12

 

Wieso musste sie so unverschämt sexy aussehen? Marc lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bar, eine Hand in der Hosentasche des dunkelgrauen Anzugs, in der Anderen ein Glas Bier. Noch vor wenigen Minuten hatte er Lars verflucht, der ihn überredet hatte, auf diese Party mitzukommen. Dieses Spiel aus sehen und gesehen werden war nicht Marcs Welt. Letztendlich hatte er jedoch nachgegeben, weil er wusste, wie hartnäckig Lars sein konnte und er nichts anderes vorhatte. Vor fünf Minuten, als Marc bereits in geputzten schwarzen Schuhen und mit gepflegtem weißen Hemd unter dem Smoking, auf der Party stand, hatte ihm Lars kleinlaut zu verstehen gegeben, dass ihm etwas dazwischen gekommen war.

Marc war drauf und dran gewesen auf dem Absatz kehrt zu machen. Doch dann wurde sein Blick von den schönsten Schulterblättern, die je aus einem schwarzen Kleid herausragten, wie ein Magnet angezogen.

Sie stand mit ihm zugewandtem Rücken neben ihrem Mann. Schwarze Löckchen fielen aus ihrer hochgesteckten Frisur über den etwas zu blassen Schwanenhals.

Marcs Kehle war wie ausgetrocknet, obwohl er einen hastigen Schluck Bier trank.

Sie strich sich das Kleid über den schlanken Hüften glatt und setzte sich mit ihrem Mann zusammen an einen der wenigen freien Tische. Obwohl sie sich mit ihm unterhielt, wirkte sie verloren in der Menge. Beinahe als würde sie sich hier genauso wenig wohl fühlen wie er selbst. Kein Wunder bei der fehlenden Aufmerksamkeit, die ihr Mann ihr schenkt, dachte Marc verbittert, während er sie unentwegt ansah. Aber das reichte ihm nicht, er wollte in ihrer Nähe sein. Es war schwer genug, bei der Arbeit an sie heranzukommen, auch wenn ihr Verhältnis sich in letzter Zeit gelockert hatte.

Er trank das Bier aus, stellte das Glas auf den Tresen und ging, ohne weiter darüber nachzudenken, auf ihren Tisch zu. Schließlich hatte das schon einmal funktioniert.

Er tat als würde er an ihrem Tisch vorbei gehen, sah sich um und traf auf den Blick ihres Mannes. Marc reichte ihm die Hand.

„Dr. Thalbach, freut mich Sie wiederzusehen.“

Thalbach stand auf und begrüßte Marc. „Dr. Bajona, nette Veranstaltung, nicht wahr?“

Schleimscheißer, dachte Marc, nickte jedoch mit einem Lächeln auf den Lippen und reichte Noel die Hand. „Hallo Noel. Freut mich, Sie hier zu sehen.“ Ihr Blick, der ein wenig an einen Eiskristall erinnerte, freute ihn nicht so sehr, wie der Anblick ihrer Vorderansicht. Er räusperte sich und riss die Augen von ihrem großzügig geschwungenen Dekoltee los, nur um im nächsten Moment erneut hinzusehen. Dabei bot sie keine Einblicke in Regionen, in die er nur zu gerne vorgestoßen wäre. Sie deutete ihre Reize lediglich an und genau das machte ihn verrückt.

Zu seiner Erleichterung brachte der Schleimscheißer das stockende Gespräch in Gang. Wenn es auch nicht mehr als verzweifeltes Geplänkel war, so rettete es ihn doch davor, in ihrem Ausschnitt zu ertrinken.

„Wo haben Sie Ihre Begleitung gelassen, Dr. Bajona?“

Ah, er will mich loswerden.

„Oder sind Sie wieder allein unterwegs?“

„Meiner reizenden Begleitung ist in letzter Minute etwas dazwischen gekommen.“ Nun sag schon, dass ich mich setzen darf.

