17

 

Jetzt bin ich also eine kinderlose Strohwitwe, die nicht einmal zu Hause etwas Nützliches zu tun hat. Noel kniete im Unkraut ihres Gartens und fragte sich, wie ein Mann wie Marc es schaffte, einen so prächtigen Garten zu pflegen. Ihre Hände glichen bereits denen eines Totengräbers, ihr Rücken schmerzte und eine Haarsträhne, die ihr ständig ins Auge fiel, brachte sie schier zur Verzweiflung.

Inzwischen ärgerte sie sich darüber, dass sie dem Gärtner heute Morgen abgesagt hatte, aber irgendetwas musste sie mit ihrer Zeit anfangen. Sie hätte die Wände hochgehen können.

Gestern Abend, sie hatte sich nicht einmal von ihrem empörten Aufbruch bei Marc erholt, hatte ihr Ralf mitgeteilt, dass er heute Morgen auf eine zweiwöchige Fortbildungsreise fahren würde. Er hatte sich sichtlich bemüht, es ihr schonend beizubringen, aber er hatte es schlichtweg vergessen, ihr rechtzeitig von dieser Reise zu berichten.

Den heutigen Nachmittag reservierte sie für etwas, das sie schon lange vorhatte. Gleich morgens hatte sie sich eine Karte für eine Vorführung im Hamburger Planetarium vorbestellt. ‚Unendliche Weiten – Vom Urknall zur Erde.’ Bestimmt war das eine unterhaltsamere Beschäftigung, als den gesamten Tag auf Knien durch den Garten zu rutschen, dachte sie, als sie mit der Wurzel des Löwenzahns kämpfte. Mit einem kräftigen Ruck riss die Pflanze von der Wurzel ab. Die Pollen der Pusteblume flogen ihr wie ein Schneesturm in die Nase und bescherten ihr einen schwindelerregenden Niesanfall. Als sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, schleuderte sie die Gartenharke ins Beet und ließ sich auf den Rücken fallen. Ausgestreckt, halb im Gras halb im Blumenbeet liegend, verfolgte sie das Bild, das die Wolken in den Himmel malten.

Wie in einem Film ließ sie ihr verkorkstes Leben an sich vorüberziehen. Wann waren ihr die Zügel aus der Hand geglitten? War es, als sie beschlossen hatte, Amelies Mord zu sühnen, oder war es, als sie Ralf kennen gelernt hatte und ihr gemeinsames Leben damit zur Lüge erklärt hatte, anstatt ihrer Liebe eine wahre Chance zu geben? Oder war es viel später – als Marc in ihrem Leben aufgetaucht war?

Jedenfalls war er es, der in ihrem Kopf für Unordnung sorgte. Dass Ralf abreisen musste, ohne sie rechtzeitig zu informieren, hatte sie gestern maßlos geärgert. Kaum hatte sie in Ruhe darüber nachgedacht, war ihr jedoch klar geworden, dass sie ihn nicht vermisste, wie sie es eigentlich sollte. Als Ralf zwei Stunden nach seiner Abreise aus dem Auto angerufen hatte, wahrscheinlich um zu testen, ob sie noch missgestimmt war, hatte sie das Gefühl mit einem Fremden zu reden. Sie hatte ihm von ihrem geplanten Ausflug am Nachmittag berichtet, ihn aber nicht an ihre Gefühle heran gelassen.

Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, um wieder nach vorn sehen zu können. Amelies Schicksal war keineswegs erledigt. Sie musste in Ruhe überlegen, wie sie weiter vorgehen würde.

Ächzend richtete sie sich auf und rieb sich mit den erdigen Händen über das schmerzende Kreuz, als das Telefon klingelte. Sie klopfte die Hände an der dreckigen Jeans halbwegs sauber und spurtete auf die Terrasse, wo sie das Telefon hingelegt hatte und meldete sich.

„Thalbach.“

Einen Moment war es still. Dann hörte sie ein Räuspern.

„Hallo Noel.“ Noel hielt die Luft an, als sie Marcs Stimme erkannte. „Ähm. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich dich wieder zu Hause anrufe?“

Der Gedanke was Ralf dazu sagen würde, schoss ihr in den Kopf. Andererseits war es ein Gespräch unter ehemaligen Kollegen. Nichts weiter. Schließlich hatte sie sich nichts zuschulden kommen lassen.

„Was hast du zu sagen, Marc?“, fragte sie mit absichtlich unterkühlter Stimme.

