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Ein schepperndes Geräusch riss Marc aus der mühselig angesoffenen Trance. Er schoss aus dem Sessel hoch, griff nach dem Baseballschläger und stürmte auf das Geräusch los, das aus der Küche kam. Als Marc den Eindringling entdeckte, fiel die Anspannung von ihm ab. Er ließ den Schläger aus der Hand fallen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Miloh, der Kater seiner durchaus attraktiven Nachbarin, saß inmitten der Küchenabfälle, die er auf dem Boden verbreitet hatte. Stolz thronte er über dem stinkenden Fischkopf, dessen dazu gehöriger Körper bereits vor zwei Tagen in der Pfanne gelandet war. Immer noch besser als Einbrecher, dachte Marc und kratzte sich den dunklen Dreitagebart. Der sich ausbreitende Gestank zog ihm langsam aber sicher wie ein Narkotikum in die Nase. Marc riss die Fenster weit auf, lehnte sich hinaus und atmete tief durch. Die Mischung aus Bourbon, Bier und verwesendem Fisch war eine Herausforderung für seinen Magen. Marc sog noch einmal die kalte Luft in die Lungen, wandte sich dem Kater zu und klatschte in die Hände.

„Raus hier, alter Stubentiger. Bring nächstes Mal wenigstens das heiße Eisen mit, bei dem du wohnst.“

Gestört von der Unruhe, schnappte sich Miloh den Fischkopf und verließ das Revier Richtung Heimat. Marc warf die Tür hinter ihm ins Schloss. „Dummes Mistvieh. Deine Vermieterin sollte den Dreck wegmachen.“ Gute Gelegenheit, sich dabei gleich um ein paar andere Dinge zu kümmern, dachte er. Ihr wohlgeformtes Hinterteil kam ihm dabei unverschämt deutlich in den Sinn.

Der Blick zurück in die Küche ließ es schneller aus seinem Kopf verschwinden, als es dort erschienen war. Unwillkürlich schüttelte er sich. Der verdammte Müll musste weg. Aber vorher brauchte er einen Schluck, um dem betörenden Geruch widerstehen zu können. Marc öffnete den Küchenschrank, holte die Flasche heraus und schenkte sich ein Glas des bersteinfarbenen Tropfens ein. Gierig stürzte er den Inhalt des Glases den Hals hinunter. Wie um das Feuer in seinem Schlund zu löschen, stieß er die Luft kräftig aus den Lungen hinaus. Er schwenkte die Flasche Bourbon, um zu überprüfen, wie viel er bereits getrunken hatte und stellte sie zurück in den Schrank. Vielleicht war es nicht das letzte Glas des Tages.

Fluchend kniete er sich auf den Boden und sammelte den Hausmüll der letzten Woche ein. Das passt, dachte er. Wieso sollte der Tag auch besser enden, als er begonnen hatte? Für den Rest des Tages gab es zwei Möglichkeiten. Die Erste wäre sofort ins Bett zu gehen. Die Zweite, den Rest der Flasche sein Gehirn so weit ausbrennen zu lassen, dass er an nichts mehr denken musste. Stolz auf sich selbst entschied er sich für die erste Lösung. Doch bevor er diesen Gedanken abgeschlossen hatte, klingelte es an der Tür. Er dachte darüber nach nicht zu öffnen, wäre da nicht die Besitzerin von Miloh gewesen. Vielleicht wollte sie sich für das Abendessen ihres Katers bedanken.

Leider war dem nicht so. Marc öffnete die Tür und blickte in das breite Grinsen seines langjährigen Freundes Lars. Marc machte ihm Platz und ließ ihn durch die Tür treten.

„Was treibt dich hierher, Alter?“

Lars schlug Marc mit seiner, für einen Mann fast schon zu zart geratenen Hand, freundschaftlich auf die Schulter. „Ich habe von deinem Ärger in der Klinik gehört. Dachte mir, du könntest Gesellschaft brauchen.“ Er nahm Marcs Glas in die Hand, schnupperte daran und hob die rechte Augenbraue. „Du hast also schon Gesellschaft.“ Ungehemmt öffnete er den Küchenschrank und holte sich ein Glas heraus.

„Fühl dich wie zu Hause“, sagte Marc, als sich Lars den Whiskey aus dem nächsten Schrank nahm und beide Gläser auffüllte.