Ralf lächelte Noel unsicher an, die den Blick abwandte. Hatte es sie etwa getroffen, dass er nicht allein kommen wollte? Sie tut nur so kühl. Insgeheim wünscht sie sich, dass du mich einlädst. Ralf deutete auf den freien Stuhl. „Vielleicht möchten Sie mit uns vorlieb nehmen. Setzen Sie sich.“

Ja!, schrie er innerlich und bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, dass er erreicht hatte, was er wollte.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Noel?“

Sie lächelte ihn an. Wie hübsch sie doch sein kann, wenn sie lächelt, dachte er und bemühte sich, ihre ablehnende Haltung zu ignorieren. Er setzte sich an den Tisch und bestellte ein Wasser, als die Kellnerin nach Getränkewünschen fragte.

„Sie trinken nur Wasser, Dr. Bajona?“ Er wusste genau, dass ihr schnippischer Unterton dem Wörtchen ‚Sie’ galt. Dabei wollte er sie doch nur nicht vor ihrem Liebsten kompromittieren.

„Ich muss noch fahren.“ Ja, da staunst du, was? Ich bin gar nicht so verantwortungslos, wie du immer gedacht hast.

Sie rückte auf ihrem Stuhl herum und sah den Schleimscheißer lächelnd an. „Ich würde gerne tanzen, Schatz.“

Ralf warf ihr einen zurechtweisenden Blick zu und sah dann Marc an. „Kann man einer so hübschen Frau einen Wunsch abschlagen? Sie entschuldigen uns einen Moment?“

Noel stand mit einem triumphierenden Lächeln auf. Marc sah ihr nach und wünschte seine Hand dorthin, wo jetzt die des Schleimscheißers lag. Wie dieser kleine Hintern sich wohl in seiner Hand anfühlen mochte? Marc ließ den Blick auf seine rechte Hand sinken und bemerkte grinsend, dass er sie gewölbt hatte, als würde er damit ihren Po tätscheln – wie Thalbach es tat. Marc fragte sich, weshalb sie ihm gegenüber noch immer so missgelaunt war. Mit dem Blick verfolgte er die beiden auf der Tanzfläche und bemerkte, wie sie alles andere als harmonisch miteinander tanzten. Anstatt den Tanz zu genießen, diskutierten sie über irgendetwas. Nur zu gut stellte Marc sich das Thema der Diskussion vor und grinste in sich hinein. Wahrscheinlich würden sie ihn gleich abservieren, aber das hatte er sich letztendlich selbst zuzuschreiben. Nach seiner plumpen Selbsteinladung hätte er sich wahrscheinlich auch schnell, aus dem Staub gemacht. Dabei wusste er selbst nicht einmal, wieso er sich verhielt, wie er es tat. Was wollte er damit bezwecken, in ihrer Nähe zu sein? Er wollte keine Frau an seiner Seite und sie hatte schon den Schleimscheißer an der ihren.

Marc sah mit Wohlwollen, wie sie ihre schlanken Hüften geschmeidig im Rhythmus der Musik bewegte, und wusste plötzlich, weshalb es ihn zu ihr hinzog. Sie war die erste Frau, die in seinem Herzen dieses fast schon schmerzende Ziehen auslöste. Dieses Gefühl, welches bisher nur Lara in ihm auslösen konnte. Seit ihrem Tod vor über vier Jahren hatte kein weibliches Wesen es geschafft, ihn aus seiner Depression zu befreien, ihm auch nur die Augen für eine Zukunft zu öffnen. Und dann tauchte diese verletzliche Frau in seinem Leben auf und zeigte ihm auch noch die Zähne, was den Reiz einer Eroberung doch erst richtig ausmachte. Seit er von ihrer Vergangenheit wusste und sich somit ihr bitteres Ziel vorstellen konnte, sah er sie mit ganz anderen Augen als zuvor. Sie war eine Kämpferin, die sich nicht unterkriegen ließ. Eine Frau, die sich durch viel Geduld und harte Arbeit bis an ihr Ziel vorarbeitete.

Marc lehnte sich lässig mit dem Arm über die Stuhllehne und musterte ihre Bewegungen unverdrossen weiter. Trotz all der Kontroversen erinnerte ihn ihre Verbissenheit an seine Eigene. Er wandte den Blick von ihr ab und sah in den Saal, in dem jede Menge Doktoren tanzten. Sein Magen fühlte sich an, als würde er von einer eisernen Faust zusammengequetscht werden. Waren sie hier? Tanzten sie vielleicht unverdrossen um ihn herum, während er tagtäglich tausend qualvolle Tode starb?