„Tut mir leid, dass ich dich in die Enge getrieben habe.“

Wenigstens ein schlechtes Gewissen hatte er. Das gab Noel Hoffnung. „Ich hätte nicht so weit gehen dürfen.“

„Nein. Das hättest du nicht.“

„Ich“, er zögerte. „Ich möchte dich wiedersehen.“

„Damit es genauso endet wie gestern?“

„Ich hätte die Kontrolle nicht über mich verlieren dürfen“, antwortete er kleinlaut.

Noel setzte sich auf die Treppenstufen, die in den Garten führten, und ließ den Kopf sinken. Das Gespräch war mindestens ebenso verkrampft wie die Muskulatur ihres Rückens.

„Es wäre besser, wenn wir uns nicht wieder sehen würden.“

„Ich bin ein Idiot“, murmelte er. „Bitte gib mir noch eine Chance. Es bedeutet mir viel, nicht allein mit meinem Kampf gegen die Verantwortlichen da zustehen. Selbst wenn ich nur mit dir darüber reden kann.“

Noel atmete tief durch und fuhr sich mit den sandigen Händen durchs Haar.

„Ich will, dass alle Beteiligten zur Strecke gebracht werden.“ Sie seufzte. „Ohne deine Hilfe habe ich kaum mehr eine Chance.“

„Dann nimm meine Hilfe an. Bitte, Noel.“

„Ich weiß nicht mehr was richtig und was falsch ist, Marc. Ich habe Angst dich zu sehen.“ Sie schluckte. Wann war sie zum letzten Mal so ehrlich zu jemandem gewesen?

„Komm heute Nachmittag zu mir und du wirst sehen, dass nichts geschieht, was du nicht willst.“

„Nein! Ich möchte nicht zu dir nach Hause kommen. Wenn du mich sehen willst, dann komm um achtzehn Uhr zum Hamburger Planetarium.“ Sie hörte ihn leise lachen.

„Das hört sich fast nach einem Agententhriller an.“

Jetzt musste sie auch lachen. „Ich muss dich enttäuschen. So spannend wird es nicht werden. Ich habe eine Karte für die Vorstellung, die um achtzehn Uhr endet, und will sie nicht verfallen lassen.“

„Ein wenig bin ich jetzt tatsächlich enttäuscht“, sagte er, ohne zu verbergen, dass er erleichtert über den Verlauf des Gespräches war.

„Wirst du da sein?“

„Ich werde bei dem Springbrunnen auf dich warten.“

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, stand Noel auf, zog ihre dreckverkrusteten Schuhe aus und ging ins Bad, um sich für das Planetarium fertig zu machen. Natürlich nur für die Vorstellung.

Tatsächlich suchte sie sich etwas vollkommen Unspektakuläres aus dem Schrank. Ein ärmelloses T-Shirt in Kaki mit spitzenbesetztem V-Ausschnitt, Jeans und Turnschuhe. Die Haare raffte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. Um den Hals trug sie eine Modeschmuckkette, die den Ausschnitt ihres Shirts betonte. Ins Ohr steckte sie kleine Silberstecker.

Zufrieden sah sie in den Spiegel. So gefiel sie sich. Nichts an ihrer Kleidung wirkte aufdringlich. Und doch stellte sie fest, wurden ihre weiblichen Kurven so betont, dass … bestimmt würde es ihm gefallen.

Verschämt über ihre Gedanken senkte sie den Kopf. Sie wusste, dass sie so nicht denken durfte. Genau genommen wäre es leichter, wenn er sich genauso dreist benehmen würde, wie er es gestern getan hatte. Eben das war ihre Rettung gewesen.

Als er ihr so nah gewesen war, dass nur noch wenige Zentimeter sie getrennt hatten, hätte sie beinahe die eisern erlernte Kontrolle über sich verloren. Seine Lippen lagen verlockend vor ihrem Gesicht und es hatte nicht viel gefehlt und sie hätte nicht widerstehen können. Hätte er sich ihr zärtlich genähert, hätte sie der Versuchung nachgegeben. In diesem Moment hatte sie jegliche Folgen ihres Handelns ausgeblendet und hätte alles gemacht, wenn er sie nur in seine Arme genommen hätte.

Soweit durfte es auf keinen Fall noch einmal kommen.

