28

 

Etwas piepte, schrill, weit weg. Dann, eine Manschette am Arm, die sich lästig aufpumpte. Der Druck ließ wieder nach. Dunkelheit. Wieder die drückende Manschette. Verschwommene Umrisse. Jemand berührte ihre Hand. Warm. Bewegungen im Raum. Gesichtslose Gestalten. Dunkelheit. Ein Stöhnen. Eine raue, ausgetrocknete Kehle. Der Druck am Arm störte das Abdriften in die erlösende Dunkelheit. Schmerzen.

Mit unendlicher Mühe zwang sie die Augenlider auf. Erinnerungsfetzen. Ein Gesicht. Ein Mann. OP-Kleidung! Ralf. Das Piepen, jetzt viel schneller. Das Stöhnen, jetzt viel lauter. Nein! Weg. Ich muss hier weg! Unbeholfene Bewegung. Sie schlug um sich, versuchte sich aufzurichten. Hoffnungslos. Die Schmerzen wurden schlimmer. Sie fühlte sich schwer – hilflos. Dunkelheit.

Worte. Eine männliche Stimme, die beruhigend auf sie einredete. Was sagte er? Sie gab den Widerstand auf, entspannte die Muskeln. Sie hatte sowieso keine Chance.

Keine Chance? Wann hatte sie dieses Gefühl zuletzt gehabt und warum? Ihr Gehirn begann zu funktionieren. Ihre erste Feststellung: Sie lebte!

Was war geschehen? Erneut beschleunigte sich das Piepen eines Gerätes. Und jetzt wusste sie wieder, was zuletzt passiert war.

War die Narkose nicht tief genug? War sie zu früh aufgewacht? Würde sie gleich weiter malträtiert werden? Ihr Rücken schmerzte entsetzlich und fühlte sich so schwer an, als hätte man Gewichte auf ihren Körper gelegt.

Die warme Hand strich über ihr Gesicht. Zärtlich. Das Piepen wurde langsamer.

Das war nicht Ralfs Hand. Sie öffnete die Augen und erkannte, dass der Mann in der OP-Kleidung nicht Ralf war. Nein. Dunkle Augen die Liebe ausstrahlten. Marc! Sie fühlte, wie ihr Tränen die Wangen hinab rannen.

Marc hatte sich zu ihr hinab gebeugt, sodass sie ihm in die Augen sehen konnte.

„Ist ja gut, Noel. Du bist in Sicherheit.“ Er wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. „Du musst nur zusehen, dass du schnell wieder auf die Beine kommst.“

Jetzt verstand sie auch seine Worte.

„Hat … er meine Nieren …“ Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. Hatte er sie überhaupt verstanden? Die Stimme, die sie gehört hatte, klang wie ein armseliges Krächzen.

„Du wirst ganz gesund werden.“

Erleichterung breitete sich in ihr aus.

„Er konnte den Eingriff nicht zu Ende bringen. Die verwundete Niere konnten wir ebenfalls retten.“

Sie tastete nach seiner Hand und drückte sie zaghaft.

„Nur mit den Narben wirst du leben müssen.“ Er beugte sein Gesicht über das ihre und küsste sie auf die Stirn. „Die werden deiner Schönheit aber keinen Abbruch tun.“

Sah sie Tränen in seinen Augen? Sie verstärkte den Druck ihrer Hand. Er wirkte glücklich. Sie wusste, dass sie wieder gesund werden würde und doch war da etwas, dass ihr das Herz zerriss. Sie wollte es ihm sagen. Aber ihre Zunge wurde immer schwerer. Die Augen fielen zu. Sie hörte seine Stimme, verstand aber nicht mehr, was er sagte. Dann verlor sie sich wieder im erlösenden Nichts.

 

Als sie das nächste Mal wach genug war, berichtete ihr Marc, was im OP geschehen war, auch wenn sie nur die Hälfte verstand. Er hielt ihre Hand. Es schien ihm selbst besser zu gehen, wenn er ihr etwas zu erzählen hatte.

„Ralf und Ullstein waren tatsächlich die Drahtzieher. Außerdem gehörten zwei Schwestern, zwei Pfleger und ein Anästhesist zum Team.“

Noel hörte ihm zu. Nur ihre Zunge war zu schwer, etwas zu sagen. Dabei musste sie doch so dringend reden. Zwischen seinen Erzählungen sackte sie immer wieder ins Nimmerland, bevor sie ihm weiter zuhören konnte. Als sie alles wusste, konnte sie kaum begreifen, dass auch der Pathologe Dr. Jäger, die Oberschwester und ein Angestellter der Klinikleitung involviert gewesen waren. Dr. Drägers Tod erfüllte sie mit Trauer. Sie erinnerte sich, dass er versucht hatte, sie zu retten.

