19

 

Sie räumten das Essen vom Tisch, wuschen das Geschirr ab und ließen sich im Wohnzimmer auf dem Sofa nieder.

„Wie geht es dir inzwischen?“, fragte er, nachdem sie eine Weile schweigsam zusammengesessen hatten.

„Ich habe einen erstklassigen Arzt.“

Er schmunzelte. Ihre Worte berührten ihn angenehm. Sie hatte sich ihm so sehr geöffnet, dass er sicher war, er würde ihr etwas bedeuten, auch wenn niemals mehr zwischen ihnen sein würde.

„Bevor du ins Bett gehst, sehe ich mir deine Wunden noch einmal an.“

Ein Gedanke, der ihn aufwühlte. Gestern war sie betäubt genug gewesen, um das Schamgefühl vor ihm zu verlieren. Ihm heute ihre nackte Haut zu zeigen, war etwas anderes. Und doch war der Gedanke gerade deshalb unanständig reizvoll.

Wieder schwiegen sie und sahen nach draußen in die Dämmerung, bis Marc das Schweigen brach. Er hörte seine Stimme, aber sie klang leise und fremd. Außer Lars hatte er bisher mit niemandem darüber gesprochen.

„Deine Geschichte ist meiner sehr ähnlich, Noel.“

„Ich habe es geahnt. Bitte erzähl.“ Dieses Mal nahm sie seine Hand und umschloss sie vorsichtig.

Er erzählte ihr in allen Einzelheiten vom schrecklichsten Tag seines Lebens. Beginnend beim Heiratsantrag, den er seiner Freundin Lara gemacht hatte, abschließend mit dem Unfall an jenem Abend im Regen.

Er war kaum in der Lage weiterzureden und er war Noel dankbar, dass sie ihn nicht drängte, ihm so viel Zeit gab, wie er brauchte.

„Ich war außer Gefecht und sie haben Lara währenddessen ausgeschlachtet.“ Darüber zu reden war fast so schmerzhaft, wie der Tag selbst und die Zeit danach.

Als würde Noel seinen Schmerz spüren sagte sie: „Du musst nicht weiterreden. Ich weiß, wie weh das tut und ich kann mir den Rest denken.“

Er sah sie an und spürte, dass sie wirklich ergriffen war und an seiner Geschichte ernsthaft Anteil nahm.

„Ich will, dass du alles weißt.“

 

„Er wacht auf.“

Unruhige Stimmen drangen an sein Gehirn. Helles Licht. Jemand zog sein Augenlid auf und leuchtete ihm in die Pupille. Ein Piepen – das schneller wurde. Er fühlte sein Herz gegen die Rippen hämmern. Schmerz. Dunkelheit. Er schlug die Augen auf. Grelles Licht. Bewegungen. Hände, die ihn berührten. Ein unmenschliches Grunzen. Wieder. Er nahm wahr, dass es aus seiner intubierten Kehle drang. Verzweifelt riss er die Arme hoch, wollte sich das Rohr aus dem Hals zerren. Mehrere Hände kämpften gegen ihn, hielten ihn, banden ihn am Bett fest, während er weiter gegen den Fremdkörper in seiner Luftröhre kämpfte. Stimmen, die ihm zuredeten. Er verstand kein Wort. Dann breitete sich ein schweres Gefühl von seiner Armvene über seinen ganzen Körper aus und erlöste ihn aus diesem Alptraum.

Dieses Spiel wiederholte sich tagein, tagaus, bis er irgendwann aufwachte und nur noch ein Kratzen im Hals spürte, jedoch wieder frei atmen konnte. Sprechen konnte er nicht. Die Schmerzen waren ebenfalls nicht weniger geworden. Schmerzen am Kopf, am Rücken, am Bauch und an den Beinen. Am stärksten schien es ihn an der Brust getroffen zu haben. Er fühlte eine Narbe vom Brustbein bis unterhalb des Nabels. Ob er wieder gesund werden würde, wusste er noch immer nicht. Man redete mit ihm, aber er bekam so starke Schmerzmittel, dass sein Gehirn wie ausgeschaltet war. Da gab es nur eine Sache, die allgegenwärtig war.