 

Ob die Vorstellung im Planetarium letztendlich gut gewesen war oder nicht, konnte Noel hinterher nicht sagen. Das Einzige, was sie mitbekommen hatte, war die Stimme Jean-Luc Picards, Captain des Raumschiffes Enterprise, der durch die Unendlichen Weiten geführt hatte. Was er erzählt hatte, entzog sich ihrer Kenntnis. Noels Gedanken waren in ihren eigenen viel gefährlicheren unendlichen Weiten unterwegs.

Sie hätte sich besser nicht vor dem Planetarium mit Marc verabreden dürfen. Hätte sie geahnt, dass sie sich so flattrig wie ein Teenager fühlen würde, hätte sie einen anderen Ort und eine andere Zeit gewählt. Vielleicht hätte sie dann die innere Ruhe gehabt, die Vorstellung zu genießen, auf die sie sich doch so gefreut hatte.

Von der Empore aus ließ sie den Blick über den Stadtpark schweifen. An einem sonnigen Tag wie diesem tummelten sich Spaziergänger, Jogger sowie Sonnenanbeter auf jedem freien Fleckchen. Die Wolken vom Mittag hatten sich aufgelöst und hinterließen einen strahlend blauen Himmel. Genau das richtige Wetter für eine Verabredung. Wäre sie frei, wäre ihr wahrscheinlich heiß und kalt gleichzeitig geworden, wenn sie sich mit einem Mann wie Marc treffen würde. Da sie nicht frei war, behielt sie ihre Gefühle diszipliniert unter Kontrolle. Zwar war ihr ziemlich heiß, aber das musste am Wetter liegen.

Noel suchte den Platz vor dem Planetarium nach Marc ab und entdeckte ihn genau an der Stelle, die er ihr genannt hatte. Vor dem Becken mit dem Springbrunnen stand er. Lässig mit einer Hand in der Hosentasche, die Andere zum Gruß erhoben. Ein seltsames Glücksgefühl breitete sich, wie Quecksilber in Noels Adern aus. Sie winkte zurück und bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge, die das Planetarium verließ, die Treppe hinab.

Auf dem letzten Abschnitt der Treppenabsätze merkte sie, wie sich jemand an ihr vorbei drängen wollte. Sie wollte über die Schulter nach hinten sehen und Platz machen, als sie einen kräftigen Stoß im Rücken spürte und ins Wanken geriet. Sie sah die Treppen auf sich zu kommen und langte reflexartig zum rettenden Geländer. Ein zweiter Stoß ließ sie ins Leere greifen. Der Fall nach vorne war nicht mehr aufzuhalten. Schneller als sie registrieren konnte, was geschah, schlugen zuerst die Knie, dann die Hüfte, Schulter und zum Schluss ihr Kopf auf den Stufen auf. Ein stechender Schmerz breitete sich in ihr aus, als würde ihr Körper in Stücke gerissen werden. Mit jeder Stufe, die sie weiter hinabfiel, schlug er auf sie ein und betäubte ihre Sinne, nebelte sie ein, bis sie unterhalb der Treppe zusammengekrümmt liegen blieb.

Benommen bemerkte sie die warme, feuchte Lache, die sich um ihren Kopf herum ausbreitete, bevor ihre Augen so schwer wurden, dass sie die Lider trotz aller Anstrengung nicht offen halten konnte.

Hände an ihrem Körper, sanft und trotzdem selbstsicher, zerrten sie aus dem dunklen Schlund heraus, der sie umgab. Sie stöhnte laut auf.

„Noel. Bleib ganz ruhig liegen.“ Sie öffnete flattrig die Augenlider und sah eine Traube von Gesichtern, die auf sie herab starrten. Im Mittelpunkt das verzerrte Bild von Marc. Eine Hand drückte etwas gegen ihren Kopf, in der Anderen hielt er ein Handy.

„Nein!“ Sie sammelte ihre ganze Kraft zusammen, hob zitternd die Hand und zerrte seinen Arm samt Telefon herab.

„Versuch dich nicht zu bewegen. Ich rufe einen Rettungswagen.“

„Nein!“, wiederholte sie stöhnend. Der Gedanke an ein Krankenhaus sammelte all ihre Reserven geballt zusammen. „Kein Krankenhaus!“ Sie flehte ihn an und richtete den Oberkörper unter Schmerzen auf. Die Menschenmenge um sie herum löste sich auf. Offensichtlich bot sie keine ausreichende Attraktion mehr, da es so aussah, als würde sie nicht vor Ort sterben. Marc hingegen war nicht so leicht zu überzeugen, dass die Aufregung nicht nötig war.