Wie sehr hatten sie sich doch in ihm getäuscht. Scheinbar hatte er seine Aufzeichnungen gemacht, um selbst Beweise zu sammeln. Nun hatte er sein Leben dafür geben müssen.

„Inzwischen hatte er genug Beweise gesammelt. An dem Tag, als wir ihm vor dem Fahrstuhl aufgelauert haben, hat er den Hausmeister beauftragt, eine Kamera zu installieren. Die Polizei hat alle Bänder sichergestellt.“

 

Wie lange sie in diesem Wach-Schlafzustand vor sich hindämmerte, wusste sie nicht. Aber jetzt war sie wach genug, um zu erkennen, dass sie nicht mehr auf der Intensivstation lag. Zwar ragten noch unzählige Schläuche aus ihrem Körper, aber es war ein Schritt nach vorne, nicht mehr in ständiger Überwachung zu sein. Auch wenn das Aufstehen ohne stärkere Schmerzmittel eine Qual werden würde, war sie dankbar ihren Körper wieder zu spüren. Sie befand sich in einem hellen, freundlichen Einzelzimmer.

Als sie aufgewacht war, saß Katharina anstelle von Marc an ihrem Bett.

„Hallo Schlafmütze.“

„Katharina.“ Noel lächelte, erfreut ihre Freundin zu sehen. Versuchte sich dann aber nach Marc umzusehen.

„Keine Sorge.“ Sie deutete auf das Sofa, das in ihrem Zimmer stand. „Er wäre fast im Stehen eingeschlafen und hat sich erst hingelegt, als ich ihm versprochen habe, auf dich achtzugeben.“

„Ich liebe ihn“, flüsterte Noel.

„Ich weiß“, antwortete Katharina. „Wahrscheinlich wusste ich das schon länger, als du selbst“, sagte sie augenzwinkernd. „Und er liebt dich. Er hat dein Leben gerettet. Danach ist er verzweifelt, weil er mit der filigransten Naht, die ich je gesehen habe, nicht zufrieden war. Er wollte es noch besser machen, dabei sind die Nähte so perfekt, dass du kaum Narben behalten wirst.“

Katharinas Worte taten ungemein gut. Sie blickte auf und sah Marc neben sich stehen. Er rieb sich das Kinn und lächelte.

„Du siehst gut aus. Richtig wach.“ Er küsste sie und griff zu einer Spritze, die offensichtlich in einer Nierenschale bereitlag.

Oh ja, sie war wach. Wach genug Widerstand zu leisten.

„Keine Sedierung mehr!“

„Du bist die schwierigste Patientin, die ich je hatte. Ohne Schmerzmittel wirst du es noch nicht aushalten können.“

Er hatte Recht und das wusste sie. Schon jetzt quälten sie die Schmerzen so sehr, dass sie ihre gesamte Fassung benötigte, um nicht ihr Gesicht vor Marc zu verziehen.

Dr. Malstein! Sie brauchte ein Urteil von Dr. Malstein. Sofort!

Marc hatte angekündigt, dass Katharina bei ihr bleiben würde, während er sich frisch machen wollte. Das war ihre Gelegenheit. Sie wollte nicht, dass er es wusste, bevor Dr. Malstein sie untersucht hatte.

„Du kennst meine Phobie gegen Sedierungen und ich werde euch den Krieg erklären, wenn ihr mir etwas gebt. Selbst wenn ich schlafe!“

Marc legte ihr die Hand auf die Stirn.

„Wir haben dich extra in eine andere Klinik gebracht und lassen dich nicht aus den Augen. Du weißt, dass du uns vertrauen kannst.“

„Und darum vertraue ich darauf, dass ihr meine Bitte respektiert.“

Dass er sie in eine andere Klinik hatte bringen lassen, berührte Noel tiefer, als sie zugeben wollte. Ein warmes Kribbeln durchflutete ihren Körper und nahm sie gefangen.

Marc presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Ich sehe schon, wir haben eine spannende Zukunft vor uns.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich gehe duschen und bin dann sofort wieder bei dir.“

„Lass dir soviel Zeit, wie du brauchst.“

 

Es fiel ihr unendlich schwer, die Hand zu heben. Aber sie musste sich anstrengen. Sie musste die Gelegenheit nutzen, solange Marc aus dem Zimmer war.