Weshalb war Lara nicht hier?

Als er soweit war sich mitteilen zu können war es die erste Frage, die er auf ein Blatt Papier kritzelte. Als er die Antwort der Schwester hörte, wollte er sterben.

„Sie hat anderen Menschen das Leben gerettet. Wenn Sie ihren Tod verarbeitet haben, werden Sie stolz auf ihre Freundin sein.“

„Was wollen Sie damit sagen?“, schrieb Marc mit zitternden Fingern auf das Blatt Papier.

„Nicht jeder ist so großzügig und spendet seine Organe für die Menschen, die sie brauchen.“

Marc glaubte, nicht richtig zu hören. In seinem Kopf drehte sich alles. Er presste die Zähne zusammen, bis die Kiefer schmerzten.

„Ruhen Sie sich aus“, beendete die Schwester das für sie keineswegs gut laufende Gespräch und ließ Marc allein.

Lara war tot!

Marc verschloss sich der Außenwelt, redete nicht mehr, verweigerte Essen, Trinken und Medikamente. Letzteres wurde ihm intravenös verabreicht. Auch das war ihm egal. Selbst seine Schmerzen interessierten ihn nicht mehr. Nur vage bekam er mit, dass man ihm die Milz entfernt hatte, mehrere Rippen und die linke Schulter frakturiert waren und er eine Oberschenkelfraktur, sowie einen Bänderriss im Kniegelenk davon getragen hatte. Außerdem hatte er eine Verletzung am Hals gehabt, die ihn am Sprechen hinderte. Er lag nur noch im Bett, starrte die Decke an und vegetierte wochenlang vor sich hin, bis eines Tages ein Pfleger seine Aufmerksamkeit erregte.

Anfangs hörte Marc ihm nicht einmal zu, als er seine Bettdecke und das Kissen aufschlug, und begann Marc zu waschen. Er redete unentwegt. Marc wünschte, er würde endlich fertig sein und verschwinden. Dann allerdings wendete sich das Blatt und Marc wünschte, er hätte reden können.

Der Pfleger hob Marcs Arm an und wischte seinen Rumpf mit einem feuchten Tuch ab, als er den einen Namen erwähnte, der es vermochte in Marcs Gehirn durchzudringen.

„Wie geht’s denn ihrer Freundin inzwischen? Wie hieß sie noch gleich? Ja, jetzt weiß ich’s wieder. Lara, stimmt’s?“

Marc schloss die Augen. Ja, wie sollte es ihr wohl gehen? Wichser!, dachte Marc.

„Hübsches Ding. Sie hat sich solche Sorgen um Sie gemacht.“

Marc riss die Augen auf, sein Herzschlag beschleunigte sich.

Ohne auf Marcs Reaktion zu achten, fuhr der Pfleger fort. „Sie ist bei mir im Rettungswagen mitgefahren. Was war ich froh, dass sie nicht so schlimm dran war wie Sie. Bestimmt kommt sie Sie jeden Tag besuchen und kann nicht erwarten, dass Sie wieder auf die Beine kommen, was?“

Er lachte leise in sich hinein, trocknete Marc ab und deckte ihn wieder zu, während sich in Marcs Kopf tausend Gedanken drehten. Verzweifelt versuchte er, sich verständlich zu machen. Leider verstand der Idiot nicht, dass Marc Fragen hatte, reden musste. Stattdessen hielt er ihm den Trinkbecher mit dem Strohhalm an die Lippen und redete Marc, wie einem Kleinkind zu, doch ein Schlückchen zu trinken. Es würde alles wieder gut werden.