„Du bist verletzt und stehst unter Schock.“

Auf seiner Stirn türmten sich Sorgenfalten. Seine Augen wanderten über ihren Körper. „Außerdem musst du gründlich untersucht werden.“

Sie musste ihm beweisen, dass sie keinen Krankenwagen benötigte. Sie wollte ihm sagen, was sie quälte, aber ihre Zunge war so schwer, dass sie kaum mehr als Wortbruchstücke über die Lippen brachte.

Trotz ihres benommenen Zustands bemerkte sie, dass er im Unterhemd vor ihr kniete. Das Etwas an ihrem Kopf war also sein T-Shirt. Wohlige Wärme breitete sich in ihr aus.

Nein! Keine Zeit die Augen zu schließen. Sie musste sich zusammenreißen und die Zunge zwingen ihr zu gehorchen.

„Du bist Arzt!“

Sie glaubte, den Ansatz eines Lächelns auf seinen Lippen zu entdecken.

„Ich bring dich in die Klinik und werde dich selbst versorgen. Kannst du aufstehen?“

Mit seiner Hilfe hievte sie sich erst auf die schmerzenden Knie, dann auf die Füße, bis sie letztendlich stand. Schweißtropfen rannen ihr die Stirn hinab und die Knie zitterten. Sie versuchte zu nicken, doch der prompt einsetzende Schmerz hielt sie davon ab.

„Keine … Klinik!“ Ihr Unterkiefer bebte, ihr Puls peitschte das Blut durch ihre Venen. Lieber kroch sie auf allen Vieren nach Hause, als sich in der trügerischen Sicherheit eines Krankenhauses zu wiegen.

Marc stützte sie mit den Armen. „Du musst geröntgt werden, brauchst eine Infusion und …“

„Ralf …“

„Soll ich dich zu ihm bringen?“

Noel schloss die Augen. Das Reden forderte zu viel von ihren Kraftreserven. Als sie die Lider wieder aufschlug, drehte sich die Kulisse gefährlich um sie herum. Nur nicht bewusstlos werden, predigte sie sich selbst.

„Er ist …“ Sie holte tief Luft um sich zu sammeln. „… auf Reisen. In der Praxis …“

„Drück das hier gegen deine Stirn.“ Er presste ihre Hand mit seinem Hemd gegen ihren Kopf. Dann schlang er seine Arme um ihren Rücken und die Beine und nahm sie auf den Arm. Er trug sie vorbei an der Menschenmenge den langen Zuweg zur Straße entlang bis zu seinem Wagen.

„Kein Krankenhaus“, jammerte sie noch einmal, sich an seine fast nackte Brust lehnend.

„Ich bringe dich in die Praxis. Beruhige dich.“

„Danke“, murmelte sie mit bleischwerer Zunge. Ihr gesamter Körper schmerzte und doch fühlte sie sich seltsam gut, geborgen, sicher. Sie sah die Baumwipfel, die sich über ihr auf und ab wiegten. Sie spürte Marcs Muskeln, die so angespannt vor ihrem Gesicht lagen, dass sie den Blick einfach nicht mehr auf die Umgebung konzentrieren konnte. Um es ihm zu erleichtern, legte sie ihm die Arme um den Hals. Gütiger Himmel, dachte sie. Er ist so stark. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Haar, fühlte sein wild pochendes Herz, roch sein Aftershave. Seine Haut wurde unter der Anstrengung immer verschwitzter. Sein Brusthaar kitzelte ihre Wange.

„Kannst du einen Moment stehen?“

Seine Stimme zerrte sie aus dem süßen Delirium, in das sie sich selbst befördert hatte. Sie hob den Daumen und hielt sich zwischen dem Wagen und seinem stützenden Arm. Marc langte in die Hosentasche, holte den Autoschlüssel hervor und öffnete die Tür.

„Setz dich.“ Er half ihr in den Wagen, drückte ihren Kopf gegen die Lehne und wagte einen Blick unter das rot gefärbte Shirt auf ihrer Stirn.

„Drück das weiter gegen die Wunde.“ Er nahm ihre Hand und presste sie auf das Shirt. Dann drehte er die Rückenlehne des Sitzes soweit zurück, bis sie fast waagerecht lag. Unter dem Sitz holte er den Erste-Hilfe-Kasten hervor. Vor dem Wagen auf dem Boden kniend öffnete er ein gutes Dutzend Mullkompressen und Verbandspäckchen.

