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Klirrend fiel das Christalglas neben Noels Teller. Eilig zog sie die weiße, gestärkte Serviette hervor und versuchte, die Überschwemmung zu begrenzen. Gibt es heute irgendetwas, das nicht schief geht?, fragte sie sich und zwang sich zu einem Lächeln.

„Entschuldige, Rosi“, sagte Noel an ihre Schwiegermutter gerichtet. Aber die machte sich nicht die Mühe darauf zu reagieren und hackte weiter auf ihrem Sohn herum.

„Manchmal wundert es mich, wie du überhaupt deinen Doktor geschafft hast“, sagte sie kopfschüttelnd. Egon, sein Vater, bildete mit seiner Frau eine Einheit.

Noel konnte nicht fassen, dass sich Ralf ihr Gezeter jedes Mal aufs Neue anhörte. Die geladene Atmosphäre raubte ihr den Appetit, was allerdings niemandem auffiel. Wäre es nach Noel gegangen, hätte sie den beiden längst die Meinung gesagt. Das scheinheilige Getue ihrer Schwiegereltern kostete sie den letzten Nerv.

Alles im Haus wies auf den Reichtum hin, den sie mit solcher Offensichtlichkeit präsentierten, dass es auf Noel abstoßend wirkte. Nichts war natürlich. Genaugenommen war auch nichts Schönes in diesem Haus. Noel bezweifelte, dass sich ihre Schwiegereltern hier wohlfühlten. Eher glaubte sie, dass sie sich nur nach außen hin so gaben, wie sie gerne gesehen werden wollten.

Im Prinzip hätte es ihr egal sein können. Wenn es nur nicht so deutlich auf Ralf abgefärbt hätte. Zum Glück neigte er nicht so extrem zum Protz, wie seine Eltern es taten, dachte Noel, als ihr Blick über den Kronleuchter und die handgeknüpften Wandteppiche schweifte.

„Wie willst du jemals den Standard erreichen, mit dem du aufgewachsen bist?“, jammerte Rosi weiter.

Es lag Noel auf der Zunge zu sagen, dass sie längst alles hatten, was sie brauchten. Inklusive all des Luxus, den kein Mensch brauchte. Aber Ralf saß wie ein kleiner Schuljunge, der es seinen Eltern um jeden Preis recht machen wollte, neben ihr. Ihm zuliebe schluckte sie und biss sich zusätzlich auf die Zunge. Schließlich wusste sie genau, würde sie den Mund öffnen, würde der Streit mit Bajona nicht der Letzte des Tages gewesen sein.

„Mama, uns geht es gut. Die Praxis könnte nicht besser laufen. Hört endlich auf euch zu sorgen.“ Ralf legte die rechte Hand unter dem Tisch auf Noels Oberschenkel und lehnte sich äußerlich entspannt gegen die Stuhllehne zurück. Noel wusste, dass er tief im Inneren alles andere als entspannt war.

Egon kratzte das letzte bisschen Roastbeef auf seinem Teller zusammen, schob es in den Mund und tupfte denselben mit der Serviette ab.

„Ist der Laden inzwischen abbezahlt?“ Er legte das Stofftuch auf den Teller und zupfte sich den silbergrauen Schnurrbart glatt. Im Gegensatz zu seiner Kopfhaut war es auf seiner Oberlippe um den Haarwuchs bestens bestellt. Die Haare sprossen wie frischgedüngter Rasen, der nicht oft genug gemäht werden konnte.

Ralf sah auf die drei silbernen Kerzenleuchter auf dem Tisch und dann auf seinen Teller. „Noel arbeitet seit einem Monat übrigens als OP-Schwester in der Pretzius Klinik.“

„Das sagt ja wohl alles“, meinte Egon dazu und fegte mit einer eifrigen Bewegung die Brotkrümel vom Tisch. Unwillkürlich verfolgte Noel den Flug der Krümel bis sie, wie Schneeflocken, auf dem Velourboden landeten.

„Das Arbeiten hat mir gefehlt.“ Noel bemühte sich, die drohende Katastrophe abzuwenden.

„Eine Frau Dr. Thalbach hat es nicht nötig zu arbeiten. Was sollen die Leute von euch denken?“ Rosis Wangen zuckten, während sie kopfschüttelnd ihre Meinung kundtat. Wann hatte sie eigentlich ihre Haare blaugrau gefärbt?

Ralf warf Noel einen drohenden Blick zu, während sie spürte, wie die Wände immer näher auf sie zukamen als wollten diese Mauern sie erdrücken. Da sie weder Ralf kompromittieren, noch streiten wollte, schützte Noel Kopfschmerzen als Notlüge vor. Die Offensichtlichkeit dieser Lüge war ihr gleichgültig. Auch Ralf sah dankbar darüber aus, dass sie vorzeitig die Rückfahrt antreten konnten.

„Was war denn gestern zwischen dir und Bajona los? Es hat sich angehört, als hättet ihr euch in den Haaren gehabt“, sagte Katharina schmunzelnd.

