Attacke!
Ich bin verwirrt. Die Verwirrung hat einen Namen: Rasmus Borcherts. Er hat mir unverfroren den Hof gemacht und sogar das dunkelgraue Kostüm bewundert, dass ich heute Morgen trug. Das tut kein normaler Mensch, Rasmus Borcherts ist entweder verrückt oder er steht permanent unter Drogen. Ein siebenunddreißigjähriger studierter Theologe und Philosoph, der jetzt an Webseiten herumschraubt, der erste Mann, den ich mir seit einem Vierteljahrhundert nackt vorgestellt habe. Zuletzt ist mir das im Kino passiert, ich glaube mit Richard Gere – und da habe ich ihm wenigstens die Unterhose gelassen.
Unvorstellbar, dass sich Rasmus Borcherts Paula Pfaff oder wahlweise Constanze Corzelli nackt vorgestellt hat. Obwohl... in theologischen Kreisen soll man ja zur Selbstgeißelung neigen, was man so liest. Oder ist das einfach seine Masche? Er nimmt sich eine nach der anderen aus der Redaktion vor, sogar Daniela Hungerbühler, die seit gefühlten hundert Jahren mit einem gewissen Dietmar (den noch nie eine von uns gesehen hat) angeblich »wild« zusammenlebt. Wild! Die Hungerbühler!
Und was bezweckt er damit? Vielleicht sind wir Teil einer philosophischen Versuchsreihe und finden uns eines Tages in Herrn Borcherts' Bestseller wieder: »Wie Frauen Wachs in den Händen eines Mannes werden, wenn er sie anflirtet.« Na ja, am Titel müsste man noch arbeiten.
Auf dem Heimweg – Alina ist noch zu einer Freundin gegangen, bei der sie auch zu Abend essen würde – stehe ich eine geschlagene Viertelstunde vor der Metzgerei und denke an hausgemachte Lasagne. Das heißt, wir beide, Paula und Constanze, denken daran. Und können uns nicht einigen. Schließlich schließen wir einen Kompromiss: Keine Lasagne, aber wenigstens ein mageres Lammsteak.
Es schmeckt mir nicht. Ein Stück Fleisch, lecker zubereitet, dazu Pommes und Salat – und es schmeckt mir nicht. Meine Gedanken sind anderswo, nur nicht bei mir. Ist das ein Wunder? Wer bin ich überhaupt? Bei wem sollen meine Gedanken sein, wenn ich »ich« sage?
Ich höre eine Uhr ticken. Das kann nicht sein. In diesem Haushalt gibt es keine tickenden Uhren. Doch. Eine. Mich. Aber hört man biologische Uhren ticken? Und auf welche Zeit sind sie eingestellt, wann klingelt der Wecker Alarm?
Eine Stimme in mir sagt: Dumme Kuh. Es ist die Stimme Sabine Müllers, einer Person, die es nicht gibt und die vielleicht gerade deshalb »ich« ist. Dumme Kuh, wiederholt Sabine Müller. Du schwadronierst über die Midlifecrisis, dabei haben wir mit der Eurokrise doch schon genug zu tun, oder? Du sitzt vor einem leckeren Stück Fleisch und willst es nicht essen. Auf der Welt gibt es zig Millionen Menschen, die würden liebend gerne vor einem Teller sitzen, auf dem wenigstens eine Handvoll Reis liegt. So viel zu deinen Problemen. Dumme Kuh.
Sabine Müller gerät in Rage. Sie schiebt den Teller beiseite, er rutscht an den Rand des Tisches, fällt aber nicht. Dann steht sie auf, stapft ins Arbeitszimmer und schaltet den Computer ein. Sie ist ungeduldig. Facebook. Sie loggt sich ein. Auf der Seite der fetten Frauen ist ein heftiger Streit im Gange, eine »Cassandra« wettert gegen Constanze Corzelli, schimpft sie eine »Unterdrückerin der Frau«, eine Monika Schmidt hält dagegen, Constanze Corzelli sei eine Wohltäterin, eine Aufklärerin, eine Gesundheitspäpstin. Der Streit wogt hin und her, man wird ausfällig. Irgendetwas am Stil dieser Cassandra kommt mir bekannt vor und erinnert mich an... die Hungerbühler! Sie macht die gleichen Kommafehler wie meine Kollegin und beendet jeden Satz mit »... oder seh ich das falsch, ja?« So quatscht Daniela Hungerbühler den ganzen Tag lang.