Noel erforschte sein Gesicht mit den Augen, während er die Wunde provisorisch säuberte. Seine warmen Finger drückten schmerzhaft auf die Wunde und hielten sie zusammen. Trotzdem fühlten sich seine Hände auf ihrer Haut seltsam gut an.

Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Das muss genäht werden.“

„Das war’s dann wohl mit dem Traum von einer Modelkarriere.“

Er pflasterte mehrere Mullplatten auf ihre Stirn, lächelte jedoch etwas entspannter. „Schön, dass du die Sprache wieder gefunden hast.“ Aus dem Verbandskasten holte er weitere Kompressen, öffnete sie und drückte sie Noel in die Hand. „Press die weiter gegen die Stirn.“ Er platzierte ihre Hand an der richtigen Stelle und ließ seine Hand auf ihrer Wange ruhen. „Hey, du hast das Glück mit dem weltbesten Chirurgen befreundet zu sein. Deiner Modelkarriere steht nichts im Weg.“ Er lächelte und wirkte fast schon wieder entspannt. „Ich wette nach meiner Naht wirst du noch hübscher sein als sowieso schon.“

Sie knuffte ihm mit der freien Hand in die Seite. „Sprücheklopfer. Kann ich mich aufsetzen?“

„Ja.“ Irrte sie sich oder wirkte er plötzlich befangen?

Er drehte den Sitz etwas aufrechter und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Bist du bereit für die Fahrt?“

Sie sah ihm in die dunklen Augen, die so viel mehr zu sagen schienen, als seine Worte es taten. Oder bildete sie sich das nur ein?

„Du hast mich den ganzen Weg getragen.“ Sie schluckte, denn sie wusste genau, wie lang die Strecke vom Planetarium bis zur Straße war.

Seine Lippe zuckte. Er wich ihrem Blick für eine Sekunde aus, bevor er sie wieder ansah. „Dich würde ich bis ans Ende der Welt tragen“, sagte er mit trockener, rauer Stimme und ließ keine Zweifel darüber, dass er es tatsächlich genau so meinte.

Noel lächelte verschämt und strich zaghaft mit der freien Hand über sein Unterhemd. „Du bist ganz blutverschmiert.“ Sie entzog sich der Gefahrenzone des Gesprächs in dem sie die Augen schloss.

 

Noel beobachtete, wie Marc sämtliche Schubladen aufzog und sich alles Nötige zusammensuchte. Noch immer fühlte sie sich benommen von seiner Stärke. Er hatte sich nicht davon abbringen lassen, sie in die Praxis zu tragen. Den Wagen hatte er genau vor der Tür geparkt, die Praxis mit dem Schlüssel, den sie ihm gegeben hatte, geöffnet und sie dann auf den Arm gehoben, obwohl sie darauf gedrängt hatte, selbst zu laufen. Als sie sich auf den Behandlungstisch setzen wollte, spürte sie allerdings, dass sie nicht hätte laufen können. Ihr war so schwindelig, dass sie sich an Marcs Oberarm festhalten musste.

Wie kräftig er sich angefühlt hatte. Noel hatte verschämt gelächelt, die Hand zurück gezogen und sich am Tisch festgehalten.

„Spiel hier nicht die Heldin und leg dich hin“, hatte er gesagt und ihr geholfen, die Beine hochzunehmen und den Oberkörper hinzulegen. Dann hatte er seine Hände gewaschen und sie liegen gelassen, während sie ihn beobachtete. Sein weißes Unterhemd hob sich unverschämt leuchtend von seiner gebräunten Haut ab und ließ genug Einblick auf das Spiel seiner Muskeln. Noel wandte den Blick ab. Sie redete sich ein, dass ihr Zustand sie benebelte. Sobald sie sich etwas erholt hatte, würde ihr Verstand wieder funktionieren. Abwege kamen auf keinen Fall in Frage. Nicht für sie. Niemals.

Mit einem Sammelsurium aus Instrumenten und Medikamenten kam er zurück und setzte sich auf den Behandlungshocker an ihre Seite.

„Ich muss deine Stirn betäuben, um nähen zu können.“

Sie drehte ihm die verletzte Seite zu und schloss die Augen, als er die Hände an ihrem Kopf abstützte und die feine Nadel in ihre empfindliche Haut stach. Trotz des angekündigten Stichs hielt sie erschrocken die Luft an.

„Geht es?“, fragte er leise.