 

„Aber nichts wurde je wieder gut“, sagte Marc verbittert. „Bis ich mich ausdrücken konnte, ist noch ein weiterer Monat vergangen. Ein Monat, in dem ich jede Menge Zeit zum Nachdenken gehabt habe.“

Noel drückte Marcs Arm. Er lächelte sie an und legte seine Hand auf die ihre. Wie weich und zart sie sich anfühlte. Marc verfluchte sich selbst dafür, wie gut er sich in Noels Nähe fühlte. Das würde ihm nichts als Ärger einbringen. Gerade war ihm wieder bewusst geworden, wie sehr er sich seinem Ziel verschrieben hatte.

Eine Frau, dazu noch eine verheiratete, die ihm das Herz brach, war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Und doch genoss er jede Sekunde mit ihr, wie er seit Jahren nicht mehr genossen hatte.

„Was hast du dann getan?“

„Nachdem mir klar geworden ist, dass sie das Opfer eines Verbrechens war, hatte ich nur noch das Ziel alles auffliegen zu lassen. Ich wollte mit Polizei, Presse und weiß Gott was sonst noch anrücken und sie fertig machen.“

„Was du aber nicht getan hast.“

Marc schüttelte den Kopf. „Zum Glück hatte ich genug Zeit zum Nachdenken.“ Er lachte sarkastisch. „Was hätte ich denn ausrichten können? Angeblich hatte sie einen Organspenderausweis. Sie haben gesagt, sie wäre an inneren Verletzungen gestorben. Die Aussage des Pflegers, der nicht viel Ahnung hatte, war also auch nichts wert.“

„Willst du damit sagen, dass du es stillschweigend hingenommen hast und dir somit die Möglichkeit für den Job offen gelassen hast?“

Marc nickte. „Nur von innen heraus kann ich etwas erreichen. Leider sind sie sehr geschickt organisiert. Ich habe bis jetzt niemanden entlarvt bei dem ich mir sicher bin.“

Seufzend stand Marc auf und schaltete das Licht ein. „Es ist spät. Du brauchst Schlaf.“

Noel war eine verflucht gute Zuhörerin. Nicht nur einmal war Marc versucht gewesen, sie in den Arm zu nehmen. Die ganze Zeit hatte er sie leise atmen gehört und ihr Haar an seinem Oberarm gespürt.

 

Marc setzte sich auf die Bettkante und schluckte. Er musste nichts weiter tun, als seine Arbeit zu verrichten. Sie war eine Patientin und er war der Behandler. Was war schon dabei? Nichts. Nichts, bis auf die zarte Haut um die Naht herum, die er kontrollierte. Noel lag seitlich, ihm zugekehrt in seinem Bett und hatte ein Bein leicht über das Andere gelegt, sodass ihre Hüfte reizvoll vor seinem Gesicht lag. Er hielt den Atem an und tastete entlang der Narbe. Was, um Himmels willen, tat er da eigentlich? Noel war seine OP-Schwester. Sie musste ganz genau wissen, dass es vollkommen überflüssig war, was er tat. Aber sie lag einfach nur da und hielt still und er musste sehen, wie er seine Finger wieder von ihrem Schenkel fort bekommen sollte.

„Sie haben ihre Taktik geändert, nicht wahr?“

Er räusperte sich und sah sie verwirrt an. „Was … meintest du gerade?“ Schnell nahm er die Finger von ihrem Schenkel und deckte sie zu.

„Lara und Amelie wurden Organspenderausweise untergeschoben. Heute lassen sie die Patienten die Not-OP überleben und sie anschließend an den postoperativen Verletzungen sterben.“

„Es gab auch schon Patienten, die direkt in das Tiefparterre gekarrt worden sind. Das beweist, welches Ausmaß der Verbrecherring hat. Rettungswagen, Notaufnahme, Ärzte, Schwestern, Klinikleitung, Polizei und wer weiß, wer noch.“