„Eis?“

„Keine Ahnung ob welches da ist.“ Marc zuckte die Schultern und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Er stützte die Ellenbogen auf den runden Kieferntisch und strich sich durch das dunkle Haar, das wirr in sämtliche Himmelsrichtungen stand. Vereinzelte Strähnen fielen ihm hartnäckig in die Stirn, auch wenn er sie ständig zu bändigen suchte.

Lars fand im Eisfach, was er suchte, ließ in jedes Glas drei Eiswürfel fallen und reichte Marc sein Glas.

„Los! Erzähl. Was ist es diesmal?“ Der drängende Blick seiner blauen Augen, die stets wirkten als wäre er völlig unterkühlt, unterstrich seine Worte.

Marc stand wieder auf, drehte Lars den Rücken zu und sah aus dem Fenster. Der alte Obstgarten lag begraben unter dem Laub, das er längst hätte zusammenharken müssen. Es war als würde er in das Spiegelbild seiner Seele blicken. Er fragte sich, weshalb er sich gerade jetzt wieder hängen ließ. Eine Zeit lang hatte der Eifer ihn so sehr gepackt, dass er fast schon hoffnungsvoll in die Zukunft geblickt hatte. Inzwischen war er lange genug dabei. Und was hatte er erreicht?

Er senkte den Blick. „Immer derselbe Scheiß. Ich bin mal wieder an meine Grenzen gestoßen.“

„Und erwischt worden.“ Lars schüttelte den Kopf, wobei ihm eine Strähne seines blonden schulterlangen Haares in die Stirn fiel.

Marc nickte. „Der alte Hausdrache hat direkt hinter mir gestanden und mir über die Schulter gesehen.“

„Dräger?“

Marc nickte.

„Du hast ihn nicht bemerkt?“

„Frag nicht so blöd. Er hat sich wie eine Katze angeschlichen.“ Zwei Katzen an einem Tag, dachte Marc und versuchte eine Erkenntnis daraus zu gewinnen. Ihm fiel jedoch kein unheilvolles Sprichwort auf zwei Katzen ein. Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch. Lars schenkte die geleerten Gläser noch einmal nach. Marc sah ihm dabei zu und versuchte die Aufschrift des Flaschenetiketts währenddessen zu lesen. Er zog die Stirn kraus. Es hatte keinen Sinn, die sich bewegenden Hieroglyphen zu entziffern. Er rieb sich den Nacken, der ihm nach einem langen Tag im OP schmerzte. „Das Ganze ist Wahnsinn. Vielleicht habe ich mich in etwas verrannt, das es nicht gibt.“

Lars legte Marc die rechte Hand auf die Schulter. „Ich würde dir gerne glauben und sehen, dass du endlich loslässt.“

Marc leerte sein Glas abermals und bemerkte, dass er sich offensichtlich doch für die zweite Möglichkeit entschieden hatte. Wozu den Abend im Bett verbringen, wenn die Flasche besser zu ihm war? Der Alkohol war auf dem besten Weg seinen Gehirnzellen erlösende Befreiung zu schenken. Egal, schließlich trank er nicht jeden Tag.

„Ich habe losgelassen. Trotzdem kotzt das Ganze mich an.“ Er steckte die Hände in die Taschen seiner Jogginghose und ballte sie zu Fäusten. „Ich hasse den Job in dieser Klinik, ich hasse die Kollegen und ich hasse mich.“

„Ich bin ein Kollege“, sagte Lars und machte einen Schmollmund, der Marc zum Lachen brachte.

Er stützte sich auf Lars Knie und versuchte, aufzustehen. Bleigewichte schienen an seinen Beinen zu hängen. Sie taten sich schwer ihn zu tragen und wankten ungehorsam zur Seite.

„Bist du sicher, dass du hoch willst?“, fragte Lars. Marc konnte trotz seines angeschlagenen Zustandes, das gehässige Grinsen seines Freundes erkennen und ärgerte sich darüber.

„Ich muss mal pissen“, sagte Marc und wankte Richtung Toilette.

Was danach geschah, entzog sich seiner Kenntnis. Das Nächste, was er bewusst wahrnahm, war das schrille Klingeln des Weckers am nächsten Morgen um sieben Uhr.