„Mhm“, log sie, ohne die Augen zu öffnen. Sofort breitete sich ein wattiges Gefühl unter ihrer Haut aus und dämmte den Schmerz binnen kürzester Zeit ein.

„Es wird gleich noch einmal im Arm pieksen.“

„Was gibt du mir?“

Er lächelte. „Vertraust du mir nicht?“

„Sollte ich?“

Sein Lächeln wurde breiter, während er ihr einen intravenösen Zugang in der Armbeuge legte und ihr eine farblose Flüssigkeit in die Vene spritzte.

„Gleich wird es dir egal sein.“ Er zog die Spritze aus der Braunüle und ersetzte sie durch den Infusionsschlauch, durch den er Ringerlösung in ihren Blutkreislauf tropfen ließ. Dann sah er sie an und strich ihr über die Wange. „Hab keine Angst. Ich werde deinen Zustand nicht ausnutzen.“

„Ich habe keine Angst“, säuselte sie und wunderte sich, wie seltsam ihre Stimme klang. Die Wände um sie herum kamen auf sie zu und beengten den Raum zwischen ihr und Marc, jedoch ohne bedrohlich zu wirken. Sie kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder und versuchte, Marcs Gesicht zu fixieren, das immer wieder aus dem Bild schwamm.

„Bist du schon auf Wolke Sieben angekommen?“ Seine Stimme klang so zuckersüß, dass sie leise seufzte.

„Du Schuft hast mich gefügig gemacht.“ Sie kicherte. „Willst mich wohl gefügig machen … meinte ich.“ Die Worte blubberten ihr wie Seifenblasen über die Lippen.

„Später vielleicht“, hörte sie ihn sagen. „Erst einmal reicht es mir, wenn du keine Schmerzen hast und ich dich zusammenflicken kann.“

Seine Finger zupften behände an ihrem Kopfverband. Noel blieb nichts anderes übrig, als die Lebenslinien auf seinen Handinnenflächen zu betrachten, die über ihren Augen, ihre Arbeit taten.

„Du trägst keine Handschuhe.“

„Meine Hände sind gründlich gesäubert und desinfiziert.“

„Aber mein Blut …“

„Kannst du nicht endlich mal die Klappe halten?“, unterbrach er sie, ohne den Blick von seiner Arbeit abzuwenden. Sie spürte den Druck, als er die Nadel ansetzte und durch ihre Haut zog. „Ich weiß, dass du keine ansteckenden Krankheiten hast und du weißt dasselbe von mir.“

Sie kniff die Augen zusammen, als er die Rundnadel wieder durch ihre Haut zog.

„Spürst du noch etwas?“

Sie wollte den Kopf schütteln, wurde aber von seinen Händen gebremst. „Halt still.“

„Ey, ey, Sir“, antwortete sie mit Bariton verstellter Stimme. „Es tut nicht mehr weh.“

Er drehte seine Hände so, dass sie jetzt genau in seine Augen sah. Unverhohlen beobachtete sie ihn. Bestimmt würde er es nicht merken, so beschäftigt, wie er war. Seine Augen fixierten ihre Wunde. Er biss konzentriert auf seine Unterlippe.

Und dann entdeckte sie kleine Schweißtröpfchen auf seiner Oberlippe und der Stirn. So sehr sie sich bemühte, sie schaffte es nicht, den Blick von diesen glänzenden Perlen abzuwenden.

„Fertig. Die Wundränder sind mit drei Stichen fixiert. Ein Pflaster brauchst du nicht.“

„Sieht es schlimm aus?“

„Willst du mich beleidigen? Ich sehe mir jetzt den Rest von dir an.“

„Die Gelegenheit, was?“

Er sah sie strafend an, hob die Augenbrauen und fingerte an ihrem Hosenknopf herum. Sie sog scharf die Luft ein und spürte einen Schauer den Rücken hinab rinnen.

„Was tust du da?“ Sie legte ihre Hände auf die seinen.

Grinsend sah er sie an. „Das, was ich schon lange vor hatte.“

Widerstandslos ließ sie sich die Hose von ihm ausziehen. Innerlich schickte sie ein Dankgebet zum Himmel, dafür, dass sie heute doch zu einem ihrer edleren Slips gegriffen hatte. Als sie seine Hände auf den Beinen spürte, atmete sie so flach, dass ihr Bauch sich kaum bewegte. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Hände.

„Es wäre mir lieber, wenn du die Augen offen lassen würdest.“

„Soll ich aufpassen, dass deine Finger sich nicht verirren?“, fragte sie leise kichernd.