Während er erzählte, kontrollierte er die Naht an ihrer Stirn sowie die geprellte Schulter. Abgelenkt durch das Gespräch, fühlte er sich erleichtert und trotzte der Versuchung, die ihr Schenkel ihm eben beinahe zum Verhängnis geworden wäre. „Es reicht vollkommen, wenn in jeder Abteilung ein schwarzes Schaf steckt. Mit etwas Geschick kann dann alles vertuscht werden. Das mit den Organspenderausweisen konnten sie nicht lange durchziehen, ohne aufzufliegen.“

Marc stand auf und schaltete das Nachttischlämpchen aus. „Deine Wunden sehen gut aus. Schlaf jetzt, Noel. Dein Kopf wird es dir danken.“

„Ich danke dir, Marc.“

Oh nein, wenn sie nicht sofort aufhörte, ihn mit ihren leuchtend blauen Augen anzusehen, würde er sich auf sie stürzen und sie mit Haut und Haaren verzehren.

„Und ich danke dir. Es hat gut getan, mit dir zu reden. Gute Nacht, Noel.“ Raus hier. Ganz schnell weg von ihr. Mit drei großen Schritten erreichte er die Tür.

„Marc?“

„Was ist?“ Er fühlte sein Herz wild gegen die Rippen hämmern.

„Das hier ist dein Bett, nicht wahr?“

„Genieße die Ehre darin schlafen zu dürfen.“

„Wo schläfst du?“ Das konnte doch nicht wahr sein. Fast glaubte er, sie forderte ihr Schicksal heraus.

„Das Sofa ist saubequem. Mach dir keine Gedanken.“

Er trat in den Flur und legte die Hand auf den Griff, um die Tür zuzuziehen.

„Marc?“

„Ja?“

„Das Bett ist breit genug. Wenn du möchtest …“

Sein Hals fühlte sich so trocken an, dass er schlagartig husten musste. „Besser nicht, Noel.“ Ohne ein weiteres Wort von ihr abzuwarten, schloss er die Tür, ging über den Flur, stieß die Badtür auf und verschloss sie von innen. Binnen Sekunden stand er ausgezogen unter der Dusche, stieß leise Flüche aus und ließ sich eiskaltes Wasser über den Körper rieseln.

 

Noel konnte kaum glauben, dass sie trotz des Vortages, den sie im Bett verbracht hatte, sofort eingeschlafen war und die ganze Nacht nicht wieder aufwachte. Nach Marcs kleiner, überflüssiger Wundkontrolle im Bett und den Gefühlen, die ihr einen bösen Streich gespielt hatten, hatte sie gedacht, dass sie niemals einschlafen könnte. Mein Gott, was hätte geschehen können, wenn er nicht so vernünftig reagiert hätte? So konnte es nicht weiter gehen. Noel stand auf, zog sich an und machte das Bett.

Sie packte ihre Sachen zusammen und ging in die Küche, aus der sie Marc schon mit dem Geschirr klappern hörte.

„Ausgeschlafen?“, fragte er, eine Tasse Kaffee einschenkend. Er stellte die Kaffeekanne zurück auf die Warmhalteplatte und reichte Noel die Tasse.

„Guten Morgen und danke.“ Sie ließ sich auf den Küchenstuhl direkt vor dem Fenster sinken. „Was ist eigentlich mit deinem Dienst? Du bist gestern auch schon zu Hause geblieben.“

Er lehnte sich gegen die Arbeitsplatte neben der Spüle und hob die Augenbrauen. „Ich habe mich gestern krankgemeldet.“

„Wie ungehörig, Herr Doktor.“

Er lachte leise. „Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Schließlich habe ich eine Patientin zu versorgen.“

„Damit wäre die Schuldfrage also geklärt. Ich muss dir aber mitteilen, dass sich deine Patientin heute wieder fit genug fühlt, nach Hause zu fahren.“

„Mag sein. Trotzdem gefällt es mir nicht, dich allein zu lassen. Hast du deinen Mann erreicht?“

Noel schüttelte den Kopf. „Ich habe es gestern Abend und auch heute Morgen schon probiert.“

„Dann sollte ich besser noch einen Tag krank sein.“ Neben Marc sprangen zwei duftende Scheiben Brot aus dem Toaster. Marc legte eine auf Noels und die zweite Scheibe auf seinen Teller und schob zwei Weitere in das Gerät. Er setzte sich zu Noel an den Tisch und frühstückte mit ihr gemeinsam. Wann hatte Ralf sich zuletzt mit ihr zum Frühstück zusammengesetzt?