 

Am ersten Novembermorgen fühlte sich Noel so aufgeregt, wie an ihrem ersten Schultag. Viel zu früh stand sie auf, duschte und war eine Stunde vor Dienstantritt fertig. Vom heutigen Tag hing alles ab. Auf keinen Fall durfte sie ihren Einstieg vermasseln. Je schneller sie sich das Vertrauen der Kollegen und Ärzte erschleichen konnte, desto früher rückte ihr Ziel in greifbare Nähe.

Vor dem Spiegel kontrollierte sie ein letztes Mal, ob der dunkelblaue Baumwollrock richtig saß. Sie rückte die weiße, gestärkte Bluse im Rockbund zurecht und verrenkte die Arme hinter dem Kopf, um sich einen strammen Zopf zu flechten. So sollte es gehen, befand sie, zog ihren Mantel an und verließ das Haus.

 

Die Einweisung der Oberschwester war schnell aber gründlich. Nach einer Stunde hatte Noel das Gefühl, die heiligen Gebote der Klinik zu verstehen. Inzwischen trug sie ihre Berufskleidung, grüne Hose mit einem Schlupfkasack, der ihr bis über die Hüften fiel. Gemeinsam mit den Schwesternkolleginnen und zwei Ärzten trank sie ihren Einstandskaffee im Aufenthaltsraum des Schwesternzimmers. Der Raum war einfach, jedoch zweckmäßig eingerichtet. In der Mitte stand der obligatorische rechteckige Tisch. Um ihn herum waren acht einfache Küchenstühle verteilt. Auf dem mit einer blauen Tischdecke abgedeckten Tisch stand eine kleine Vase mit frischen Chrysanthemen in rot und blau. Auf der Arbeitsplatte der Küchenzeile befand sich eine Kaffeemaschine, die vor sich hinbrodelte. Der Duft frischen Kaffees breitete sich im gesamten Raum aus und verlieh ihm Behaglichkeit.

Der Chefarzt Dr. Dräger begrüßte Noel im Namen der gesamten Belegschaft. Sein warmes Lächeln in dem rundlichen Gesicht gefiel Noel auf Anhieb. Seine graugrünen Augen warfen ihr neugierig musternde Blicke durch die zierliche Nickelbrille zu. Kleine Lachfältchen um die Augen herum ließen ihn liebenswert erscheinen. Der weiße Haarkranz erinnerte Noel an ihren Vater, der dieselbe Frisur trug, seit sie denken konnte.

Der andere Arzt, ein großer schlaksiger Kerl mit vollem schwarzen Haar und einem genauso vollen schwarzen Bart, stellte sich als Dr. Ullstein vor.

„Schwester Ursel“, wandte sich Dr. Dräger an die Oberschwester. „Weshalb bekomme ich nicht so eine reizende Schwester zugeteilt?“

Sie stemmte die Hände in die korpulenten Hüften und drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger. „Ich wette Ihrer Frau ist es lieber, wenn ich Sie fest an der Kandare führe. Welcher Kerl kann bei dem jungen Gemüse schon für sein Ehegelübde garantieren?“

Noel lachte bei Dr. Drägers unterwürfigem Blick. „Glücklicherweise bin ich in besten Händen und werde auch darauf aufpassen, dass es so bleibt.“ Sie schwenkte ihre Tasse, trank den letzten Schluck Kaffee und stellte sie auf den Tisch. Erst jetzt sah sie den dunkelhaarigen Arzt, der einen Arm um die gut gepolsterte Schulter der Oberschwester gelegt hatte. Sie fragte sich, wann er sich dazu gesellt hatte. Seine dunklen Augen wirkten vielsagend. Bestimmt konnte er allein mit diesem Blick Anweisungen geben, die jeder verstand. Sie waren ruhig und gefühlvoll. Gewiss war er der Herzensbrecher der Klinik. Sein verwegenes Aussehen sprach dafür. Noel versuchte, seinem Äußeren keine übermäßige Aufmerksamkeit zu schenken. Doch sie konnte nicht verleugnen, dass die verwildert angehauchten Züge äußerst reizvoll waren. Das nicht allzu kurz geschnittene Haar stand ihm struppig vom Kopf ab, beinahe als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. Vielleicht war er das ja auch. Die dunklen Augenränder zeugten jedenfalls von nicht ausreichendem Schlaf.

