Krieg der Welten?



»ALINA??!!«

Mit größerem Abscheu hat noch nie ein Mensch seinen Namen ausgespuckt als meine Tochter. Mein Fehler. Ich hätte mich nicht von ihr am Frühstückstisch ausquetschen lassen dürfen. Schon dass ich gestern Abend gegen halb zehn wieder zu Hause war, hat das Weltbild meiner Alina ins Wanken gebracht. Ein Weltbild, dessen stabilste Säule wohl die Überzeugung ist, die Begegnung zweier Menschen ende unweigerlich im Bett. Vor allem dann, wenn einer von beiden Geld in ein romantisches Abendessen investiert hat.

Und was passiert? Nichts. Nichts außer ein paar wirren Gedanken in einem ebenso wirren Traum, der vielleicht gar kein Traum war, sondern die chaotische Aneinanderreihung von Halluzinationen einer Frau, die einfach nicht einschlafen konnte. Gestern Abend hat mich Alina noch verschont. Wir saßen vor dem Fernseher, schauten uns das unsägliche »Topmodel« an, stopften Nüsse und Chips in uns hinein, manchmal warf mir Alina ein Blick zu, der sagte: »Was ist nur mit diesen alten Leuten los? Warum wollen die keinen Sex mehr haben?«

Jetzt prasseln die Fragen auf mich nieder. Er ist Witwer?`Tragisch. Er hat eine Tochter? Hm. Sie ist vierzehn? Oh mein Gott, Mama, die pubertiert ja noch!!! Eine Zicke! Sie heißt Alina? Reaktion siehe oben.

»Sie muss ins Internat«, entscheidet meine Alina, als sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hat. »Stell dir mal vor, du rufst Alina – und es kommen gleich zwei. Das geht gar nicht.«

»Ich könnte dich Sophie rufen. Dein zweiter Vorname gefällt dir doch sowieso besser. Sagst du jedenfalls immer.«

»Ach? Jetzt soll ich meinen Namen hergeben? Weil die andere wohl Kunigunde heißt oder was? Unsere Patchwork-Family geht ja schon gut los!«

»Rasmus und ich sind nur gute Freunde«, entgegne ich ruhig und weiß sofort, dass noch nicht einmal das stimmt. Man geht zusammen essen und ist gleich »gute Freunde«? Ist das ganze Leben jetzt Facebook? Er mag mich, warum auch immer. Ich mag ihn – und weiß auch nicht warum. Das heißt: Ich weiß es, aber ist ja eh egal.

»Und wie geht das mit euch jetzt weiter?« stellt Alina unerbittlich die Frage, vor der mich drücke.

»Weiß nicht.«

»Na prima.«

Wir essen unsere Nutellabrote, zwei Frustfrauen, die eine mit der düsteren Vision eines pubertierenden, zickigen Namenszwillings, die andere mit der Vorstellung, für immer allein zu bleiben. Auch meine Tochter wird irgendwann ausziehen.

Gestern Abend vor dem Restaurant haben wir uns zum Abschied die Hände gereicht, mehr nicht. Einen Moment lang habe ich überlegt, ob ich meinen Kopf leicht nach vorne beugen sollte, damit er mich küssen kann. Wenigstens auf die Wange. Einen noch kürzeren Moment lang habe ich gehofft, er käme ebenfalls auf die Idee, seinen Kopf vorzubeugen, damit ich ihn küssen kann. Natürlich nur auf die Wange.

Okay. Wir haben uns die Hände geschüttelt, ist doch auch schon was. Haben »Danke für den schönen Abend« gesagt, das klingt doch beinahe wie »Willst du mit mir ins Bett gehen?«, oder?

Stattdessen gehe ich zur Arbeit. Etwas stimmt nicht. Ich merke es schon, als ich das Gebäude betrete, es ist die Aura oder was auch immer. Etwas ist passiert. Man tuschelt, man läuft herum, man kichert. Man sieht zu mir hin. Neugierig, mitleidig, gehässig (die Hungerbühler, wer sonst).

»Oh«, sagt Ella nur, als ich an ihrem Schreibtisch vorbeigehe.

»Oh?« echoe ich zurück.

»Na ja...«

Mein Gott, was für ein Gespräch wird das denn wieder? Und wer steht in meinem Kabäuschen und sieht jetzt auch zu mir her? Rasmus. Schön. Und Milkers. Weniger schön. Was wollen die in meinem Büro?