„Ich komme allein klar. Du musst zur Arbeit gehen. Vergiss nicht, dass du jetzt unsere einzige Verbindung zur Klinik bist.“

Sein Widerstand war zwecklos.

Eine Stunde später setzte er sie vor ihrer Haustür ab. Er deutete mit dem Kinn auf ihren Wagen, der auf der Garagenauffahrt stand. „Leider hatte ich keinen Schlüssel, um ihn reinzustellen.“

„Danke für alles, Marc“, sagte Noel und fühlte einen Kloß im Hals.

„Soll ich wirklich nicht mit rein kommen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist?“

„Du kommst zu spät zur Arbeit. Wenn du deinen Job auch noch verlierst, haben wir keine Chance mehr.“

Er legte den rechten Arm auf Noels Sitzlehne. Fast wünschte sie sich, er würde die Hand auf ihren Nacken senken und sie streicheln. Allein der Gedanke löste eine Gänsehaut aus.

„Deine Sicherheit geht vor.“

Sie schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall durfte er in ihr Haus kommen. Sie fühlte sich so flattrig, dass sie ihrer eigenen Vernunft nicht über den Weg traute.

„Das Haus ist alarmgesichert.“

Er presste resigniert die Lippen zusammen. „Pass auf dich auf, Kleine.“

Noel schluckte, nickte und stieg aus. Erst als sie die Haustür aufgeschlossen hatte und im Flur stand, sah sie sich noch einmal nach ihm um, winkte und schloss die Tür eilig.

Was war nur in sie gefahren? Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre der Versuchung erlegen gewesen. Nur noch ein Lächeln von ihm, eine Umarmung oder auch nur ein Händedruck und es wäre um sie geschehen.

Auf dem Weg zum Bad hörte sie den Anrufbeantworter ab und versuchte ein weiteres Mal Ralf anzurufen, nachdem auch auf dem Apparat keine Nachricht von ihm war. Aber er schien, wie vom Erdboden verschluckt. Das Handy war seit Tagen ausgeschaltet. Einen Hotelnamen hatte er nicht hinterlassen.

Um sich auf andere Gedanken zu bringen, gönnte sie sich eine heiße Dusche. Das Wasser brannte auf der zerschundenen Haut. Trotzdem schaffte es Noel, sich eine Weile zu entspannen. Bis sich Marc in ihren Kopf drängte und ihre Gefühle in Besitz nahm. Er musste unendlich gelitten haben. Der Gedanke, dass er monatelang ans Bett gefesselt gewesen war und sich nicht ausdrücken konnte, schnürte ihr den Magen zu. Er wurde mit der Wahrheit konfrontiert und war nicht in der Lage etwas dagegen zu unternehmen.

Noel schloss die Augen und ließ das Wasser auf ihr Gesicht prasseln. Sie wischte sich das Gesicht sauber, wie um die Gedanken aus dem Kopf zu verbannen. Vor ihren inneren Augen sah sie die lange Narbe entlang seines Bauches, die sie beim Umziehen in der Klinik gesehen hatte. Jetzt kannte sie ihre traurige Geschichte und wusste, dass sie in Marc einen Verbündeten hatte, auf den sie zählen konnte. Ihren einzigen Verbündeten gegen ein Heer aus Unbekannten. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Als sie sich wieder daran erinnerte, dass ihr Sturz ein gezielter Anschlag gewesen sein könnte, wurde das Bad plötzlich zur Falle. Noel spürte, wie ihr Herzschlag Tempo aufnahm und ihr sofortige Hitzewallungen bescherte. Sie drehte den Wasserhahn zu, stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und wickelte sich das Badetuch um den Körper. Gar nicht so einfach mit zittrigen Fingern, die nicht richtig gehorchen wollten. Noel atmete tief durch und spreizte die Finger beider Hände. Sie betrachtete ihre Hände, bis sie sich endlich soweit beruhigt hatte und das Zittern abklang.