„Ich will nur wissen, ob du wach bist.“

„Oh. Wie enttäuschend. Autsch.“ Er sprühte ihre Knie mit einer Desinfektionslösung ein.

„Sorry.“

Als er ihre aufgeschlagenen Knie versorgt hatte, spürte sie seine tastenden Hände ihren Oberschenkel entlang gleiten und wurde stocksteif bei den Gefühlen, die sie übermannten. Außen, kurz unterhalb der ihm abgewandten Seite, verharrte er auf der Hüfte und sie schrie leise auf, als sie den Schmerz unter seiner Berührung spürte.

„Dreh dich mal zu mir.“

Sie drehte sich und wartete auf seine Reaktion. Leise stieß er die Luft aus den Lungen.

„Es blutet nicht mehr. Aber wenn ich das nicht nähe, wirst du eine sehr hässliche Narbe zurück behalten.“ Er zog den Inhalt einer Xylocain Ampulle in eine neue Spritze, steckte eine sterile Kanüle darauf und betäubte ihr den Oberschenkel.

„Hast du sonst noch irgendwo Schmerzen?“

„Wie soll ich das wissen? Ich glaub, ich bin high.“

„Sicher bist du das. Und darum wirst du auch nichts dagegen haben, das Shirt auszuziehen.“

Noel schluckte, aber er hatte Recht. Ihr Schamgefühl war gänzlich betäubt. Im Gegenteil. Der Gedanke, seine Hände würden ihren Oberkörper genauso fachmännisch erforschen wie eben die Beine, elektrisierte sie.

Sie half ihm kommentarlos, sich auszuziehen. Der zum Slip passende dunkelblaue Spitzen-BH war nicht mehr als ein zarter Hauch Stoff, der kaum etwas verbarg.

Noel atmete durch die Nase ein und ließ die Luft langsam durch den Mund wieder entweichen. Trotz der heruntergelassenen Rollläden war ihr unangenehm warm. Vielleicht lag es doch an der Raumtemperatur. Auch die Schweißperlen auf Marcs Gesicht hatten sich deutlich vermehrt.

„Hübsches blau“, sagte Marc mit belegter Stimme.

„Gefällt es dir?“

Er deutete auf ihre Schulter und räusperte sich. „Tut das nicht weh?“

Sie legte das Kinn zur Seite, sah sich auf die Schulter und entdeckte, was er meinte. Passend zu ihrer Unterwäsche brillierte die Haut in unterschiedlichen Blautönen. Enttäuscht sah sie ihm in die Augen.

„Und ich dachte, dir würde die Farbe meiner Unterwäsche gefallen.“

Er stieß ein leises Lachen aus. „Die ist äußerst reizend.“ Er hob ihren Arm an, bewegte ihn von der Schulter an vorsichtig und sah sie fragend an.

„Tut nichts weh.“

„Gut.“

Mehr als gut, dachte Noel, als er begann, ihren Oberkörper Zentimeter für Zentimeter abzutasten. Gott, wenn er so gut untersuchte, wie musste es sich dann erst anfühlen, wenn er liebte?

„Und wann darf ich dich abtasten?“, hörte sie sich fragen. Verflucht, was hatte er ihr nur gegeben?

„Sprich mich noch mal drauf an, wenn du wieder klar denken kannst“, antwortete er, als hätte sie die natürlichste Frage der Welt gestellt. Er klopfte ihr auf den Oberschenkel. „Fühlst du das noch?“

Sie schüttelte zunehmend benommen den Kopf. Er half ihr, sich auf die ihm zugekehrte Seite zu legen. Konzentriert widmete er sich der Naht. Noel sah wie gefesselt auf seine Brust, keine zwanzig Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Durch das Unterhemd beobachtete sie bei jedem einzelnen seiner Atemzüge, wie sich die Brust hob und senkte. Eine Hand spürte sie auf ihrer Hüfte, über dem schmalen Band des Slips. Die Andere vernähte sie, wie ein kaputtes Spielzeug, das repariert werden musste. Sie spürte einen neuen Schmerz. Einen der tief aus ihrem Schoß kam. Wie süße Wogen breitete er sich in ihr aus und erhitzte sie, bis sie glaubte, verglühen zu müssen. Beide wagten nicht ein Wort zu sagen, bis er fertig war und sich aufrichtete.