Sabine Müller gerät in Rage. »Könnt ihr mal aufhören, euch gegenseitig fertigzumachen? Ihr produziert Schuldgefühle, mehr nicht! Die eine schaut in den Spiegel und hält sich für eine Versagerin, nur weil der Bauch etwas über den Höschenbund quillt, die andere wirft sich vor, auf diese Corzelli hereingefallen zu sein, nur weil ihr auch mal ein kleiner Salat ausreicht. Seid doch mal selbstbewusster! Ihr seid Frauen! Frauen müssen weder mager noch fett sein, sie müssen einfach mit sich im Reinen sein!«
Fünf Minuten lang ist Ruhe, dann geht es wieder los. »Halt du dich da raus«, schreibt Cassandra, »wer weiß, was du für eine bist! Entscheide dich endlich mal und erzähl uns, auf welcher Seite du stehst!« »Genau!« meldet sich Monika Schmidt, »lass doch mal das Wischiwaschi, damit ist keinem gedient! Ich habe keine Schuldgefühle!Ich bin nur stinksauer auf mich, wenn ich mich morgens auf die Waage stelle!« »Versteh ich«, pflichtet ihr Cassandra bei. »Ist bei mir auch so. Ich hab letzte Woche 400 Gramm abgenommen, dabei esse ich extra jeden Abend ein Stück selbstgemachte Krümeltorte!« »Lecker!« jauchzt Monika, »wie machst du die? Kannst du mir mal das Rezept geben?« »Kein Problem, ich schick dir ne persönliche Nachricht!« »Das wäre furchtbar lieb von dir!«
Es hat einfach keinen Zweck. Erschüttert loggt sich Sabine Müller aus und nicht weniger erschüttert loggt sich Paula Pfaff ein. Eine Nachricht von Thea.
»Du, hoffentlich erreiche ich dich rechtzeitig. Morgen Mittag geht leider auch nicht mit dem Café Meier, aber morgen haben wir Weiberabend! Kommst du? Komm doch! Wir treffen uns um acht im Taverna, essen was Tolles und dann... Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen!!!«
Super. Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen ist meine Lieblingsbeschäftigung. Ich schreibe kurz »Ja gerne, freu mich« und logge mich aus.
Heute ist einfach nicht mein Tag. Zuerst benehme ich mich wie ein Teenager, dem die Hormone mit Orkanstärke durch den Körper rasen, nur weil ein Typ ihm Komplimente gemacht hat. Dann verliere ich den Appetit und denke an existentielle Dinge. Und nun? Gehe ich in die Küche zurück, setze mich vor mein kalt gewordenes Essen und schaufele es in mich hinein. Lebensmittel wirft man nicht weg, oberster Erziehungsgrundsatz meiner Mutter.
Und dann? Sitze ich still am Küchentisch und höre eine Uhr ticken, die es nicht gibt. Gegen zehn kehrt mein Töchterlein beschwingt von seinem Freundinnenbesuch zurück, legt mir ihre Arme um den Hals und fragt: »Hast du dir einen gemütlichen Mamaabend gemacht? Mal so richtig über die Stränge geschlagen? Viel ferngeguckt?«
Ich nicke. Genau. Ein gemütlicher Mamaabend. Und jetzt brauche ich ein Glas Wein.
»Ich auch!« entscheidet Alina. »Stell dir vor, Charlotta ist verknallt! In einen total heißen Typen! Der ist 24! Also mir wäre der zu alt.«
Ich lächle. »Und mir zu jung.«
Wir sitzen ein Stündchen in der Küche und plaudern, meine Gedanken werden wieder leichter. Ich bete, dass ich nachher sofort einschlafe, traumlos bis zum Morgen, bis der Wecker klingelt, der wirklich nur der Wecker ist und keine imaginäre Uhr. Um Himmelswillen nicht wieder diesen Albtraum! Ich liege mit einem tollen Mann im Bett, wir streicheln uns, wir ziehen uns aus... und dann kommt der Idiot auf den Gedanken, das Licht anzumachen. Schreiend wache ich auf.