„Katharina“, sagte sie, nachdem sie es geschafft hatte, ihre Hand auf Katharinas Arm zu legen. „Du musst mir helfen.“

„Was kann ich für dich tun?“

„Bitte rufe Dr. Malstein an. Er muss herkommen und mich untersuchen. Schnell.“ Trotz der Schmerzen erkannte Noel die Fragen in Katharinas Gesicht, aber sie hatte weder Zeit noch Kraft, es ihr zu erklären. „Bitte Katharina.“ Noel sah Katharina flehend an. „Er ist mein Gynäkologe“, erklärte sie in der Hoffnung, ihre Freundin würde sie auch ohne viele Worte verstehen.

Katharina hatte keine Fragen gestellt und es erreicht, dass Dr. Malstein keine Stunde später an ihrem Bett stand. Leider auch Marc, der sichtbar verletzt mit ansah, wie sich Noel über den Besuch des Arztes freute. Wahrscheinlich dachte er, sie würde ihm nicht ausreichend vertrauen. Zu gerne würde sie ihm sagen, wie sehr er sich täuschte. Doch noch wollte sie Marc auf keinen Fall informieren. Erst musste sie das Ergebnis der Untersuchung abwarten.

Dr. Malstein setzte sich auf den Stuhl neben Noels Bett und beugte sich zu ihr herab.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte er, obgleich er die Antwort kennen sollte.

„Sie müssen mich untersuchen“, sagte Noel leise aber eindringlich. Sie spürte Marcs warme Hand auf ihrer Schulter und wusste, dass sie vor ihm unmöglich reden konnte.

„Würdest du uns bitte allein lassen, Marc?“ Sie hörte, wie er sich räusperte. Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ den Raum.

Noel berichtete dem Arzt alles, was ihr widerfahren war und nannte ihm die Namen der Medikamente, die man ihr verabreicht hatte. Ebenso erzählte sie ihm, dass sie inzwischen sämtliche Sedativa abgelehnt hatte, jedoch die Schmerzen kaum noch aushielt. Er nickte verständnisvoll und stimmte der Untersuchung zu.

„Sobald wir Klarheit haben, verordne ich Ihnen ein leichtes Medikament.“

Noel hob den Daumen.

„Ich muss ein Sono-Gerät organisieren. Dann wissen wir mehr.“

Noel nickte und ließ nach Katharina rufen. Sie bat sie, sich um ein Sono-Gerät aus der Gynäkologie zu kümmern.

Sobald sich die Tür wieder öffnete, und das Ultraschallgerät herein geschoben wurde, sah Noel Marc im Türrahmen stehen. Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. Selbst aus den Augenwinkeln nahm sie Angst, Sorge und Unverständnis in seinem Gesicht wahr.

Aber er kam ihrem Wunsch nach, ohne Fragen zu stellen und zog sich wieder zurück, als die Tür geschlossen wurde.

 

Marc lief den Gang auf und ab, wischte sich die schweißnassen Hände an der Hose trocken und ließ sich neben Katharina auf die Plastikbank sinken. Er stützte die Arme auf die Oberschenkel und das Gesicht in die ausgebreiteten Hände.

„Hat sie Ihnen irgendetwas erzählt, wovon ich nichts weiß?“

Er richtete sich wieder auf und sah Katharina in die Augen, die den Kopf schüttelte.

Wieder stand Marc auf, ging den Flur entlang und füllte sich beim Getränkespender eiskaltes Wasser in einen Papierbecher. Er leerte den Becher, warf ihn in den bereitstehenden Abfallbehälter und schlug anschließend die Faust gegen die Wand. Er schalt sich selbst einen Idioten. Verdammt. Er hatte ihre offensichtlichen Wunden zusammengeflickt, hatte um ihr Leben gebangt und dabei all ihre verzweifelten Signale übersehen.

Kein Wunder, dass sie keine Sedierung mehr zuließ. Wieso, zum Teufel, hatte er nicht selbst daran gedacht, sie noch während der Narkose gynäkologisch untersuchen zu lassen? Welch körperliche und psychische Schmerzen musste sie ertragen, ohne darüber reden zu wollen – zu können? Schon einmal war ihr Leben aus den Angeln gerissen worden, während sie sediert gewesen war. Es hätte ihm in den Sinn kommen müssen, dass Ralf sie vergewaltigt haben könnte, nachdem er sie wehrlos gemacht hatte.