»Aha, da ist ja unser Stein des Anstoßes«, sagt Milkers und versucht dabei witzig zu sein. Es geht, wie nicht anders zu erwarten, krachend schief. Rasmus schaut weg, die Sache ist ihm peinlich. Aber – welche Sache eigentlich?

»Waren Sie heute Morgen schon auf unserer Facebookseite?« fragt Milkers. Ich antworte nicht. Ziehe in aller Ruhe meine Jacke aus, hänge sie an den Haken (als Redakteurin genieße ich das Privileg eines eigenen Hakens), dränge mich zwischen dem noch immer schweigenden Rasmus und dem leider immer noch redenden Milkers hindurch an meinen Schreibtisch, setze mich, fahre den Rechner hoch.

»Nein«, sage ich dann, »ich habe es mir Gott sei Dank nicht angewöhnt, schon am frühen Morgen ins Internet zu gehen.«

»Dann werden Sie gleich eine Überraschung erleben«, kündigt Milkers an. Wenn er sich jetzt über meine Schulter beugt, knalle ich ihm die in die Visage. Ich bin sauer. Auf ihn, auf Rasmus, der wie ein verlegener Pennäler danebensteht, auf mich, auf alle Welt, auf Facebook.

Facebook. Unsere Seite. Ich beginne zu lesen. Ich erbleiche. Mir wird schlecht. Ich werde gleich ohnmächtig. Ich stürze mich gleich schreiend aus dem Fenster.

Begonnen hat alles mit einem Link, den »eine Freundin« von uns gepostet hat. Das war um 18 Uhr 49. »Schaut mal da, CC bekommt eine auf die Mütze!« Ich brauche die Seite gar nicht aufzurufen, die sich hinter dem Link verbirgt. Es ist die Seite der fetten Frauen, es ist Sabine Müllers Frontalangriff auf Constanze Corzelli.

Innerhalb der nächsten drei Stunden sind genau 304 Kommentare eingetrudelt. Ich überfliege sie angewidert. Die meisten sind zustimmend, »diese Frau Müller hat doch Recht! Das lassen wir uns nicht mehr bieten! Dieser ganze Diäthorror! Nieder mit CC!« Bis jetzt sind es knapp 800 Kommentare, der Artikel wurde vielmals »geteilt«, das heißt auf anderen Seiten dürften weitere Heerscharen von Kommentatorinnen über Constanze Corezelli herfallen und Sabine Müller in den Himmel heben.

»Das nennt man einen Shitstorm!« presst Milkers hinter mir das böse Wort aus sich heraus. Wahrscheinlich hat ihm Rasmus vor fünf Minuten erst erklären müssen, was das Wort bedeutet. Dass man gemobbt wird. Dass sie jemanden im Internet fertigmachen. Jemanden? Constanze Corzelli. Mich.

»Na ja«, versucht Rasmus die Sache abzumildern. Schön, dass er die Sprache nicht ganz verloren hat. Ich würde ihn dennoch keines Blickes.

»Sagen wir es mal so: Für uns kann es gar nicht besser laufen! Constanze Corzellis Blog habe ich schon eingerichtet, sie kann also sofort reagieren.«

Constanze Corzelli? Er meint mich! Warum sagt er das dann nicht? Existiert Paula Pfaff nur als nette Ergänzung für Restaurantbesuche?

Milkers lässt ein »Hm, hm« hören. Und sagt dann: »So kann man das auch sehen. Wer ist eigentlich diese Sabine Müller? Ist die von der Konkurrenz? Bestimmt! Und was für einen Unsinn die schreibt! Stilistisch völlig dilettantisch, so eine würde ich sofort bei uns rausschmeißen!«

Hallo? Stilistisch völlig dilettantisch? Ich sauge empört sämtliche Luft der Umgebung ein und will etwas erwidern, fange mich aber und sage: »Das ist wohl nur eine fette Lady, die gerade die fünfzigste Diät abgebrochen hat.«

»Prima!« begeistert sich Milkers. »Notieren Sie sich das! Setzen Sie sich gleich an die Replik! Herr Borcherts wird Ihnen das mit dem Blog erklären, das geht ja total fix, was man so hört. Machen Sie die Frau fertig! Zeigen Sie, was für eine blendende Stilistin Sie sind! Bringen Sie Argumente!«

Beschwingt verlässt er uns, Rasmus und ich bleiben alleine zurück. Wir schweigen. Wir sehen uns nicht an. Wir starren auf den Bildschirm.

»Okay«, sagt Rasmus endlich. »Dann erkläre ich dir jetzt das mit dem Blog.«