„Wer kann nicht für sein Ehegelübde garantieren?“, fragte er Schwester Ursel, sah dabei jedoch Noel an.

Ursel antwortete: „Zum Glück haben Sie kein Gelübde, das Sie brechen könnten.“ Sie winkte Noel zu sich heran. „Darf ich vorstellen, Ihre neue OP-Schwester.“

Noel reichte ihm die Hand. Er umschloss sie fest und ließ sie nicht wieder los. Seine Hand fühlte sich warm, fest und kräftig an. Er musterte sie und grinste.

„Herzlich willkommen im Team. Ich bin Marc Bajona.“

Sein selbstsicherer Blick verunsicherte Noel. Langsam zog sie ihre Hand zurück. „Noel Thalbach.“

Er runzelte die Stirn und sah sie an. „Thalbach? Der Name kommt mir bekannt vor.“ Sein Blick verdunkelte sich und betonte die tiefen Ränder, die unter seinen Augen lagen. Insgeheim fragte sich Noel, ob er so viele Überstunden leistete oder ob die Augenränder von Alkoholkonsum und durchzechten Nächten herrührten.

„Vielleicht kennen Sie meinen Mann, Dr. Ralf Thalbach? Er hat hier ein paar Belegbetten.“

Noel entging nicht, wie dreist er ihren Mund mit dem Blick fixierte.

„Kann schon sein.“ Er schenkte sich ein Glas Wasser ein, leerte es hastig und wandte sich wieder Noel zu. Seine anfangs freundliche Art war eisiger Kälte gewichen.

„Schon mal einem Mann in den Bauch gesehen?“

„Bitte?“

„Wir haben eine laparoskopische Cholezystektomie auf dem Plan. Ich will, dass Sie Schwester Katharina über die Schulter sehen.“ Als Noel ihn einen Moment zu lang schweigend ansah, fügte er hinzu: „Eine Gallenblasenentfernung.“

„Ich weiß, was eine Cholezystektomie ist.“ Noel ärgerte sich, dass er sie durch seine Frage verwirrt hatte und sie nun, wie eine Schwesternschülerin da stand.

„Ich war nicht erst einmal bei einem solchen Eingriff dabei“, konterte sie und hätte sich im selben Moment für ihre Antwort ohrfeigen können. Dr. Bajona ging ohnehin nicht darauf ein. Obwohl sie glaubte, ein Zucken unter seinem rechten Auge gesehen zu haben.

Dr. Bajona öffnete die Tür. Beim Hinausgehen wandte er sich Katharina zu. „Zeigen Sie Ihrer neuen Kollegin, wie man sich vernünftig steril macht und dann assistieren Sie mir.“

Vielen Dank für die herzliche Aufnahme im Team, dachte Noel. Sie presste die Zähne zusammen, damit ihr kein weiteres Wort über die Lippen rutschte. Ihren neuen Vorgesetzten hatte sie vom Fleck weg gefressen. Er hatte sie schlichtweg ignoriert.

Noel zuckte zusammen, als sich Katharina bei ihr einhakte. Sie zwinkerte Noel mit ihren grünen Augen zu.

„Komm mit. Ich zeig dir alles.“

Katharina eilte Noel voraus in den Waschraum. Bei jedem Schritt wippte der Pferdeschwanz auf und ab, den sie aus ihrem lockigen, rot-blonden Haar gebunden hatte. Jeder Handschlag, den sie verrichtete, während sie sich steril machten, saß. Sie bewegte sich routiniert und schnell. Das hinderte sie jedoch nicht im Geringsten daran, Erklärungen wie ein Wasserfall aus sich heraus sprudeln zu lassen. Kein Wunder, dass sie so dünn ist, dachte Noel. Wenn sie ständig in diesem Tempo agierte, hatte keine Kalorie eine Chance, sich jemals an ihre Hüften zu heften.

Nach wenigen Minuten roch der ganze Raum nach Desinfektionslösung und sie waren bereit für den OP.

„So macht man sich also vernünftig steril“, sagte Noel und lächelte sarkastisch.