Schweiß trat auf Marcs Stirn. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenpresste. Spürte, wie die sauren Säfte aufwärtsdrangen. In einer letzten rettenden Maßnahme riss er den Notausgang auf, stürzte ins Freie und übergab sich stöhnend.

Er brauchte Minuten, um sich zu sammeln. Die Vorstellung, was geschehen sein musste, erwischte ihn wie ein gewaltiger Faustschlag. Was musste in ihr vorgegangen sein? Würden die seelischen Wunden jemals heilen? Würde sie noch einmal einem Mann vertrauen können? Würde sie in der Lage sein, seine Liebe zu erkennen?

Marc stöhnte laut auf, steigerte sich in einen inbrünstigen Schrei, ließ alle aufgestauten Gefühle heraus und verstummte. Er holte tief Luft und richtete sich auf. Sie brauchte ihn. Er durfte sich nicht länger gehen lassen. Egal, welche Hölle sie durchqueren müsste, er würde ihr zur Seite stehen und ihr alle Zeit der Welt lassen, wenn nur ihre Wunden wieder heilen würden.

Er steckte seine Hand in die Hosentasche und holte ein Papiertuch hervor. Gedankenverloren wischte er sich das Gesicht sauber, holte dreimal tief Luft und betrat den Flur der Station wieder.

Als er bei ihrem Zimmer ankam, öffnete sich die Tür. Noel lag in ihrem Bett, den Kopf zur Seite gedreht. Der Gesichtsausdruck entspannt. Sah er sogar ein Lächeln auf ihren Lippen? Er beugte sich zu ihr hinab.

„Wie geht es dir?“ Ja, sie lächelte.

„Ich bin müde“, antwortete sie. Der Klang ihrer Stimme bestätigte ihre Worte.

Marc küsste sie auf die Stirn. „Ruh dich aus und mach die Augen zu.“

Marc schloss sie an einen neuen Tropf und ließ Ringerlösung in ihre Vene fließen. Ihre Nieren mussten noch kräftig durchgespült werden.

„Ich bin gleich wieder bei dir.“ Er küsste Noel ein weiteres Mal die Stirn und betrachtete sie. Sie wirkte noch dünner und verletzlicher als sonst. Was musste sie durchgestanden haben, ohne dass er etwas davon geahnt hatte? Marc kehrte ihr den Rücken und folgte Dr. Malstein auf den Flur, nachdem der sich von Noel verabschiedet hatte.

Marc lehnte sich gegen die Wand, die Hände in die Hosentasche gekrampft. „Ich nehme an, Sie dürfen mir nichts sagen.“

„Sie kennen die Regeln. Frau Thalbach wird selbst mit Ihnen reden.“

Marc nickte, wohlwissend, dass der Kollege Recht hatte.

„Was haben Sie ihr verordnet?“

„Geben Sie ihr Paracetamol intravenös.“

„Okay.“

Dr. Malstein verabschiedete sich. Marc betrat wieder Noels Zimmer und fand sie in einem entspannten Zustand vor. Ganz anders als vorher schien sie sich nicht unnötig zu quälen. Wenn sie nur Dr. Malsteins Medikamente einnehmen wollte, dann sollte sie sie bekommen. Marc setzte sich neben sie und streichelte ihre Schulter.

„Möchtest du reden?“, fragte er leise, wohlwissend, dass er dem Kerl, der ihr das angetan hatte, die Eier abschneiden würde. Gut, dass er in Gewahrsam war, wo er ihm nicht so nahe würde kommen können.

Er sah, dass Noel die Hand nach ihm ausstreckte, und kam ihr entgegen. Sie drückte seine Hand und schloss die Augen.

„Ich muss dir etwas sagen“, lallte sie unverständlich.

So sehr Marc sich auch bemühte, er schaffte es nicht, seinen Ärger hinunter zu schlucken.

„Ich würde alles dafür geben, deinen Schmerz auf mich zu nehmen.“

Noel schien ihn nicht mehr gehört zu haben. Sie atmete in ruhigen langen Zügen. Sie war eingeschlafen. Es beruhigte Marc ein wenig, dass sie offensichtlich bereit dazu war, mit ihm zu reden.

Er stand auf, verließ den Raum und bat Katharina die nächsten zwei Stunden bei ihr zu bleiben.

Er presste die Kiefer zusammen. Wenn er jetzt nicht sofort Klarheit schaffte, würde er noch heute den Verstand verlieren.

Außer Noel gab es nur einen Menschen, der wusste, was ihr widerfahren war, bevor sie in den OP geschoben worden war.