Ja, Noel war ihm ähnlicher, als sie ahnte. Eine nahezu identische Tragödie verband sie.

Er musste mit ihr reden.

Kaum waren die letzten Töne der Melodie verstummt, kam Thalbach mit Noel an seinem Arm zurück an den Tisch. Außer Atem delegierte er Noel direkt in Marcs Arme.

„Genießen Sie den nächsten Tanz mit der schönsten Frau der Party, Dr. Bajona.“

Marc sah, dass Noel schluckte und ihre Augen fast Funken versprühten. Trotzdem hielt sie sich angemessen zurück und ganz offensichtlich zwang sie sich zu lächeln.

Für einen Moment zögerte Marc. Die Art, wie Thalbach seine Frau wie eine Ware weiterreichte, missfiel Marc. Aber diese verfluchte Versuchung. Er wollte das Angebot ausschlagen. Ja, das wäre die einzig passende Reaktion gewesen.

„Vielen Dank für die großzügige Leihgabe, Dr. Thalbach“, antwortete er stattdessen und hielt Noel seinen Arm entgegen. „Darf ich bitten, Noel?“

„Geh nur, Baby.“ Thalbach machte eine Handbewegung Richtung Tanzfläche.

Und Baby schritt an Marcs Seite auf das Parkett, während sich Paul Mc Cartney und Stevie Wonder in ‚Ebony and Ivory’ die Frage stellten, weshalb es die Menschen nicht schafften, Seite an Seite zu leben, wie die schwarzen und weißen Tasten auf Stevies Piano.

Marc grinste, als er den Arm um Noels Hüfte legte.

„Der Song kann kein Zufall sein, Noel. Hör endlich auf in mir den Feind zu sehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er sie an sich heran, und sah ihr unverhohlen in die Augen, bis sie endlich den Ansatz eines Lächelns zu erkennen gab. Langsam bewegte er sich im Rhythmus der Musik und spürte peinlich genau jede einzelne ihrer grazilen Bewegungen.

„Scheint mir eher, als würde dir das Tempo des Songs besonders passend sein.“

Hatte er etwa gerade ein Zwinkern in ihrem Auge entdeckt? Er lockerte den Knoten seiner roten Krawatte und lachte leise. „Ich kann nicht sagen, dass mir das Tempo unangenehm ist. Dir etwa?“

Noel wandte ihr Gesicht von ihm ab, und Marc erkannte weshalb. Nein, es war ihr keineswegs unangenehm ihm so nah zu sein. Sie konnte es nur nicht zugeben.

„Du tanzt sehr gut“, wich sie der Frage aus und Marc wusste, dass er mit seiner Vermutung Recht hatte.

„Liegt bestimmt an meiner Tanzpartnerin.“ Er zog sie noch näher an sich und spürte ihre kleinen, festen Brüste an seiner Brust. Konzentriere dich auf etwas anderes. Sofort! Er musste den Kopf frei bekommen, denn auch sie musste jede seiner körperlichen Reaktionen spüren, und die waren unmissverständlich.

„… live together in perfect harmony, oh why don’t we?“, sang er ihr den Refrain leise ins Ohr. Ihr blumiges Parfum zog ihm dabei in die Nase und benebelte seine Sinne.

„What we need to survive, together alive”, setzte sie den Gesang direkt an seinem Ohr fort. Ihr warmer Atem brachte seinen Puls in Wallung.

„Was wir zum Überleben brauchen …“, flüsterte Marc in ihr Ohr.

„… Ist zusammen zuleben“, setzte sie die Übersetzung des Songtextes für ihn fort. Verwirrender als ihre Worte war allerdings ihr Gesichtsausdruck. Marc wollte es nicht beschwören, aber er hatte das Gefühl, eine Barriere durchbrochen zu haben.

Widerwillig begleitete er Noel zurück an den Tisch, als der Song endete. Seine Hand lag genau auf dem sexy Rücken, der ihn schon den ganzen Abend verrückt gemacht hatte. Was ihm äußerste Befriedigung verschaffte, war der Umstand, dass sie dieser Berührung nicht auswich. Was allerdings noch befriedigender wirkte, waren ihre Worte, während sie sich setzte.