„Hat da etwa jemand gelauscht?“

„Das war nicht nötig. Da hat der Gute sich aber ganz schön blamiert.“

Noel sortierte das Besteck auf dem Instrumententisch und bereitete den OP für die angekündigte Blindarmentfernung vor.

„Selbst Schuld. Was bläst er sich auf, ohne sich zu informieren? Glaube aber kaum, dass ihn das stört.“

„Da täuschst du dich“, sagte Katharina, während sie die Leuchte einschaltete. „Er hat heute Morgen als Erstes nach dir gefragt. Dann wurde er spontan zum Notarztdienst eingeteilt, weil seine einzige OP heute ja ausfallen musste.“

„Och, wie schade“, sagte Noel lachend. „Ich bin froh, wenn ich ihn heute nicht sehen muss.“

„Ist es wirklich so schlimm mit euch beiden?“

„Schlimmer. Ich weiß gar nicht, wie wir nach gestern noch zusammenarbeiten sollen.“

„Das wird schon werden. Ich komme mit ihm gut klar. Außer dass ich ihn immer anstarren muss, wenn wir zusammenarbeiten.“

Noel lächelte. „Äußerlich hat er schon was. Das ist mir nicht entgangen. Aber was nützt es, wenn der Kern so verbittert ist?“

„Vielleicht hat er seine Gründe. Manchmal ist er jedenfalls richtig gut drauf. Seit er hier arbeitet, hat sich einiges verbessert.“

Noel wurde hellhörig. Auch wenn es nicht richtig war, eine Kollegin auszufragen, musste sie die Gelegenheit nutzen, um so viel wie möglich über die Ärzte in Erfahrung zu bringen. In Katharina selbst hatte sie das Gefühl, eine Freundin gefunden zu haben. Zwar nicht so sehr, dass sie ihr das Geheimnis anvertraut hätte, das sie am Leben hielt, aber sie war sicher, dass sie nichts damit zu tun haben konnte.

„Seit wann arbeitet Bajona hier?“

„Hmm, lass mich überlegen. März zweitausendvier muss es gewesen sein. Ich habe einen Monat vor ihm hier begonnen.“

Damit würde ihr Hauptverdächtiger ausscheiden. Vielleicht war er tatsächlich nicht ihr Mann. Nur wer steckte dann dahinter?

„Warte mal ab, was du nach dem heutigen Tag sagst. Ich finde Retzlaff nämlich viel schlimmer. Der hätte Sklaventreiber werden sollen.“

„Nach gestern kann mich nichts mehr schockieren“, sagte Noel lachend, als der narkotisierte Patient in den OP-Saal geschoben wurde.

 

„Bitte stellen Sie keine weiteren Anrufe durch.“ Erst als die Tür von außen geschlossen wurde, lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück, und wandte sich seinem Kollegen zu. „Kaffee?“

Er hoffte, dass dieser Besuch kurz ausfallen würde. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken. Seine Gefühle zu verbergen hatte er gelernt. Die Gedanken nicht preiszugeben gehörte zu seinem Alltag. Würde er jemals aussprechen, was er dachte und was sein Leben wirklich bestimmte, würde seine Welt wie ein Kartenhaus einstürzen. Jetzt kam ihm die Abgeklärtheit zugute. Der Kollege war skrupellos. Das wusste er. Der würde jeden über die Klinge springen lassen, auch ihn. Da machte er sich keine Illusionen. Würde es hart auf hart kommen, würde er ans Messer geliefert werden.

Der Kollege schlug das linke Bein über das rechte Knie und schüttelte den Kopf.

„Ein Bourbon. Wie es jetzt läuft, kann es nicht weitergehen.“

„Sie ist verdammt hartnäckig.“ Er stand auf und ging zu dem Schrank auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Aus der Bar holte er eine Karaffe mit Bourbon sowie zwei Gläser hervor. Zurück am Tisch schenkte er beide Gläser ein und schob dem Kollegen eins über den Tisch zu. Den Inhalt seines Glases schüttete er sich mit einem Schluck in den Hals. Er verzog keine Miene. „Ich habe gehofft, dass ich ihren Stursinn in den Griff kriegen würde. Stattdessen wird sie immer kratzbürstiger.“

„Inzwischen hat sie sich gut eingearbeitet. Mit jedem Tag wird sie gefährlicher.“

„Dann muss eben noch besser aufgepasst werden. Wenn niemand unvorsichtig ist, wird sie es bald überdrüssig sein.“

„Nein!“ Er leerte sein Glas ebenfalls und stellte es mit Nachdruck auf den Tisch. „Du musst dafür sorgen, dass sie das Handtuch wirft!“ Er beugte sich vor, stützte die Unterarme auf den Schreibtisch und sah ihn drohend an. „Sie muss so schnell wie möglich die Klinik verlassen.“ Er stand auf und zog sein Jackett an, das er über die Stuhllehne gehängt hatte. „Anderenfalls steht alles auf dem Spiel.“

Er stand ebenfalls auf. Je schneller der Kollege verschwand umso besser. Sein überheblicher Tonfall kotzte ihn an. Trotzdem wusste er, dass er Recht hatte. Nur, wie zum Teufel, sollte er das Problem lösen?