„Mach dir nichts draus. Er ist ein komischer Kauz. Dafür ist er der beste Chirurg weit und breit.“

Vielleicht weil er beim Operieren ebenso wenig Skrupel wie bei seinen Mitmenschen zeigt?, fragte sich Noel und setzte im Stillen seinen Namen auf ihrer Liste ganz nach oben.

Im Operationssaal gab er sich so charmant wie ein unnahbares Wesen einer höheren Gattung. Trotzig zeigte Noel ihm die Zunge unter dem Mundschutz, als er sie von oben bis unten musterte. Ja, Herr Doktor, ich habe mich vernünftig steril gemacht, antwortete sie im Stillen seinem Blick. Noel nahm sich vor, ihm die Stirn zu bieten und nicht als Erste wegzusehen. Dabei stellte sie fest, wie faszinierend seine Augen aussahen. Dunkel und mandelförmig ragten sie zwischen Mundschutz und OP-Haube aus seiner Maskierung. Kleine Fältchen zeichneten sich neben seinen Augen ab und betonten die maskulinen Züge auf seiner sonnengebräunten Haut. Als Noel bemerkte, wie sie sich von diesen Augen fesseln ließ, wandte sie den Blick, entgegen ihrer guten Vorsätze, ab.

Dr. Bajona delegierte Noel auf den Platz hinter Katharina und setzte das Skalpell auf der Brust des Patienten an.

„Täusche ich mich, oder sehen Sie plötzlich blass aus?“

„Sie täuschen sich“, antwortete Noel flüsternd. Am liebsten hätte sie ihm ihre Meinung über seine Person laut ins Gesicht geschrien. Leider verbot ihre gute Erziehung, dies zu tun. Aufgeblasenes Arschloch, wiederholte sie im Kopf immer wieder.

Allerdings konnte sie nicht abstreiten, dass er ein erstklassiger Chirurg sein musste. Er bewegte die Hände wie ein Meister seines Faches, arbeitete routiniert und wirkte durchweg konzentriert. Zumindest in dieser Hinsicht freute sie sich auf eine Zusammenarbeit mit ihm. Er leitete die OP während Dr. Retzlaff ihm assistierte. Außer den beiden Chirurgen, Noel und Katharina war nur noch der Anästhesist im Raum, der am Kopfende des Patienten saß. Er überprüfte die Narkosetiefe und reagierte auf jedes ungewöhnliche Piepen des EKGs mit einem kontrollierenden Blick. Die Ruhe, die er ausstrahlte, ließ sie wissen, dass es dem Patienten gut ging. Noel richtete die OP-Lampe neu aus, als die Schatten von Dr. Bajonas Armen auf den OP-Bereich fielen. Anstatt es ihr stillschweigend zu danken, warf er ihr einen Blick zu, der Noel alles andere als dankbar erschien. Ohne sich davon äußerlich beeindrucken zu lassen, richtete sie den Blick auf die Wunde. Sie hoffte auf die sonst so beruhigende Wirkung der grünen Stofffarben im OP und nahm sich vor, sich nicht von Dr. Bajona aus der Ruhe bringen zu lassen.

Das Stillstehen, ohne helfen zu dürfen, war eine Strafe für Noel. Ihr Nacken schmerzte, die Beine und Füße taten weh, und die Brille drückte auf dem Nasenrücken. Dies alles waren Dinge, die sie nie bemerkt hatte, während sie selbst arbeitete. Bei einer OP, wie Noel sie schon hunderte von Malen gesehen hatte, langweilte sie sich als bloße Zuschauerin. Umso erfreuter war sie, als Dr. Bajona sie zum Vernähen endlich an den Patienten heranließ. Besser bei den Aufräumarbeiten dabei sein, als gar nicht, dachte sie und reichte ihm den Nadelhalter an.

Dr. Bajona blickte kurz in Noels Augen. Dann ließ er die Schultern deutlich sinken und sah Katharina an. „Zeigen Sie ihr, wie assistiert wird.“

Noel hörte etwas krachen und fragte sich, ob es ihre Zähne waren, die sie fest zusammen presste. Schweigend ließ sie sich von Katharina zeigen, wie Herr Doktor es am liebsten hatte, und tat es ihr dann für den Rest der OP gleich.