„Vielen Dank, Dr. Bajona.“

Er verbeugte sich lächelnd und tiefe Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Nicht was sie sagte, freute ihn. Nein, es war die unterschwellige Kleinigkeit, die ihr Mann nicht wissen konnte. Die nur sie und er wussten. Dass sich ein Arzt und eine Schwester duzten, war keine Seltenheit und hatte im Prinzip nichts zu bedeuten. Aber hatte es auch dann nichts zu bedeuten, wenn eine Frau ihrem Mann diese Vertrautheit verschwieg? Wohlwollend stellte er fest, dass sie beide ein kleines Geheimnis verband. Er beschloss, es als Beweis ihrer Freundschaft zu sehen und nicht gegen sie einzusetzen.

Er setzte sich auf seinen Stuhl, trank einen großen Schluck Wasser und strich sich das Haar, das ihm in die Stirn gefallen war, aus dem Gesicht. Als er Noel wieder ansah, blickte sie verdächtig schnell auf das Glas, das sie in der Hand hielt. Hatte sie ihn etwa beobachtet und fühlte sich erwischt? Marc trank sein Glas leer und beschloss, dem Spiel ein Ende zu bereiten. Er hatte mehr bekommen, als er sich erhofft hatte, und die Absicht sich aufzudrängen, lag ihm fern. Gerade wollte er aufstehen und sich verabschieden, als ein Handyklingeln ihn seine Bewegung vergessen ließ. Zum Glück nicht seines.

„Thalbach“, meldete sich Noels Mann, hielt die andere Hand auf das freie Ohr um den Partylärm abzuschotten und ging nach draußen.

Eine Minute später war er zurück am Tisch und drückte seine Lippen auf Noels Wange. Ein seltsames Ziehen schmerzte in Marcs Bauch. Er wandte den Blick ab und zwang sich auf die Tanzfläche zu sehen, bis er aus den Augenwinkeln bemerkte, dass Thalbach sich wieder aufgerichtet hatte.

„Baby, es tut mir leid. Ein Patient hat einen Notfall. Ich muss in die Praxis.“

Noel trank ihr Glas leer und wollte aufstehen. „Das ist nun mal dein Beruf. Lass uns los.“

Thalbach lächelte dieses schleimige Lächeln, das Marc bereits bei der ersten Begegnung missfallen hatte, und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Es wird länger dauern. Amüsiere dich noch und nehme später ein Taxi. Lass dir nicht den Spaß verderben.“

„Aber …“

„Erzähl mir morgen, wie es war. Ich muss mich beeilen.“ Und damit war er verschwunden, bevor Baby etwas erwidern konnte.

Noel sah Marc mit einem Blick an, der ihn seltsam berührte. Er konnte ihren Ausdruck kaum deuten, aber er drückte Unverständnis, Traurigkeit und vielleicht sogar Wut aus. Ganz bestimmt aber entsprach ihr Blick nicht den verständnisvollen Worten, die sie gerade über seinen Beruf gesagt hatte.

Sie sah auf die Uhr und stand auf. „Ich hasse solche Partys.“ Sie legte den Kopf schief und lächelte.

„Ich bin auch nur hier, weil ich überredet worden bin.“ Er schmunzelte und stand ebenfalls auf.

„Ach, ja“, sagte sie leise. „Deine reizende Begleitung.“

„Er beugte sich zu ihrem äußerst verführerischen Ohr hinab, damit sie ihn trotz der lauten Musik verstehen konnte. Vor allem aber, um noch einmal ihr Parfum zu riechen und fragte: „Eifersüchtig?“

Sie lachte, aber ihr Blick verriet sie. Jepp. Der Gedanke, wer mich wohl versetzt hat, wurmt sie. Sollte sie eine aufmerksame Beobachterin sein, was Marc in diesem Fall nicht hoffte, musste sie seinen zufriedenen Gesichtsausdruck erkennen.

„Lass uns einfach woanders hinfahren“, bot er an, obwohl ihm bewusst war, was sie antworten würde.

