vormittags widmete ich wieder der Leserinnenpost, all den kleinen Tragödien um Hüftspeck und faltige Oberschenkel, Doppelkinne und ausladende Hinterteile, den herzzerreißenden Geschichten um verbrecherische Waagen, die einfach nicht zugeben wollen, dass man abgenommen hat, den vielen Erfolgsmeldungen auch, in denen mich Leserinnen für die nächste Heiligsprechung vorschlagen, nur weil sie dank meiner Bananendiät (»Vier Mahlzeiten täglich, meine Damen, und jede besteht aus einer Banane!«) drei Kilo abgenommen haben. Die sie in spätestens zwei Wochen plus Zinsen wieder zurückbekommen. Ich seufze.

Und freue mich auf die Mittagspause! Thea hat heute leider keine Zeit, Versetzungskonferenz. Dabei gibt es heute Lasagne im Café Meier! Schöne, fette Lasagne! Ich darf gar nicht dran denken, eine sabbernde Redakteurin ist einfach nur peinlich.

Kurz nach dreizehn Uhr. Die Kolleginnen laufen allmählich wieder ein, das Café Meier ist journalistinnenfreie Zone. Natürlich muss ich aufpassen, dass mich keine von denen vor meiner Lasagne erwischt. Der Schaden wäre enorm. Constanze Corzelli isst etwas anderes als Salat! Das wäre das Ende für die berühmte Diätpäpstin, das Ende auch des angenehmen Lebens von Paula Pfaff. Wäre das so schlimm? Ich starre auf den Monitor, auf die Rhabarberstange inmitten frischer Erdbeeren. Nein, wäre es nicht. Irgendwie.

»Lasagne?« Elvira fängt mich schon an der Tür ab und zwinkert mir zu. Sie hat sich erstaunlich schnell daran gewöhnt, dass aus der lustlosen Salatgästin eine lustvolle So-fett-wie-möglich-Gästin geworden ist. Ich zwinkere zurück. Wir verstehen uns.

Während ich auf mein Essen warte, stelle ich mir vor, wie es wäre, nicht mehr Constanze Corzelli zu sein. Es wäre schrecklich, das wird mir mit einem Male klar. Kein festes Einkommen mehr. Es sei denn, ich bekomme einen anderen Zuständigkeitsbereich in der Redaktion, das holländische Königshaus zum Beispiel, blonde vollschlanke Wonneproppen, und als Sahnehäubchen noch die deutschen Schlagermädels obendrauf. Das wäre – noch schrecklicher.

Natürlich könnte ich versuchen, bei einer anderen Zeitung oder Zeitschrift unterzukommen. Oder bei einer Online-Redaktion. Oder endlich meinen Traum wahrmachen und ein Buch schreiben. Über was? Keine Ahnung, aber das ergibt sich. Ich könnte vielleicht auch...

»Oh, Frau Pfaff, darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Ich habe ihn gar nicht kommen sehen. Rasmus Borcherts, unser neuer Webmaster, er lächelt mich an. Wenn du jetzt rot wirst, Paula, musst du zur Strafe in den VHS-Kurs »Hilfe, ich bin schüchtern! Ein Flirtkurs für Pubertierende von 14 bis 84«.

»Äh...ja, ich meine... ja.« Wenigstens bin ich bei meinem Gestammel nicht rot geworden. Hoffe ich.

»Die Kolleginnen haben mir erzählt, dass man hier gut essen kann.«

»Ja... doch... Haben Sie sich schon ein bisschen eingelebt?«

Och Paula, was fragst du für einen Quatsch! Der Mann ist seit vier Stunden in der Redaktion!

»Ich bemühe mich.« Rasmus lächelt. Mein Gott, wie dieser Mann lächeln kann! Ob ich zurücklächeln soll? Lieber nicht. Sonst fällt ihm plötzlich ein, dass er überhaupt keine Zeit hat und verschwindet.

Verschwinden. Elvira soll verschwinden! Tut sie aber nicht. Sie nähert sich dem Tisch, ein Tablett mit meinem Lasagneteller vor dem bebenden Busen, wie der Dichter sagt.