Nachdem sich Noel den OP-Kittel ausgezogen hatte, kümmerte sie sich zusammen mit Katharina um die benutzten Instrumente, die in das Desinfektionsbad getaucht wurden. Sie säuberten und desinfizierten sämtliche Flächen, bevor sie in die Schleuse gingen und sich umzogen.

„Das wird schon werden“, bemerkte Katharina mit einem Augenzwinkern.

Noel schob sich die Ärmel ihrer Dienstkleidung hoch. „Kann ja wohl nur besser werden.“

„Wird es. Ich habe hier noch einen Moment zu tun. Gehe ruhig schon zurück zur Station.“

„Gut. Dann bis später.“ Hoffentlich werden die nächsten Erfahrungen, die mich hier erwarten, nicht ebenso frustrierend wie die Vergangenen sein, dachte Noel.

Kaum hatte sie die Schleuse verlassen, spürte sie, dass sie nicht allein war. Wie ein Messer bohrte sich ein stechender Blick in ihren Rücken. Sie drehte sich um und bemerkte Dr. Bajona, der lässig an der Wand lehnte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie grinsend.

„Immerhin sind Sie nicht umgekippt.“ Er durchquerte den etwa vier Meter breiten Raum und kam auf sie zu. Viel zu dicht vor ihr blieb er stehen. Nur wenige Zentimeter trennten sie voneinander. Oder kam es ihr nur so nah vor? Obwohl er kein aufdringliches Aftershave trug, nahm sie den herben Duft, der von ihm ausging, deutlich wahr. Ohne es zu wollen, fing sich ihr Blick im Halsausschnitt seines Kasacks. Am unteren Ende sah sie den Ansatz des schwarzen Brusthaars, das sich auf der gebräunten Haut kräuselte. Sie zwang sich, den Blick davon loszureißen. Bestimmt war er so ein Macho, der sich dreimal die Woche auf die Sonnenbank legte, nur um Frauen auf abwegige Gedanken zu bringen.

„Ab morgen assistieren Sie mir. Gehen Sie rechtzeitig ins Bett. Der Tag wird lang.“

Noel drehte sich von ihm weg, um dieser aufdringlichen Nähe zu entkommen. Sie ging an das Waschbecken und wusch sich die Hände. Zum Schluss beugte sie den Kopf über das Becken, ließ die Handflächen voll Wasser laufen und erfrischte ihr Gesicht damit. Noch nass drehte sie sich ihm zu.

„Wunderbar“, sagte sie lächelnd. „Dann lerne ich vielleicht, wie man sich steril macht und Ihnen anreicht.“ Sie trocknete Hände und Gesicht ab und warf das Handtuch in die Wäschebox.

„Vielleicht“, antwortete er. Sein dämliches Schmunzeln dabei brachte Noels Blutdruck zum Überkochen. Sie sah auf die Uhr, stellte fest, dass sie Feierabend hatte, und ließ ihn stehen.

„Bis morgen, Schwester Noel“, rief er ihr nach.

„Schönen Feierabend, Herr Doktor.“ Sie schloss die Tür hinter sich und eilte in die Umkleide, um sich ihre Privatkleidung anzuziehen.

„Arrogantes Arschloch“, murmelte sie, ohne zu bemerken, dass sie nicht allein war. Aus der Nachbarkabine drang leises Kichern zu ihr durch.

„Genauso habe ich mich an meinem ersten Tag mit Bajona gefühlt.“

Erleichtert atmete Noel auf, als sie Katharinas Stimme erkannte, der es offensichtlich nicht anders mit Bajona ergangen war. „Und wie kommst du heute mit ihm zurecht?“

„Bestens. Er hat ja jetzt eine Neue, an der er seine Launen ausleben kann.“

„Recht vielen Dank auch. Das brauchte ich zu meiner Aufmunterung.“ Nachdem sich Noel umgezogen hatte, stieg sie in ihre Stiefel und öffnete den schweren Baumwollvorhang der Kabine. Katharina stand bereits fertig angezogen davor und wartete auf sie.

„Inzwischen kann ich damit umgehen. Eigentlich ist er kein übler Kerl.“ Sie lächelte verschämt. „Hast du ihm mal in die Augen gesehen?“

Welche Frau könnte nicht in diesen Augen ertrinken?, dachte Noel.