Sie sah erst auf ihre Schuhspitzen und dann in seine Augen. „Ich werde nach Hause fahren.“

„Ich fahre dich.“

„Ich …“, sie zögerte, als wäre sie sich nicht schlüssig, ob sie das Richtige tat. „… möchte das nicht.“

Marc legte den Kopf in den Nacken und seufzte. „Sehe ich so gefährlich aus?“

Sie nahm ihre Handtasche und ging von ihm gefolgt auf den Ausgang zu. „Seit wann sagt das Aussehen etwas darüber aus, was ein Mensch in seinen Tiefen verbirgt?“

Zwar lachte Marc, doch was sie sagte trieb ihm einen Pfahl durch die Brust, denn er verstand ganz genau, was sie damit meinte. Er schluckte schwer und legte einen Arm um ihre Schultern, als sie aus dem Hotel heraustraten.

„Lass mich dich nach Hause fahren. Wir müssen reden.“

Sie wich seiner Berührung aus. „Bitte lass so etwas. Du weißt, dass es zu nichts führt. Ich wünsche dir einen schönen Abend.“

Marc zuckte zurück, als hätte sie ihn geohrfeigt und zog seine Hand zurück. Sie hatte Recht. „Entschuldige, Noel. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Trotzdem sollten wir reden.“

Sie nickte. „Ein andermal, okay? Wir sehen uns morgen.“

Und damit ließ sie ihn stehen und ging auf den Portier zu, wahrscheinlich um sich ein Taxi rufen zu lassen.

Marc blieb nichts anderes übrig, als sie ziehen zu lassen und zu seinem Auto zu gehen, das am entgegengesetzten Ende des Parkplatzes stand. Er ließ sich Zeit und genoss den lauen Abend auf dem Weg zu seinem Wagen. Resigniert stieg er ein und schaltete das Radio ein. „… hören Sie Ebony and Ivory …“ Auch das noch, dachte er und wollte den Sender wechseln. Doch es war bereits zu spät. Schon bei den ersten Takten des Songs drängte sich ihm die Erinnerung ihrer warmen Haut unter seinen Händen in den Kopf. Fast spürte er ihren Atem an seinem Hals, roch ihr Parfum, spürte ihre Bewegungen. Abrupt schaltete er das Radio aus. Wach endlich auf, Idiot. Diese Frau ist unerreichbar für dich.

Er warf den Motor an und fuhr am Hotelportal auf die Ausfahrt zu. Noel war nicht mehr zu sehen. Er bog in die Seitenstraße, fuhr knappe hundert Meter und entdeckte die zierliche Gestalt, die wie verloren die dunkle Straße entlang ging. Er grinste selbstgefällig und verlangsamte das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit, als er auf ihrer Höhe war. Da sie nicht sofort reagierte, öffnete er das Beifahrerfenster und beugte sich zur Seite, damit sie ihn sehen konnte.

„Nun stell dich nicht so an und steig endlich ein.“

Sie blieb stehen und seufzte laut.

„Scheint so als hätte ich keine andere Wahl, wenn ich nicht zehn Kilometer zu Fuß nach Hause laufen will.“ Zu seiner Überraschung lachte sie herzhaft los. Als sie einstieg und sich neben ihn setzte, roch er ihren dezenten Duft wieder und wusste, dass es keine Rolle spielte, dass diese Frau verheiratet war. Auch wenn er genau wusste, dass diese Gefühle niemals eine Zukunft haben würden, er begehrte sie.

 

Noel lehnte sich in dem bequemen Ledersitz zurück und bemühte sich, nicht unentwegt auf seine kräftigen und braun gebrannten Chirurgenhände zu sehen. Sein Wagen befand sich in einem beängstigend tadellosen Zustand. Er wirkte von außen wie innen, als wäre er gerade erst aus der Fabrik gefahren. Dabei wusste sie, dass er das Auto bereits einige Jahre fuhr. Soviel Ordnungssinn hatte sie ihm nicht zugetraut.

„Ist wohl kein Taxi zu bekommen, um diese Zeit, was?“ Er blinzelte sie an als wäre er froh, dass es nicht anders war. Dummerweise machte er das so charmant, dass sie lächeln musste, obwohl sie ihm viel lieber die kalte Schulter gezeigt hätte. Diese Nähe zu ihm brachte sie durcheinander und sie wollte nicht durcheinandergebracht werden.