Die bedrohlichen Gedanken abzuschütteln gelang ihr jedoch nicht einmal ansatzweise. Wer den Auftrag erteilt hatte, sie zu verletzen oder gar zu töten, könnte genauso wenig davor zurückschrecken, sie im eigenen Haus heimzusuchen. Noch bevor sich Noel anzog, kontrollierte sie akribisch, ob jedes Fenster und jede Tür verschlossen war.

Bis zum Abend hatte sie mindestens ein dutzendmal versucht, Ralf zu erreichen – erfolglos.

Am Abend, als sie sich bei einem Glas Tee die Tagesschau ansah, hatte sie sich zu einem Nervenbündel entwickelt. Bei jedem harmlosen Knacken im Kühlschrank oder auf der Treppe unter ihren Füßen zuckte sie zusammen. Beim Klingeln des Telefons, das sie auf dem Fernsehtisch liegen hatte, stieß sie ihr Teeglas um.

„Verflucht.“ Sie nahm den Apparat ans Ohr.

„Nette Begrüßung.“

Mit dem Telefon ans Ohr geklemmt, nahm Noel einen Stapel Servietten aus dem Glashalter und versuchte ihr Bestes um den teuren Perserteppich zu retten.

„Ich hatte gerade einen kleinen Unfall“, sagte sie, lachte aber so erleichtert, als hätte der Anruf die Macht, alle Gefahren von ihr abzuwenden. Mit Marcs Stimme am Ohr erschien ihr der verdammte Teppich plötzlich unwichtig.

„Schon wieder?“

„Hat mich nicht persönlich betroffen. Wie war dein Tag? Ich meine …“ Wieso stotterte sie denn auf einmal? „… hat es sich gelohnt? Hat vielleicht jemand versucht, dich nach mir auszuhorchen?“

„Ich bin in die Pathologie eingebrochen.“

Noels Herz setzte einen Schlag aus, um dann mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen.

„Und weiter? Hast du irgendetwas gefunden?“ Sie hörte Marc leise lachen.

„Wahrscheinlich werde ich heute Nacht von den starren Körpern mit dem Kärtchen am Zeh träumen.“

„Das ist nicht zum Lachen“, sagte Noel betroffen.

„Du hast Recht. Es ist die gerechte Strafe für meine Neugier. Die Akten sehen alle sauber aus.“

Noel stieß die Luft aus den Lungen.

„Es ist wohl sehr wahrscheinlich, dass jemand aus der Abteilung die Akten frisiert.“ Sie überlegte einen Moment. „Vielleicht solltest du dein Hauptaugenmerk darauf richten.“

„Ich bleibe am Ball. Wie geht es dir?“

„Bestens“, log sie in üblicher Manier.

„Lügnerin“, ertappte er sie.

Gut, dass er nicht sehen konnte, wie sie errötete.

„Ich höre an deiner Stimme, dass du Angst hast. Verbringe noch eine Nacht bei mir.“

Sie hörte ihn husten und dachte, wie Recht er doch hatte.

„Morgen habe ich frei. Du müsstest also auch nicht früh aufstehen.“

„Danke, Marc, aber das kommt gar nicht in Frage. Ich … habe schon wegen der letzten Tage ein schlechtes Gewissen gegenüber Ralf.“

„Es ist nichts passiert.“

Sie lachte leise. „Erkläre das mal einem eifersüchtigen Ehemann.“

„Eins zu null für dich. Wärst du meine Frau und würdest bei einem Kerl wie mir übernachten, würde ich den Typen in Stücke reißen.“

Für einen Moment fehlten Noel die Worte. Es war nicht das, was Marc gesagt hatte, es war die Art wie er es gesagt hatte, die es ihr abwechselnd eiskalt und brennend heiß den Rücken hinab rieseln ließ.