„Ich denke, das war’s.“ Er drehte die Infusion ab und stöpselte die Braunüle zu. „Bis morgen lassen wir sie noch in der Vene, falls ich dir noch etwas geben muss. Bleib einen Moment liegen. Ich verwische nur noch meine Spuren.“

„Ich werde den Teufel tun und Ralf ganz sicher nicht verheimlichen, dass du mich hier versorgt hast.“ Sie kniff die Augen zusammen und wurde lauter, auch wenn ihre Aussprache zunehmend schleppender wurde. „Ist ja nich’ meine Schuld, dass … ach, egal.“

„Habt ihr euch gestritten?“, fragte Marc, während er alles wegräumte.

Sie zuckte die Schultern. „Nicht direkt. Ich will nicht darüber reden.“

Wider Erwarten reagierte er verständnisvoll und bohrte nicht nach.

Er deutete auf ihre blutverschmierte Kleidung. „Das wirst du kaum wieder anziehen können.“ Sie sah an sich hinab. „Soll ich so raus?“

„Wieso nicht? Sieht sexy aus.“

Noel erklärte Marc, wo Ralfs Schrank war, in dem er immer Ersatzkleidung hängen hatte. Mit einem großen schwarzen Polohemd in der Hand kam Marc zurück und half Noel, sich aufzurichten.

„Wie kannst du nur so gut riechen?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Du hast echt ein Problem. Was du riechst, ist reiner Angstschweiß.“

Marc hielt ihr das Polohemd über den Kopf, sodass sie die Arme hob und hineinschlüpfen konnte. Sie stützte sich mit den Händen neben dem Po ab und ließ sich von der Bank gleiten. Das Hemd rutschte ihr bis kurz vor die Knie und umhüllte sie wie ein Kleid.

„Ich dachte, du hättest keine Angst vor mir?“

„Vor dir fürchte ich mich nicht.“ Sie sah ihm so fest in die Augen, wie es ihr benommener Zustand erlaubte. „Ich hatte panische Angst, dass du mich in ein Krankenhaus bringen würdest.“

„Ich weiß.“ Er grinste verwegen. „Dafür wirst du mich jetzt nicht los werden. Wenn du niemanden hast, der heute Nacht auf dich aufpasst, werde ich dir nicht von der Seite weichen.“

Welch verlockender Gedanke. Sie überlegte, ob sie ihm eine winzige Dosis Widerstand vorgaukeln sollte. Nur des Anstandes wegen. Aber sie war zu müde für diese Spielerei und verzichtete letztendlich darauf.

„Ich werde kaum eine gute Unterhalterin sein.“ Was redete sie da für einen Unsinn? Sie bemühte sich die Augen offen zu halten, merkte aber, dass die Lider immer schwerer wurden.

„Du wirst niemanden unterhalten. Spätestens in einer halben Stunde wirst du tief und fest schlafen und nicht vor morgen Früh wieder aufwachen.“

„Du Schuft hast was in die Infusion gemischt.“

„Das wäre kontraindiziert und sowieso nicht nötig. Du schläfst auch so schon fast im Stehen ein.“ Er lächelte mit einem unverschämt wissenden Blick. „Wenn du aufwachst, wirst du dich besser fühlen.“ Er legte die rechte Hand zum Schwur auf sein Herz. „Du kannst mir vertrauen. Keine Klinik.“

Er nahm sie wieder auf den Arm und trug sie zum Auto, wo er sie vorsichtig auf den Sitz hob. Nachdem er ihr beim Angurten geholfen hatte, schloss er ihre Tür, ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Grinsend sah er sie an.

„Zu dir oder zu mir?“

Sie lehnte den Kopf gegen die Lehne und schloss die Augen. „Ist mir egal. Ich will nur schlafen.“

Eine gute halbe Stunde später spürte sie nur noch, wie aus Watte, dass sie in ein Haus getragen wurde. Erst als sie in einem Bett lag, das angenehm nach ihm roch, wusste sie, dass sie sich in seinem Haus befand. Marc zog ihr die Schuhe aus und legte ihr eine Decke über den Körper. Dann setzte er sich an ihre Seite und nahm ihre Hand in seine.

„Was machst du nur für Sachen, kleine Noel?“

Sie öffnete den Mund um etwas zu erwidern, aber ihre Zunge fühlte sich so schwer an, dass sie kein Wort hervor brachte.

„Schlaf jetzt …“ Sie hörte, dass er noch etwas sagte, verstand es aber nicht mehr.