„Nein“, sagte sie ruhig. „Ich weiß nicht, was Ralf sich dabei gedacht hat.“

„Es war ein Notfall. Schon vergessen?“

Sie sah ihn verächtlich an. „Männer halten wohl immer zusammen?“

Die Ampel vor ihnen sprang auf rot, Marc hielt und sah sie an. „Ich halte zu niemandem.“ Die Art wie er das sagte, ließ vermuten, dass hinter dieser Aussage viel mehr steckte, als die vier Worte normalerweise ausdrückten. Noel nestelte an den Trägern ihrer Handtasche herum.

„Du wolltest mit mir reden?“ Nun war es zu spät, obgleich sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich wissen wollte, was er zu berichten hatte.

Er seufzte, die Ampel wurde grün und Noel schien es, als wäre er dankbar, ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.

„Ich war bis Anfang November 2002 mit einem Entwicklungshilfeteam in Algier.“ Seine Stimme klang leise und gefasst.

„Das klingt nach einer interessanten Erfahrung. Was hat das mit mir zu tun?“ Sie senkte den Kopf, denn sie kannte die Antwort längst. Interessanter war die Frage, weshalb er sie kennen musste.

Er setzte den Blinker, sah sich nach dem folgenden Verkehr um und kam am Straßenrand genau vor ihrem Haus zum Stehen. „Du weißt was ich dir damit sagen will. Ich will, dass das Katz- und Mausspiel zwischen uns endlich aufhört.“

Noel schloss entmutigt die Augen und sah aus dem Fenster auf den nur schwach beleuchteten Gehweg.

„Du hast also in meiner Vergangenheit gegraben, bis du auch das letzte bisschen Intimität ans Tageslicht geholt hast?“

Er legte seine Hand an ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Es war nicht nötig tief zu graben. Noel, dein Verhalten hat mich geradezu darauf gestoßen.“

„Das gibt dir aber nicht das Recht, mir nachzuspionieren.“ Tränen standen in ihren Augen.

„Doch das gibt es mir.“ Er ließ die Hand auf ihre Schulter sinken. „Was ich über dich herausgefunden habe, können die Verantwortlichen ebenso.“

Noel schluckte, spürte, wie sich die Vergangenheit an die Oberfläche bohrte und sie erzittern ließ. „Weshalb sagst du mir das alles?“ Ihre Worte waren nicht viel mehr als ein Schluchzen, das tief aus ihrer Kehle kam.

Er streckte die Finger aus und hielt ihr die ausgebreitete Hand entgegen. „Weil du deine Energie auf den Falschen ausgerichtet hast. Ich war nicht einmal im Land, als deine Tochter gestorben ist.“ Er zögerte, gab ihr Zeit seine Worte zu verstehen. „Und weil ich nicht will, dass du dasselbe Schicksal erleidest wie sie. Wer auch immer dahinter steckt, sie kennen keine Skrupel.“

Es bestand kein Zweifel. Was er sagte, stimmte. Wer auch immer zusammen mit Dräger dahinter steckte, sie schreckten vor nichts zurück. Einen Moment überlegte Noel, ob sie Marc ins Vertrauen ziehen sollte. Offensichtlich wusste er genug, wenn ihr auch nicht klar war, wie viel er tatsächlich wusste. Es brannte ihr unter den Nägeln, ihm von dem Notizbuch zu berichten. Aber nein. Das war viel zu riskant. Was, wenn er doch mit Dräger unter einer Decke steckte und nur heraus bekommen wollte, wie viel sie wusste? Wenn sie erfuhren, dass sie die Geheimnisse des kleinen, schwarzen Buches kannte, würde sie in noch größerer Gefahr schweben, als sie es ohnehin bereits tat.

Tief in ihrem Inneren glaubte sie, oder wollte sie glauben, dass er die Wahrheit sagte. Trotzdem entschied sie sich dagegen, ihn zu informieren.

Durch den Tränenschleier, der sich wie ein dichter Vorhang vor ihre Augen schob, sah Noel noch immer seine ausgestreckte Hand. Zögernd legte sie ihre rechte Hand in seine, die sich fest um ihre legte. Seine Stimme klang so beruhigend und vertrauensweckend, dass Noel für einen Moment sämtliche Barrieren fallen ließ, sich in seine Arme legte und leise weinte.