„Ich rufe dich morgen an, Marc. Gute Nacht.“

„Schlaf gut, Noel.“ Kaum hatte Noel das Telefon weggelegt, fühlte sie sich als hätte sich ein Sargdeckel über ihr geschlossen.

Noch Stunden später lag sie wach im Bett und wagte es nicht die Augen zu schließen. Dreimal war sie bereits völlig verstört aus dem Halbschlaf aufgeschreckt und jedes Mal war sie einem Herzinfarkt nahe. Noch nie war ihr aufgefallen, dass in dem Haus so viel Eigenleben steckte. Sie stand noch einmal auf, ging ins Wohnzimmer und wählte abermals Ralfs Nummer. Wieder wurde ihr von dieser kalten Automatenstimme erzählt, dass die gewünschte Person nicht zu erreichen ist. Resigniert legte sie auf. Ihre Stimmung pendelte zwischen Sorge und Wut auf ihn – und schlechtem Gewissen. Denn trotz aller Ungewissheit war ihr im Laufe des Tages aufgefallen, dass sie ihn nicht wirklich vermisste. Was war sie nur für eine Ehefrau, schalt sie sich selbst und legte sich zurück ins Bett, wo sie nach weniger als einer Minute abermals aufschreckte, weil sie Geräusche vor dem Fenster hörte, die ihren Herzschlag komplett aus dem Rhythmus warfen. Ohne zu überlegen, rannte sie zum Telefon und wählte die Nummer, die sie nicht wählen wollte.

„Gilt dein Angebot noch?“, fragte sie außer Atem.

„Ist etwas passiert?“, hörte sie ihn besorgt fragen.

„Höchstens, dass mir vor Angst das Herz stehen bleiben könnte.“

„Bleib, wo du bist. Ich bin in einer halben Stunde bei dir und hole dich ab.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er aufgelegt.

„Ich muss den Verstand verloren haben“, murmelte sie vor sich hin. Sie packte sich ein paar Badutensilien, Nachtwäsche und etwas zum Anziehen zusammen, verschwand im Bad und peppte sich auf ein Mindestmaß für die Nacht auf.

Keine Minute später als versprochen, klingelte es an ihrer Tür. Mit hämmerndem Herzen sah sie durch den Spion und atmete erleichtert auf, als sie Marc vor der Tür sah. Ihr Herzschlag beruhigte sich allerdings nicht wirklich, als sie ihm die Tür öffnete. In knielanger Jogginghose und weißem T-Shirt trat er über die Schwelle.

„Ich bin so schnell los, wie ich konnte“, sagte er auf seinen Aufzug deutend.

„So schnell, dass ich dir nicht einmal sagen konnte, dass ich auch allein gekommen wäre.“

Sie sah, wie er ihr Gesicht musterte und dann lächelte.

„Ich halte deine Angst für berechtigt und wollte nicht, dass du allein fährst.“ Er ging an ihr vorbei und sah sich die Fotografien an den Wänden an. „Die gefallen mir. Da hat jemand Liebe zum Detail bewiesen.“

„Du kennst dich mit Fotografien aus?“

Marc wandte sich ihr zu und lachte. „Nur von der Seite des Betrachters aus. Sind die alle vom selben Künstler?“ Er drehte sich im Raum und deutete mit beiden Händen auf die Bilder.

„Ja“, antwortete Noel, während sie sich ihre Jacke anzog.

„Fotografien in diesem Stil habe ich schon lange gesucht. Wer hat die gemacht?“

„Ich muss dich enttäuschen. Er fotografiert nicht mehr. Wollen wir los?“

Sie stand bereits in der geöffneten Tür, als er noch immer fasziniert vor dem Bild eines Leuchtturms im Gewitter stand und es betrachtete.