»Sooooo«, sagt sie und nimmt den Teller vom Tablett, »Ihre Lasagne! Extra große Portion!«

Hilfe. Bitte, lieber Gott, sag mir, dass ich mich gerade in einem fürchterlichen Albtraum befinde. Gott schweigt. Oder er sagt: Deine Lasagne musst du jetzt schon selber ausgabeln, du gefräßiges Weib.

»Oh«, sage ich schnell und schaue Rasmus an. »Ich glaube, das ist für Sie.«

Rasmus runzelt die Stirn und lächelt gleichzeitig. Der Mann ist ein Genie.

»Ich hab noch gar nichts bestellt!«

»... und ich einen kleinen Salat – ohne Brot!« sage ich schnell. Elvira, noch immer den Teller in der Hand, ist sichtlich verwirrt. »Aber...«

»... aber wenn Sie schon mal da sind – ich nehme die Lasagne gerne!«

Elvira wirft mir einen Blick zu, den ich lieber nicht deute, und stellt den Teller vor Rasmus. Sie wirft mir einen zweiten Blick zu, der nicht freundlicher ist als der erste. »Für Sie also einen Salat? Dann habe ich wohl was falsch verstanden!«

Scheint mir auch so. Ich atme langsam aus und beruhige meinen Puls.

Oh ja, es ist ein romantisches Tete-à-Tete, Rasmus und Paula im Café Meier, er spachtelt mit Appetit eine extragroße Portion Lasagne, sie blättert sich frustriert durch den Salat. Na warte, denke ich, heute Abend. Ich werde in die Metzgerei Wörries gehen, direkt bei mir um die Ecke, sie haben selbstgemachte Lasagne, neben der das Zeug hier popelig aussieht. Möchte gar nicht wissen, was da alles drin ist. Pferd? Wäre noch das Harmloseste. Die machen die doch nicht selbst, kann mir niemand erzählen. Ich tippe auf Tiefkühlkost vom Discounter, Billigware. Rasmus schmeckt es aber. Wenn er bei Frauen keinen besseren Geschmack hat, habe ich ja direkt Chancen bei dem.

Er ist übrigens schon 37, wie er mir zwischen zwei Bissen preisgibt, »eigentlich habe ich Theologie und Philosophie studiert, aber überraschenderweise ist der Arbeitsmarkt da ziemlich überschaubar.«

Er lacht. Oh, warum kann er nicht endlich aufhören zu lachen! Ich hänge an seinen Lippen und lüge mir vor, es wäre nur wegen der Lasagne, die in regelmäßigen Intervallen zwischen diesen Lippen verschwindet.

»Schmeckt's?« frage ich. »Und wie!« antwortet dieser Sadist. »Und Ihr Salat schmeckt nicht? Sie essen ja kaum was.«

Sofort spieße ich zwei grüne Blätter, ein Stück Radieschen und eine Gurkenscheibe auf, schiebe sie in den Mund und kaue genüsslich. Na ja, das mit dem genüsslich versuche ich wenigstens. »Doch, schmeckt prima.«

»Veganerin?«

»Nein, Deutsche.«

»Haha! Sie sind also Constanze Corzelli!«

Jetzt ist es raus! Milkers hat mich schmählich verraten. Ja, ich gestehe, ich bin Constanze Corzelli. Und wenn du nur einen Funken Anstand im Leibe hättest, Rasmus Borcherts, würde dir sofort der Bissen deiner völlig fetten und ungesunden Lasagne im Halse steckenbleiben.

Rasmus Borcherts hat keinen Anstand. Er hat Hunger. Er nickt. »Sie gleichen gar nicht dem Foto«, stellt er fest. »Das bin ich auch nicht«, kläre ich auf. »Das freut mich«, sagt er, »in Natura gefallen Sie mir nämlich viel besser.«

So! Jetzt ist es genug! Zuerst knöpft er mir meine Lasagne ab und verschlingt sie vor meinen Augen und Ohren, jetzt verhöhnt er mich auch noch! Ganz instinktiv ziehe ich den Bauch ein.

»Das war der beste Witz, den ich gehört habe, seit Til Schweiger verkündet hat, er sei Schauspieler.«

Los, Rasmus, lache! Gib zu, dass es nur ein Witz war! Er lacht aber nicht. Er schaut mich plötzlich ganz ernst an.

»Kein Witz, Paula. Wahrheit.«

Ich bin so schockiert, dass ich meinen Salatteller innerhalb von zehn Sekunden leer esse.