Er strich über ihren Rücken, ihr Haar und wischte ihr mit dem Zeigefinger die Tränen von den Wangen. Berührungen, nach denen sie sich verzehrt hatte, Berührungen, die sie sich von Ralf vergeblich wünschte. Berührungen, die warm und zärtlich waren.

Sie richtete sich auf und bemühte sich ihn anzulächeln, doch der Gedanke an Ralf rief sie zur Vernunft, bevor sie sich noch länger an Marcs feste Brust klammern und ihn nie wieder loslassen wollte. Verwirrt strich sie sich das Haar aus dem Gesicht.

„Ich sollte besser gehen.“

Marc richtete sich ebenfalls auf, ließ den Blick jedoch fest auf ihre Augen gerichtet. „Das solltest du besser.“ Seine Stimme klang so rau und kehlig, dass Noel seltsame Schauer den Nacken hinab rieselten. Sie nahm ihre Tasche und öffnete die Tür.

„Feine Hütte“, meinte er auf das Haus deutend.

Noel senkte den Blick. „Ralfs ganzer Stolz.“

Noch einmal griff Marc nach Noels Hand. „Wäre ich an seiner Stelle, wäre ich auch stolz.“ Er sah ihr so fest in die Augen, dass sie das Gefühl hatte, er könnte ihr in die Seele blicken. „Allerdings nicht auf das Haus.“

Verlegen riss Noel den Blick von ihm los, stieg aus und drehte sich noch einmal um, bevor sie die Tür schloss.

„Danke für die Fahrt, Marc.“

„Ich danke für die nette Begleitung. Noel, bitte warte einen Moment!“

Noels Herz pochte laut und erwartungsvoll. Was hatte er nur mit ihr angestellt? Sie wollte, dass er blieb, dass er mit ihr ins Haus ging und sie wollte, dass er davon fuhr. Je schneller desto besser. Ihr musste der Wein zu Kopf gestiegen sein. Das hier durfte nicht sein.

„Was ist, Marc?“, fragte sie so leise, dass sie ihre eigene Stimme kaum hörte.

Er öffnete seine Tür, stieg aus und kam um den Wagen herum auf sie zu. Unmittelbar vor ihr blieb er stehen und räusperte sich. „Was ich damals über dein Aussehen gesagt habe, tut mir unendlich leid.“ Er holte so tief Luft, dass er Noel leidtat. „Ich weiß nicht … was in mich gefahren war.“ Noel bekam Angst, dass er im Boden versinken würde, wenn sie ihn nicht endlich aus seiner Klemme befreite. Bevor er weiter vor ihr auf dem Teppich herumrutschen konnte, bremste sie ihn, in dem sie lachte.

Er sah sie entsetzt an, senkte dann den Blick und stimmte letztendlich mit in ihr Lachen ein. „Sprich ruhig aus, dass ich ein Arschloch bin.“

Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Du bist ein Arschloch, Marc.“

Er hob die Hände, als würde er ihren verbalen Schlag abwehren. „Ja, gib’s mir. Ich habe es verdient.“

„Ganz meine Meinung.“ Die Luft war zum Zerschneiden gespannt, ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie strich sich mit der Zunge über die Lippen, um sie zu befeuchten. „Ich gehe jetzt, Marc.“

Er presste die Lippen zusammen und nickte. „Ich bin froh, dass wir geredet haben. Schlaf gut, Noel.“

„Komm gut nach Hause.“

Er nickte abermals, reichte ihr die Hand, die sich warm und kräftig anfühlte, und ließ sie dann los. Sie wartete, bis er eingestiegen war und den Motor startete. Er ließ das Beifahrerfenster herunter und beugte sich noch einmal zu ihr herüber. In seinen Augen spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen wider. Wie kleine Sterne leuchteten seine Augen sie an.

„Noel?“

„Ja?“

„Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Bitte streiche mich von deiner Liste. Ich hoffe, dass du jetzt weißt, dass du mir vertrauen kannst.“

Noch hatte sie nicht alles verstanden, was er ihr gesagt hatte, wieso er es erzählt hatte, was er wusste und welche Rolle er spielte. Aber sie wusste, was in den letzten Minuten zwischen ihnen gelaufen war, war von Grund auf ehrlich.

Sie nickte und sagte: „Das weiß ich.“