„Was nützen schöne Augen, wenn der Typ zu dem sie gehören ein … ach vergiss es.“

„Du hast also schon auf seine Augen geachtet.“

Wie hätte ich die übersehen können?, dachte Noel. „Wo soll ich sonst hinsehen, wenn er mich mit seinem Blick aufspießt?“, log sie und dachte daran, wie sehr seine Augen sie beeindruckt hatten.

„Ja, er kann einen schon einschüchtern. Aber mich beeindruckt er damit nicht mehr“, sagte Katharina. Sie zuckte die Schultern und zwinkerte Noel zu. „Inzwischen lächle ich ihn an und zeige ihm den hier hinter dem Rücken, wenn er mich nervt.“ Sie zeigte Noel ihren aufgerichteten Mittelfinger und grinste.

„Mich ärgert nur, dass manche Kerle denken, sie wären von einer höheren Gattung und wir ihr Fußvolk.“ Noel zog den Mantel über, klemmte sich die Handtasche unter den Arm und ging zur Tür. Zusammen mit Katharina verließ sie die Klinik und ging zu ihrem Wagen. Beim Verabschieden reichte Katharina ihr die Hand.

„Ich freue mich jedenfalls, dass du bei uns anfängst. Wir sehen uns morgen.“

„Danke Katharina. Ich freu mich auch auf den Job.“

Sie schloss das Auto auf, stieg ein und fuhr nach Hause. Sie freute sich in der Tat auf den Job. Nur auf andere Weise als Andere es denken mochten.

Bajonas Verhalten ging ihr nicht aus dem Kopf. Seine erste Begrüßung erschien ihr aufrichtig und freundlich. Mit einem Mal war seine Stimmung umgeschwenkt und Noel war zum Spielball seiner Launen mutiert. Aber wenn er dachte, dass sie sich von ihm erniedrigen ließ, hatte er sich getäuscht. Sie würde ihm Paroli bieten, solange es nur ihren Arbeitsplatz nicht gefährdete. Praxisbezogen sollten ihm die Argumente jedenfalls schnell ausgehen. Eines wusste Noel sicher, ihren Job beherrschte sie im Schlaf. Sie war eine erstklassige OP-Schwester und das würde ihm in den nächsten Tagen nicht entgehen.

Aber sie würde ihm nicht nur assistieren, sie würde ihn beobachten. Mehr als ihm lieb sein konnte. Jeder Mitarbeiter würde sich Noels Augenschein unterziehen müssen. Doch er war der Erste, dem sie es zutraute.

Ralf war bereits zu Hause, als sie ankam. Er begrüßte sie mit ungewohnter Begeisterung. Noel freute sich über sein Interesse, denn offensichtlich war er neugierig und wollte wissen, wie ihr Tag gewesen war. Nachdem sie den Mantel ausgezogen hatte, ging sie in die Küche und ließ Wasser in die Kaffeemaschine ein. Sie biss die Zähne fest zusammen, um ihrem Ärger keine Luft zu machen. Auf keinen Fall sollte Ralf auf die Idee kommen, der Job wäre ein Fehler gewesen.

Also machte Noel gute Miene zum bösen Spiel und lobte stattdessen Bajonas ärztliche Fähigkeiten. Mit mehr Schwung als nötig öffnete sie die Küchenschranktür, nahm die Kaffeedose hervor und füllte Kaffee in die Maschine. Während der Kaffee durch den Filter rieselte und seinen Duft in der Küche verbreitete, fragte Ralf sie nach den Einzelheiten des Tages aus. Noel wunderte sich, dass er sich plötzlich doch für ihren Job interessierte, andererseits gefiel es ihr sehr. Schließlich sollte er wissen, was seine Frau tat. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, legte sich ein Schatten auf ihr Gewissen, denn er ahnte nicht einmal ansatzweise, weshalb sie dort arbeitete.

„Ich bin in einem sehr professionellen Team gelandet“, beendete sie ihren Bericht und machte sich somit keiner Lüge strafbar. Tatsächlich hatte sie Bajona beim Operieren bewundert. Es war offensichtlich, dass er verstand, was er tat. Aber tat er es mit Liebe oder würde er jeden Menschen aufschneiden? Würde er für Geld jemanden sterben lassen?